Arda Fanfiction

Das neue Archiv für Geschichten rund um Tolkiens fabelhafte Welt!

Duett

von Aratlithiel

Merry - Serenade Mesto Sempre

Weißt du, ich habe dich heute gesehen. Ich meine nicht, dass ich irgendeinen schlanken, dunkelhaarigen Jungen gesehen habe, der mich an dich erinnerte, und dass ich mich selbst damit genarrt hätte, als ich es glaubte. Nein, ich sah dich. Du bist neben mir hergeschlendert, als ich am Ufer des Flusses entlang wanderte… ohne zu sprechen, ohne wirklich irgendetwas zu tun außer dazustehen, die Hände in den Taschen, und mich auf deine weiche, schräge Weise anzulächeln… und du hast mir das Herz gebrochen, in ungefähr eine Million Stücke.

Seit du fort gegangen bist, hast du mir das zahllose Male angetan, und trotzdem erhoffe ich mir jedes Mal, wenn ich am Fluss entlang spaziere, einen weiteren, kurzen Blick auf dich. Zu manchen Zeiten bin ich sogar mit Absicht gegangen, in der Hoffnung, dich durch meinen bloßen Wunsch heraufbeschwören… auch wenn ich weiß, was es in mir anrichtet, dich zu sehen. Es ist ein süßer Schmerz, und ich würde ihn für nichts eintauschen.

Jedes Mal, wenn ich in das Gesicht unseres jungen Vetters schaue, spüre ich den gleichen, scharfen Stich der Erinnerung. Den Tuk-Winkel von Kinn und Nase, der feine Schwung von der Wange nach oben zur Schläfe – all das dient dazu, dich mir ins Gedächtnis zu rufen, denn in diesem ernsten Gesicht sehe ich dein Spiegelbild. Ich sollte mich darüber freuen, dass so wenigstens ein Teil von dir hier geblieben ist, in ihm, aber stattdessen werde ich an  die Abwesenheit der anderen Hälfte meiner Seele erinnert – die Hälfte, die du mit dir über das Meer genommen hast.

Das Meer hat immer schon solch ein Wunder und solch eine Drohung für mich bedeutet. Jetzt verstehe ich, warum. Nun erfüllt es mich mit Verlust und einer Leere, die so weit ist, wie es sich ausdehnt. Ich habe nicht den Wunsch, es anzuschauen; ich will seine Stimme nicht Nacht für Nacht in den Ohren haben, wenn ich an dich denke. Ich will, dass Ebbe und Flut aufhören, dass der Mond von seinem Platz in der Nacht herunterfällt, dass die Sonne ihr Feuer kühlt und in Schande aus dem Himmel herabsinkt – denn du bist fort, und nichts ist, wie es sein soll.

Oh, ich vermisse dich so.

Ich wusste nie, dass es möglich ist, solchen Schmerz zu fühlen und dennoch zu leben; ihn Tag für Tag zu ertragen und dennoch imstande zu sein, Luft zu holen. In den merkwürdigsten Momenten stelle ich fest, dass ich mit den täglichen Geschäften des Lebens fortfahre und bin plötzlich überrascht, dass ich es kann. Ich mag mitten im Gespräch mit einem Händler sein oder so etwas, und plötzlich trifft es mich wie ein Schlag: Frodo ist fort und er kommt niemals zurück.

Oder vielleicht bin ich allein hinaus auf den Steg gegangen – einfach für ein wenig segensreiche Einsamkeit, oder um mir ein wenig Selbstbetrachtung zu gönnen. Dann lasse ich meine Füße seitlich über den Rand baumeln, so wie du es immer getan hast, ich lasse das Wasser meine Knöchel umspülen, höre zu, wie es ans Ufer rauscht und wie der Wind durch die Bäume flüstert.

Erinnerst du dich an den Steg, Vetter? Erinnerst du dich daran, wie viele goldene, fließende Tage wir mitten auf dem Fluss verbracht und so getan haben, als würden wir fischen? Ich lag auf der einen Seite, schloss die Augen und ließ mich von der Hitze und Ruhe des Tages davontragen. Du hast auf der anderen Seite gesessen, die Füße durch das Wasser gezogen und in die Träume hineingestarrt, die ein flinker Geist hinter deinen Augen spielen ließ.

