Arda Fanfiction

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Der sanftmütige Krieger

von Ramona

Kapitel 1

Bin ich ein schlechter Vater? Ich weiß es nicht. Jetzt, wo ich weiß, dass ich Boromir, meinen ältesten Sohn, für immer verloren habe, spüre ich nur noch Bitterkeit. Sein Tod hat in mir das Gefühl geweckt, allein zu sein.

Seit meine liebe Frau gestorben ist, Finduilas, sitzt ein Schmerz in meiner Brust, der mich zu zerstören droht. Ich hätte damals Zeit gebraucht, doch ich hatte sie nicht. Ich war der Truchsess von Gondor und ich musste regieren. Obwohl mein Herz zu zerreißen drohte, musste ich weiter der unnahbare, unerschütterliche Herrscher sein. Die starke Hand, die das Zepter hielt, durfte nicht zittern. So wurde aus der Trauer in meinem Herzen Wut. Wut darüber, dass sie gegangen war, dass sie mich zurückgelassen hatte, in dem Alltag, in dem ich keine Schwäche zeigen durfte. So wurde ein Teil meines Herzens zu Stein. Mir war nicht erlaubt, zu trauern, also wurde ich innerlich krank und dieser Teil, der liebende Teil in mir, starb.

Ich habe sie geliebt, ja, aber ich habe sie nie wirklich verstanden. Sie war eine starke Frau, doch sie hatte ein sanftes Herz und liebte Gedichte, sang viele Lieder und war stets mitfühlend. Sie verstand andere Menschen, doch sie las nicht in ihren Augen, sie fühlte mit ihrem Herzen. Diese Gabe konnte ich niemals verstehen. Doch Finduilas verschwand nicht spurlos aus meinem Leben, sie schenkte mir zwei Söhne, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, so unterschiedlich wie wir beiden von einander waren. Boromir war wie ich, er war ein Herrscher, stark und mutig, und ein Krieger. Faramir ist auch ein Krieger, doch er hat sehr viel von seiner Mutter geerbt. Nun, da er als einziger noch an meiner Seite weilt, fühle ich diese Bitterkeit und dieses Stechen in meiner Brust auf's Neue.

Ich habe das Gefühl, sie spricht durch ihn und erinnert mich in jedem Moment, den ich in seiner Gegenwart verbringe, daran, dass sie nicht mehr da ist. Woran soll ich mich jetzt noch festhalten? Mein ältester Sohn, der mir immer eine Stütze gewesen ist, ist nun fort und zurück bleibt Faramir, der so wenig von meinem Wesen in sich zu tragen scheint. Wie soll ein Mann, der jedem Mitgefühl schenkt, der jedem Gefallenen aufhilft, der jede Träne trocknet, jedes Herz versteht, abends Lieder und Gedichte schreibt und Geschichten liest, ja, wie soll so ein Mann ein Heer zum Sieg führen und ein Volk regieren und leiten?

Ich weiß, dass er es könnte, dass er stark ist und auch mit seiner sanften Art ein guter Truchsess wäre, doch ich kann mir nicht helfen. Er ist anders als ich. Mein Herz verlangt nach einem Erben, den ich jedem als meinen Sohn voller Stolz präsentieren kann. Boromir war so ein Sohn, ein tapferer Krieger, der jeden Feind einzuschüchtern vermochte, doch jeder, dem ich Faramir auf diese Weise vorführen wollte, würde mich auslachen.

Jeder liebt ihn, genauso stark, doch wegen anderen Qualitäten als er Boromir liebt. Doch wenn man Faramir in die Augen sieht, sieht man seine Mutter. Er ist ihr Sohn, doch nicht meiner. Ich verstehe ihn nicht, genauso wenig, wie ich sie damals verstanden habe. Was soll ich tun? Ich fühle mich allein gelassen. Boromir ist fort und zurück bleibt das Rätsel, der sanftmütige Krieger. Er ist nicht minder stark als sein Bruder und sein Geist ist wach, doch ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Er ist anders. Ich liebe ihn, doch ich kann es ihm nicht zeigen. Wenn ich es versuche, schließt sich die eiskalte Faust, die ich seit dem Tod meiner Frau so deutlich spüre, noch fester um mein Herz. Jetzt bräuchte ich den rauen, aber ehrlich gutmütigen und starken Krieger an meiner Seite.

Ich wünschte, Boromir wäre es, der mir geblieben wäre.

ENDE

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