Arda Fanfiction

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Ein minderer Verrat

von Jay of Lasgalen

Die falsche Tat aus dem richtigen Grund

„Die letzte Versuchung ist der größte Verrat: das Richtige aus dem falschen Grund heraus zu tun.“ T.S. Eliot


Elrohir wanderte durch die einsamen Wälder hoch über dem Tal von Imladris. Er fühlte sich seltsam niedergeschlagen und beunruhigt. Seit seiner Rückkehr in das Tal erst vor einigen Tagen empfand er eine tiefe Ruhelosigkeit und Sorge. Große Ereignisse standen bevor, Ereignisse, über die er keine Kontrolle und an denen er keinen wirklichen Anteil hatte. Die nächsten Monate würden sich als der Höhepunkt dessen erweisen, wofür er, sein Vater und seine Brüder gekämpft hatten – oder als das Ende von allem.

In den letzten Monaten hatte er wenig kostbare Zeit im Tal verbracht und zum ersten Mal hatte er festgestellt, dass sein Zuhause ihm nicht mehr denselben Trost und dieselbe Zuflucht spendete, die es in der Vergangenheit stets geboten hatte. Selbst in den dunkelsten Zeiten, in den blutdurchtränkten Jahren, die auf die Abreise seiner Mutter gefolgt waren, war Imladris ein zuverlässiger Zufluchtsort des Friedens und der Heiterkeit gewesen. Doch jetzt lag eine Disharmonie in dem leisen Murmeln der Bäche und Wasserfälle, eine nur scheinbare Ruhe unter den Bäumen. Für ihn war Imladris nicht länger das heimelige Haus der Erinnerung. Etwas hatte den friedlichen Lauf des Lebens hier gestört und ihn rastlos und beunruhigt zurückgelassen.

Jetzt, am Vorabend der Abreise der Gefährten, hatte seine Ruhelosigkeit ihn weit vom Haus fortgetrieben, entlang steiler Pfade durch Wälder von Buchen und Eichen, durch Pinienwälder hindurch hinauf in die einsamen Berge. Etwas quälte ihn und rief ihn zu diesen abgelegenen Orten, doch er wusste nicht, was. Er wanderte in unbehaglicher Einsamkeit dahin und noch widerstrebte es ihm, zu den Pflichten und zu seiner Familie zurückzukehren.

Er erreichte eine Stelle, wo der Pfad am Rand einer Klippe entlang führte. Der Boden fiel steil ab und ganz Imladris breitete sich vor ihm aus. Weit unterhalb flimmerten Lichter unter den Bäumen, die von dem silbernen Glanz der Bäche und Teiche reflektiert wurden. Es schien irgendwie entlegen, eine Welt weit entfernt von der bewaldeten Bergflanke, wo er in einsamer Betrachtung versunken stand. Etwas hatte sich verändert – er hatte sich verändert. Imladris war sein Zuhause und er liebte es, aber er fühlte sich nicht länger hierher gehörig. Er blieb stehen und setzte sich auf einen Felsen, um niedergeschlagen über das Tal zu blicken. Wenn der Ring aus einem unglaublichen Zufall schließlich zerstört würde, dann würde diese ganze Welt hier schwinden. Er wusste nur zu gut, dass viel von der Macht seines Vaters von Vilya gestärkt wurde, und dass Vilya an den Ring gebunden war. Ohne die verborgene Macht der Elbenringe würde, konnte Imladris – und ebenso Lothlórien – nicht überdauern. Man musste sich nur den entfernten Grünwald ansehen, um das zu erkennen. Dort waren Dunkelheit und Übel unaufhaltsam überall in den Wald eingedrungen und strömten unaufhörlich aus der Festung Dol Guldurs heraus. Nur Thranduils eiserner Wille und seine Entschlossenheit hielten sie von der letzten Enklave der Waldelben entfernt. Und das Höhlenfort, in dem sie jetzt lebten, mochte eine natürliche Umgebung für Zwerge sein, aber niemals für die Eldar. Der Gedanke, dass dieses schöne Tal auf dieselbe Weise zerstört werden und verfallen konnte, war unerträglich.

Er seufzte, verloren in seinen Betrachtungen. Wenn es nur einen anderen Weg gäbe. Wenn Saurons Niederschlagung nur ohne einen solch schrecklichen Preis erzielt werden könnte – denn sie hatten bereits einen so hohen Preis bezahlt. Er hatte seine Mutter an dieses Übel verloren. Nun würde er seinen Adoptivbruder, den er wie einen eigenen liebte, verlieren; seine geliebte Schwester, und das Zuhause, das er annähernd dreitausend Jahre geliebt hatte. Der Sieg, wenn er denn jemals kam – würde einen so bitteren Beigeschmack haben. Wenn sein Vater Vilya doch nur in seinem vollen Umfang gebrauchen würde! Wenn all seine latente Macht entfesselt würde, wäre Imladris bestimmt auf ewig sicher, gleich, was die Zukunft bereit hielt. Doch sein Vater hatte Angst; Angst, die Existenz der Elbenringe zu enthüllen; Angst, Saurons Aufmerksamkeit zu erregen; Angst… vor was?