Jetzt gehe ich allein dorthin und versuche, dich bei mir zu behalten, versuche zu glauben, dass dein Geist irgendwie noch immer neben mir wandert. Ich hänge meine Füße über den Rand und starre ins Leere, wie du es getan hast… mit dem Gedanken, ein paar von den Träumen wieder einzufangen, die aus deinem Herzen davon trieben, auf der Wasseroberfläche schwebten wie Nebel und eins wurden mit dem Fluss.

Du hast ihn zu einem Teil von dir gemacht, diesen grausamen Verräter – diesen Dieb von Liebe und Heimat. Du hast ihm sein unbefugtes Eindringen vergeben und ihn in dein Herz geschlossen,  ihn so vollkommen und anmutig hingenommen wie alles auf dem gewundenen Weg durch den gedämpften Strudel deines Lebens. Und du bist wiederum zu einem Teil von ihm geworden. Er zog die Hoffnungen - an die Träume des Jungen gebunden, der sie darbot - in sein wässeriges Herz, bewahrte sie sicher und wob sie in die Lande hinein, die er auf seiner Wanderung berührte. 

Also suche ich jetzt in diesen Wassern nach dir. Ich suche nach den Träumen, die du einst so freigiebig aus deinem Herzen in die schlammigen Tiefen des branntweinfarbenen Wassers hast fließen lassen. Ich beuge mich über die plätschernde Oberfläche und versuche dein Wesen einzufangen, das in der duftenden Brise spielt. Nur gibt es jetzt kein Gegengewicht auf der anderen Seite mehr, um das Floß am Umkippen zu hindern, und ich denke: Vorsicht jetzt, Frodo ist nicht hier, um dich wieder hinaufzuhieven, wenn du fällst. Und wieder trifft mich die Erkenntnis, dass du fort bist.

Du bist fort, und niemals werde ich dich wiedersehen.

Niemals mehr werde ich mit dir durch Felder aus hohem Gras ziehen, dem der Tau noch an den smaragdenen Spitzen hängt und uns in den ersten Strahlen einer rosengetönten Dämmerung die Augen blendet, die noch staubig sind vom Schlaf, und der uns bis über die Knie durchnässt. Niemals wieder werde ich in zufriedenen Schlummer davon treiben, während dein weicher Tenor mich mit Reim und Weise in die Träume singt. Niemals wieder werde ich aufstehen, während dein Gelächter aus der sonnendurchfluteten Küche von Beutelsend herüber klingt, während du mit Sam spaßt und das Frühstück für deinen Langschläfer-Vetter vorbereitest. Ich werde niemals… aber jetzt gibt es da viel zu viele Niemals.

Es ist mir nicht gelungen, dieses Wort Niemals zu begreifen. Ich wiederhole es für mich, in meinem Kopf, und laut, wenn ich alleine bin. 

Niemals. Niemals. Niemals.

Ich sage es wieder und wieder, bis mir das Wort tot und elend von der Zunge fällt und keinerlei Inhalt mehr hat, abgesehen von dem leeren Widerhall, der bei jeder Wiederholung durch mein Herz schlägt. Ich spreche es laut und hoffe, dass vielleicht irgendwann dieser Tage seine Bedeutung sich plötzlich vor mir entfalten wird und ich endlich verstehen werde, wie dieses kleine Wort eine Bresche in meine geringe Welt schlagen konnte, um sie dann zu zerbrechen.

Wie ist es möglich, dass die eine Person, ohne die ich nicht leben kann, von mir genommen wurde? Wie können die Mächte so grausam sein, mir das eine Ding zu rauben, das ich einfach nicht verlieren darf?

Ich schließe die Augen und sehe dein Gesicht vor mir, und ich höre deine Worte an mich, als wir uns aneinander geklammert haben, auf diesem salzumnebelten Pier. Bitte, Merry. Kannst du es verstehen? Kannst du’s versuchen? Ich schaute in deine bodenlosen Augen und wusste, dass es keinen anderen Weg für dich gab. Wusste, dich darum zu bitten, dass du bleibst wäre dich zu bitten, dass du stirbst. Hatte es wahrscheinlich schon gewusst, als ich mich in Minas Tirith an dir festhielt und dich anflehte, mir zu trauen… als ich dir versprach, dass ich einen Weg finden würde, dich zu heilen.

