Faramir war beunruhigt: seine Männer hatten schlechte Nachrichten aus Gondor und Rohan gebracht. Die Welt der Menschen schien dem Untergang geweiht zu sein. Gleich von zwei Seiten wurden die menschlichen Gebiete angegriffen. Madril, sein Unterhauptmann, hatte erzählt, dass König Théoden mit seinen Leuten nach Helms Klamm geflohen war. Faramir konnte sich nicht erinnern, wann das tapfere Volk der Rohirrim zuletzt Edoras aufgegeben hatte. Außerdem fragte sich, warum jetzt auch Isengard zu Sauron übergelaufen war. Der Zauberer Saruman hatte immer als weise und friedlich gegolten. Die ganze Welt schien auf dem Kopf zu stehen.
Faramir seufzte leise: Gondor musste sich gegen Saurons Verbündete verteidigen. Dies war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, denn die Diener des Dunklen Turmes vermehrten sich wie die Fliegen, während Gondors tapfere Krieger weniger wurden. In allzu guter Erinnerung war Faramir die aufreibende Rückeroberung von Osgiliath geblieben. Er hatte fast ein Drittel seiner Waldläuferschar dabei eingebüßt und auch Boromirs Reitertruppe hatte viele Verluste hinnehmen müssen. Trotzdem war der Truchsess unzufrieden mit Faramirs Leistung gewesen. Er hatte Faramirs Entschluss, einige Stellungen in der Stadt freizugeben, um nicht noch mehr Männer zu verlieren, als feige betrachtet. So hatte wieder einmal nur Boromir Lob bekommen und Faramir Schelte vom Vater.
Manchmal weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich es ihm recht machen soll. Ich wünschte, es gäbe eine Gelegenheit für mich, zu zeigen, dass ich auch etwas wert bin.
Faramir wollte gerade wieder in seinen Gedanken versinken, als ihn einer seiner Männer fragte, was nun mit dem dritten Gefangenen geschehen sollte.
Ach ja, das war auch so ein Problem. Nicht nur, dass Faramir nun alleiniger Heermeister von Gondor war und wichtige, strategische Entscheidungen fällen musste, sondern da waren auch noch diese merkwürdigen Kreaturen, die er mitten in Ithilien aufgegriffen hatte. Halblinge aus dem Auenland waren es. Seltsam gekleidet und auch seltsam störrisch. Faramir hatte sofort gespürt, dass sie ein großes Geheimnis mit sich trugen. Angeblich hatten sie von Boromirs Tod nichts gewusst. Rätsel über Rätsel gaben sie ihm auf. Daher sagte ihm sein Herz, dass es besser war, die Kleinen bei sich einstweilen zu behalten. Vielleicht waren sie ihm noch vom Nutzen und er erfuhr irgendwann Näheres über Boromirs Tod. Den dritten Gefangenen hatten sie am Verbotenen Weiher unten in Gewahrsam genommen. Ein hässliches Wesen, doch trotzdem den Halblingen nicht unähnlich. Enttäuscht war Faramir von Frodo, dem einen Halbling, gewesen, der ihn zunächst belogen hatte und erst mit der Wahrheit herausrückte, als Faramir auf dieses Wesen Gollum schießen lassen wollte.
Was mag nur dieser Schatz sein, von dem Gollum gesprochen hat? Ich erinnere mich, dass Boromir aus dem Grund nach Bruchtal geschickt wurde, um eine mächtige Waffe, die angeblich die Elben und Zauberer dort besaßen, nach Gondor zu holen. Kann es sein, dass die Halblinge diese Waffe mit sich führen? Die Elben haben meist kluge Einfälle. Wer würde denn denken, dass ein Halbling, der gerade einmal die Größe eines Kindes besitzt, solch ein Ding mit sich führen würde?
Faramir schlich sich vorsichtig in den hinteren Teil der Höhle und hörte schon von weitem, dass die Hobbits sich leise unterhielten. Er bekam mit, dass der dickere Halbling Frodo aufforderte, den Ring zu benutzen und dass dieser es ablehnte, da er Angst hatte, der Ring würde sonst zuviel Macht über ihn bekommen.
Der Ring? Der Eine Ring? Ist es möglich, dass es sich bei dieser Waffe um Isildurs Fluch handelt? Er ist also wieder aufgetaucht.
Auf einmal verstand Faramir alles. Die Hobbits hatten ihn also die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Sie waren aus irgendeinem Grund mit sieben Gefährten von Bruchtal aus aufgebrochen, zusammen mit dieser mächtigen Waffe. Doch Boromir hatte auf der Reise sein Leben verloren. Hatte er versucht, den Halblingen den Ring zu nehmen? Hatten die anderen Gefährten Boromir am Ende getötet? Doch warum hatte Frodo dann behauptet, Boromir wäre sein Freund gewesen? Und welche Rolle spielte dieser Gollum bei der ganzen Sache? Faramir wusste inzwischen nicht mehr, was er dem Halbling überhaupt noch glauben konnte.
Er fühlte großen Zorn auf den kleinen Hobbit und so zog er sein Schwert, als er sich dem Hobbit näherte. Er sah die Halskette Frodos und wie dieser die Hand auf die Stelle seines Hemdes gelegt hatte, worunter sich der Eine Ring befand. Er hörte in seinem Kopf eine Stimme flüstern. Es handelte sich um eine seidenweiche Stimme, die ihn dazu aufforderte, den Hobbit zu töten und den Ring an sich zu nehmen. Faramir konnte der Stimme nicht länger widerstehen und er ging auf Frodo zu, der ängstlich vor ihm zurückwich. Mit der Spitze seines Schwertes fischte Faramir den Ring aus dem Hemd des Halblings.