Der Abendnebel zog auf, breitete einen Schleier über das Tal und hob all das hervor, was er verlieren würde. Tief einatmend rührte Elrohir sich. Er war sich der einsetzenden Dunkelheit bewusst, doch noch nicht bereit, in das Licht und den Frohsinn von Imladris zurückzukehren, wo Elben in verzweifeltem Leugnen dessen, was kommen würde, sangen und tanzten.

Durch die Düsternis unter den Bäumen erspähte er eine andere einsame Gestalt – einen der Hobbits. Seine Aura von Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit wiesen ihn als den Ringträger aus und Elrohir ging lautlos auf ihn zu. Vielleicht konnte er mit dieser seltsamen Gestalt – einem Fremden – die Last teilen, die er mit sonst niemandem teilen konnte, nicht einmal mit seinem Zwilling. Er wusste ohne Zweifel, dass Elladan verstehen würde, wissen würde wie er empfand – und das war Teil des Problems. Es gab Zeiten, in denen er spürte, dass er und Elladan sich zu nahe standen, wenn Elladans Empathie ihn irritierte. Es gab Zeiten, in denen er zu einem Außenseiter sprechen musste, zu jemandem, der nicht verstand und der nicht bereits wusste, wie er fühlte.

Er trat aus dem Schatten der Bäume hervor und rief leise. „Frodo?“

Der Hobbit sah auf und sein Blick war wachsam. „Mein Herr…“ Er zögerte, eindeutig unsicher zu wem er sprach.

„Elrohir.“

Frodo nickte. „Ihr seid einer von Elronds Söhnen, nicht wahr?“, fragte er.

Auch Elrohir nickte. „Das bin ich. Geht Ihr ein Stück mit mir? Ihr solltet nicht allein umherwandern, Frodo – nicht einmal hier. Es lauern jetzt überall Gefahren.“

Etwas widerstrebend, so schien es, stimmte Frodo ihm zu. „Also gut.“ Indem er offensichtlich seinen eigenen Gedanken weiter nachhing, sah er Elrohir neugierig an. „Ihr seid der jüngere Sohn?“

„Nein!“, erklärte Elrohir etwas knapp. „Wir sind Zwillinge. Wir sind gleich alt.“

Frodo sandte ihm einen erstaunten Blick zu. „Vergebt mir“, stotterte er. „Ich dachte – ich dachte, ich hätte Elladan Euch heute Nachmittag ‚kleiner Bruder’ rufen hören. Dann ist er der jüngere?“

„Nein!“ Angesichts Frodos noch verwirrterem Ausdruck seufzte Elrohir. Elladans ständige ‚kleiner Bruder’-Sticheleien wurmten ihn hin und wieder, aber das war nicht der Fehler des Hobbits. „Das Leben beginnt im Moment der Empfängnis, nicht der Geburt“, erklärte er geduldig. „Bei Zwillingen ist es unmöglich zu sagen, wer von uns zuerst empfangen wurde. Daher sind wir gleich alt, auch wenn meine Geburt – wie mir gesagt wurde – etwas nach Elladans Geburt erfolgte.“

„Oh.“ Frodo schwieg einen Moment und dachte darüber nach. „Warum nennt er Euch dann ‚kleiner Bruder’?“, ließ er nicht locker.

„Weil es ihn amüsiert“, schnappte Elrohir knapp.

Frodo sagte nichts mehr, warf Elrohir aber einen ziemlich unbehaglichen Blick zu. Sie gingen eine Weile nebeneinander her; Fremde, durch die Umstände zusammen gekommen. Und mühsam begann Elrohir von anderen Themen zu sprechen und erzählte von Bilbos Leben in Imladris. Nach einer Weile jedoch verfiel er in verdrießliches Schweigen. Dunkle Schwermut wuchs erneut in ihm empor, als ein Flüstern seinen Geist berührte. Selbst der Hobbit sieht es. Du bist nur der Zweitgeborene – geringer, weniger wert. Immer ist Elladan der Anführer, derjenige, dem andere sich um Führung zuwenden. Elladan ist derjenige, der diesen Ort erben wird – denn wie könnt ihr die Herrschaft teilen?

Elrohir schüttelte ärgerlich den Kopf, erschrocken über seine Gedanken. Es war nicht wahr. Er und Elladan hatten jeweils ihre eigenen Aufgaben in Imladris wahrzunehmen. Und wenn sie sich entschieden, in Arda zu bleiben, wenn ihr Vater schließlich fortsegelte, dann würden sie ihre Aufgaben zusammen ausüben, wie sie es immer taten. Wenn ihr euch beide entschließt zu bleiben. Wenn ihr zusammen bleibt. Aber was macht dich so sicher, dass Elladan die gleiche Entscheidung treffen wird wie du? Vielleicht sehnt er sich danach, frei zu sein. Glaubst du wirklich, dass er die Ewigkeit mit dir verbringen möchte? Warum sollte er?