Und nun warst du da, und du flehtest mich wortlos an, zu begreifen, dass ich dich nicht heilen konnte, in deinen Augen ein Versprechen an mich, dass du deinen eigenen Weg finden würdest. Ich sah, wie die Sonne goldenes Braun auf dunklem Haar schimmern ließ und salzige Tränen auf aschgrauen Wangen in geschliffene Diamanten verwandelte. Ich weinte und nickte meine Einwilligung, sagte dir, dass ich verstand. Du hast ein weiches, bebendes Lächeln gezeigt und mein Nicken mit einem eigenen beantwortet…  aber natürlich hast du es gewusst. Du hast gewusst, dass ich es überhaupt nicht verstehe. Ich verstehe es immer noch nicht, aber ich versuch’s, ich verspreche es dir.

Ich kann noch immer deine Arme um mich spüren, wie wir uns an jenem Tag festgehalten haben. Dünner, als sie es sonst waren, und mit einem Zittern, das unter der angespannten Stärke vibrierte und das ruhige Gesicht Lügen strafte, das du uns allen zeigtest.

Hast du dich gefürchtet, Vetter? Hast du dir darüber Sorgen gemacht, dass das Segensreich vielleicht jemanden von erdgebundener Art nicht haben will? Hast du eine große Woge gefürchtet, riesig und nebelschwer, die dich gleichgültig vom Deck spülen und dich in die kochende See schleudern könnte, für deinen unverschämten Versuch, einen solchen Ort zu betreten?

Ah, aber ich hätte es dir sagen können – nicht eine Seele auf diesem Schiff hatte es mehr verdient, dort zu sein, als du. Ein Hobbit magst du gewesen sein, lieber Vetter, aber an die Erde gebunden warst du nicht. Ich glaube, ich fange jetzt endlich an, das zu begreifen. Du warst immer zu gut für diese Welt, und ich hätte in der Erwartung leben müssen, dass ich dich an irgendeine gewaltige Belohnung verliere – hätte wissen müssen, dass du eine Seele warst, zu hoch, um lange hier zu bleiben.

Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass es auf diese Weise geschehen würde. Niemals hätte ich erwartet, dass die Belohnung für deine noblen Taten eher eine grausame Strafe sein würde für uns alle. Wir haben dich verloren und du… du hast alles verloren. Oh Frodo, es tut mir so Leid.

Deine Abreise, deine Fahrt, dein Leben – all das eine Studie der Gegensätze, genau wie du selbst es immer gewesen bist. Manche hielten dich für zerbrechlich, aber wehe jedem Geschöpf, das dachte, es könnte den eisernen Willen beugen, der hinter deinem sanften Äußeren verborgen lag. Der verwaiste Wanderer, und doch ein Sohn seines Landes und Liebhaber von Heim und Erde. Die fröhlichen Augen und die jugendliche Erscheinung, die eine Seele verhüllten, so tief und uralt wie die Zeit. Das Herz, das Vergebung fand für gierigen Verrat, und das doch nicht genug davon entdeckte, um seinen eigenen, verzweifelten Schmerz zu lindern.

Oh Frodo, hast du deinen Frieden gefunden? Haben sie dir geholfen, deinen Sieg über das Böse zu begreifen, das versucht hat, dir deine Seele zu rauben? Glaubst du es jetzt?

Ich möchte glauben, dass du geheilt bist. Ich möchte glauben, dass dich gehen zu lassen, den Kummer über deinen Verlust wert gewesen ist… über meinen Verlust. Ich muss es glauben, oder diese Leere, die ich an meiner Seite spüre - dort, wo früher du gestanden hast – wird von mir Besitz ergreifen und mir den Atem aus der Brust reißen, in einer Klage, die mit der Trauer in meinem sehnsüchtigen Herzen gegen den Himmel schlägt. Denn wie könnte ich weitermachen, wenn ich wüsste, dass dein letztes Opfer sinnlos war? Dass du alle verlassen hast, die du liebst, nur um allein und in Verzweiflung zu sterben und niemals deinen Triumph über das Böse zu begreifen, das versucht hat, dich zu versklaven?

Ah – ich kann es nicht ertragen, darüber nachzudenken. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass all die Großen, mit denen du fortgesegelt bist, es nicht zulassen würden, dass du weiter glaubst, versagt zu haben… dass sie nicht erlauben, dass du dich in deinem Herzen krümmst und dich selbst dafür strafst, dass dir die Kraft gefehlt hat, das Unmögliche zu vollbringen. Ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass sie für dich sorgen werden, dich pflegen, deinen Geist nähren, deine Seele wiederherstellen.