„Weil wir geschworen haben, dieselbe Wahl zu treffen!“

Frodos erschreckte Stimme unterbrach sein Grübeln. „Entschuldigt bitte?“

Unvermittelt bemerkte Elrohir, dass er laut gesprochen hatte. „Vergebt mir, Frodo. Ich – ich fürchte, ich war in Gedanken weit fort.“

Der Hobbit starrte ihn argwöhnisch an. „Natürlich, wir alle schweifen zurzeit mit unseren Gedanken ein wenig ab.“

„Ja.“ Selbst als er zustimmte, spürte Elrohir die flüsternde, verlockende Stimme wieder, die ihn rief. Welche Zukunft gibt es hier für dich? Imladris ist in jedem Fall verdammt… es sei denn, du handelst. Du könntest das Tal schützen, es für alle Zeiten bewahren. Es sei denn, du willst über ein totes und sterbendes Reich herrschen.

Elrohir schüttelte den Kopf und versuchte, das verführerische Murmeln am Rande seines Geistes zu ignorieren. Doch das Flüstern wurde lauter und schwerer zu ignorieren. Überlege, was du mit Vilya erreichen könntest. Überlege, was schon zuvor hätte erreicht werden können – sollen – wenn Vilya von jemandem mit Mut und Weitblick gehandhabt worden wäre.

Ein Bild Celebríans in ihren letzten trostlosen Tagen kam Elrohir in den Sinn. Seine Mutter war zerbrechlich, ihre Augen leer und sie war so dünn, dass es schien, ein Windstoß könnte sie umwerfen. Nichts schien ihr jetzt helfen zu können. Aber es hätte nicht so sein müssen. Es hätte nicht sein sollen. Vilya hätte benutzt werden können, um ihren Geist zu heilen, ihre Gesundheit und Lebenskraft wiederherzustellen. Es wäre so leicht gewesen – du hättest es tun können. Du weißt das, du weißt, du hast diese Fähigkeit. Doch Elrond tat nichts. Weil er Angst hatte. Weil er Angst hatte, nicht die Kraft und Weisheit zu haben, es zu tun. Er fürchtete Vilyas Macht. Er hatte nicht den Willen sie zu retten.

Er versuchte die verstörenden Bilder aus seinem Geist zu vertreiben, doch das verlockende Flüstern ging weiter. Nimm mich. Nimm Vilya. Zusammen wären wir unbezwingbar – und dein Zuhause, deine Familie wären für immer sicher.

Er blieb stehen, holte tief Luft und verwarf solche Gedanken. Es war jedoch schwer – die sanfte Stimme war so verlockend, so überzeugend. Alles, was er je gewollt hatte, war, sein Zuhause, seine Familie zu beschützen. Und dennoch hatte er bei seiner Mutter vollständig und katastrophal versagt; ihre Qual war eine nicht enden wollende Erinnerung an seine Unfähigkeit, sie zu beschützen. Er hätte etwas tun sollen, er hätte etwas tun können, wenn er Vilya auf die Weise benutzt hätte, um die er seinen Vater angefleht hatte. Ja. Nimm mich – du weißt, du hast die Kraft und den Willen, mich zu handhaben. Du kannst es tun. Du weißt, dass du es willst. Es ist für dich an der Zeit zu handeln, bevor es zu spät ist.

Bilder blitzten in seinem Geist auf: von Aragorn, zum König gekrönt, ohne die Notwendigkeit blutiger Schlachten und möglicher Niederlagen; Arwen, strahlend an seiner Seite, doch noch immer elbisch und nicht ihrer Unsterblichkeit entsagen müssend. Er sah sich selbst auf einem Stuhl, nein, einem Thron, sitzen, in der Mitte der großen Halle von Imladris; Elladan kniete vor ihm, den Kopf flehentlich gebeugt. Er sah seine Mutter aus Valinor zurückkehren, ihre Gesundheit, ihr Glück und ihre Freude am Leben wiederhergestellt. Ja, du kannst es tun.

Elrohir blieb stehen und wandte sich langsam zu dem Hobbit um. Die Klippe lag nur wenige Meter entfernt – es wäre eine solche Tragödie, wenn Frodo ausgleiten und stürzen würde. Und schon war die Nacht dunkel, und der Pfad war vereist und rutschig. Die steile Bergseite war trügerisch für die Vertrauensseligen oder jene, die mit dem Gelände nicht vertraut waren. Wer würde nicht sagen, der unglückliche Hobbit sei vom Pfad abgekommen und in den Tod gestürzt? Alle wussten von der Last, die er trug, wie beunruhigt und besorgt er in der letzten Zeit gewesen war. Sam selbst hatte seinen Herrn für seine Unachtsamkeit gerügt. Das konnte zu Unvorsichtigkeit führen, und Unvorsichtigkeit führte häufig zu solchen tragischen Unfällen.

Nimm mich. Nimm mich. Nimm mich.

Langsam streckte Elrohir seine Hand nach Frodo aus.
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