Aber dann erinnere ich mich daran, dass diese Großen genau dieselben sind, die deine Füße auf jenen Weg gestellt haben, der zu deiner Vernichtung geführt hat… und nun kann ich in meinem Herzen kein Vertrauen zu ihnen finden. Denn sie haben dich bereits einmal missbraucht, Vetter. Wie kann ich darauf bauen, dass sie es nicht wieder tun werden?

Pippin baut ganz sicher nicht darauf. Ich frage mich zuweilen, ob die Ringträger mit dir gesegelt sind, weil ihre Zeit gekommen war, oder ob sie einfach weise genug waren, unserem wilden Vetter zu entfliehen, ehe sein Tuk-Zorn über sie kam. Er denkt, dass sie dich geraubt haben; dass sie dich erst getäuscht und verraten haben, um dich dann allem zu entreißen, was du je gekannt hast.

Ich mache mir Sorgen um ihn.

Er glaubt, dass er dich bei sich trägt, indem er seinen Zorn allzeit wach hält; er holt ihn hervor und liebkost ihn, wenn der Schmerz zu groß wird, um ihn zu schultern. Dein Fortgehen missgönnt er dir nicht – das niemals. Der Gedanke, dass du vielleicht endlich deinen Frieden gefunden haben könntest, ist der einzige Trost, an den er sich klammert.

Eher hat er wohl in letzter Zeit entschieden, dass er wirklich ziemlich wütend auf Gandalf ist, und wahrscheinlich auf jeden Elb, den er je getroffen hat. Du würdest den Kopf schütteln und ihn scharf tadeln, Vetter, denn er ist, was diese ganze Angelegenheit angeht, reichlich störrisch. Das ist wahre Ironie, nachdem du der Einzige bist, der ihn je zur Vernunft hat bringen können. Aber keine Angst, Frodo, Lieber – Sam tut sein Bestes für Pippin, genau wie ich.

Sam… nun, Sam hat nicht den geringsten Zweifel, dass du die Ruhepause genießt, die du dir durch Blut und Opfergang verdient hast. Er hat einige Zeit dazu gebraucht, musst du wissen. Aber die Traurigkeit ist aus seinen Augen gewichen, und jetzt kann er sich voller Freude an dich erinnern und dein Andenken ehren, indem er das Leben lebt, das du ihm beschert hast. Er hat sich deine Abschiedsworte sehr zu Herzen genommen, und führt wahrhaftig das Leben, das dir versagt blieb. Ich weiß nicht, wo seine Zuversicht herrührt… aber ich wünschte mir so sehr, ich könnte sie teilen. 

Aber ich versuche es, Vetter. Jeden Tag stehe ich auf und denke darüber nach, was du dir von mir wünschen würdest, und dann versuche ich von ganzem Herzen, genau das zu tun.

Aber dennoch kann ich nicht verhindern, dass ich mit nicht geringer Vorfreude darauf warte, dass die Welt einmal zerbricht. Macht mich das zum Bösewicht, was meinst du? Dass ich mir die Zerstörung der Zeit höchstselbst wünsche, damit ich einmal mehr den Trost jener warmen Umarmung spüren kann, die so viele Jahre so sehr ein Teil meines Lebens gewesen ist, dass sie sich in meine Haut eingebettet hat? Dass ich mit Freuden dem Moment entgegensehe, da die Sterne ihren Tanz am Firmament einstellen, damit ich einmal mehr in die Augen schauen kann, in denen mein ganzes Leben hindurch die wahre Bedeutung von Liebe und Verwandtschaft lag?

Dann will ich ein Bösewicht sein, denn ich kann mir nicht helfen, ich freue mich auf den Tag, an dem die See stillsteht und die Himmel schreien, damit ich in deine Arme laufen und endlich den Abgrund in meinem Herzen ausfüllen kann, den deine Abwesenheit hinterlassen hat.

Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen.

So gehe ich denn den Fluss entlang, mit dir an meiner Seite, deine Gestalt ein Nebel im Sonnenschein, und meine Gestalt, die sich danach verzehrt, die Hand auszustrecken und den Traum neben mir festzuhalten… aber ich wage es nicht. Ich möchte diese kleine Gunst nicht dadurch verlieren, dass ich gierig nach mehr verlange.

So richte ich stattdessen meinen Blick auf dein geliebtes Angesicht, und ich erwidere dein schräges Lächeln mit meinem eigenen.

Es ist ansteckend, dieses Lächeln. Ich habe ihm niemals widerstehen können.

Rezensionen