Das ist nun der Eine Ring! Wie glänzend und glatt er ist! Ich dachte, er sei mit Rubinen und anderen Edelsteinen geschmückt. Und trotzdem ist er von vollkommener Schönheit. Ich möchte ihn in die Hand nehmen und fühlen. Es muss wunderbar sein, solch eine große Macht zu besitzen. Wenn das jetzt Vater sehen könnte! Er wäre so stolz auf mich. Endlich kann ich zeigen, was ich wert bin!
Die Stimme flüsterte weiter in Faramirs Kopf und gaukelte ihm wunderbare Bilder vor. Er sah sich selbst als mächtigster Heermeister von Mittelerde, und wie alle Feinde ängstlich vor ihm zurückwichen. Er würde als Retter Gondors in die Geschichte eingehen, und doch...
„Lass ihn in Ruhe!“
Die ängstlich-kreischende Stimme des anderen Halblings riss Faramir aus seinen Träumen. Wie konnte dieser feiste, kleine Kerl es wagen!
Plötzlich wurde die Stimme in seinem Kopf leiser und er sah die beiden Halblinge vor sich: Frodo mit kreidebleichem Gesicht und großen, ängstlich blickenden Augen, und Samweis, der sich todesmutig neben seinem Herrn stellte, obwohl er Faramir körperlich weitaus unterlegen war.
Nein, ich kann das nicht tun! Ich bringe es nicht fertig, diese armen Kerle zu töten. So darf der Ring nicht in meine Hände gelangen. Wie könnte ich jemals etwas Gutes damit bewirken? Aber ich muss ihn zu meinem Vater bringen. Ich habe keine Wahl.
„Er muss ihn zerstören, er muss ihn nach Mordor bringen!“
Die Stimme des feisten Halblings klang weinerlich und verzweifelt. Faramir verspürte plötzlich Mitleid.
„Heermeister, Osgiliath ist unter Beschuss, sie rufen nach Verstärkung.“
Faramir musste sich jetzt rasch entscheiden und er beschloss, die beiden Halblinge und Gollum mit nach Osgiliath zu nehmen.
Der Weg nach Osgiliath war nicht einfach. Normalerweise liefen die Waldläufer sehr schnell, aber mit den Halblingen und der verwahrlosten Kreatur war dies viel schwieriger. Faramir wurde schnell ungeduldig, da jede Minute, die sie später nach Osgiliath kamen, Menschenleben kosten konnte. Als die Stadt in Sicht kam, überkam Faramir blankes Entsetzen: Osgiliath brannte bereits! Vielleicht kamen sie zu spät.
„Der Ring wird Gondor nicht retten können. Er kann nur zerstören. Ihr müsst mich gehen lassen, Faramir.“
Faramir hielt inne, als Frodo so zu ihm sprach. Vielleicht hatte der Kleine tatsächlich recht. Er hatte die böse, verführerische Macht des Ringes am eigenen Leib gespürt. Aber für Faramir galt es jetzt, Osgiliath zu helfen. Alle anderen Entscheidungen mussten warten.
Frodo schrie jetzt, aber vergeblich. Sie mussten weiter.
In Osgiliath tobte eine erbitterte Schlacht und es war für die Waldläufer gar nicht so leicht, das sichere Westufer zu erreichen. Nur mit Müh und Not kamen sie über die halbzerstörte Brücke. Faramir atmete auf, als er Madril auf der Westseite traf. Doch dieser hatte keine guten Nachrichten für ihn. Osgiliath würde fallen. Seine kleine Schar konnte da auch nicht viel ausrichten.
Vater wird zornig auf mich sein. Wenn ich Osgiliath aufgeben muss, werde ich wohl die längste Zeit Heermeister Gondors gewesen sein. Aber wenn ich ihm diese Hobbits mit dem Ring schicke, kann ich ihn vielleicht besänftigen. Vielleicht lächelt er mich dann endlich einmal gütig an, so wie er es bei Boromir immer getan hat. Vater ist stärker als ich. Sicherlich kann er den Verlockungen des Ringes besser widerstehen. Er wird wissen, wie er damit umgehen muss.
Faramir beauftragte einige Männer, die Halblinge nach Minas Tirith zu bringen. Denethor würde ein mächtiges Geschenk von seinem Sohn erhalten.
Doch Samweis begehrte entsetzt auf und erzählte zum ersten Mal, was mit Boromir geschehen war.
Boromir ist wahnsinnig geworden? Das kann ich mir nicht vorstellen. Mein Bruder war immer ein beherrschter Mann. Aber dass er tatsächlich den Halbling töten wollte, entsetzt mich. Sogar ich konnte mich im Zaume halten. Es scheint wohl so, dass Boromir starb, weil er seine Sinne nicht mehr beisammenhatte. Was soll ich jetzt tun? Es ist wohl doch falsch, den Ring zu meinem Vater zu senden.
In diesem Moment stürzte ein Turm in der Nähe ein, welcher von einem riesigen Steingeschoss der Orks getroffen worden war. Es war lebensgefährlich, sich länger an diesem Ort aufzuhalten. Wieder konnte Faramir nicht lange überlegen, denn nun kamen auch noch die Nazgûl. Faramir hatte diese grausigen Schreie schon öfters in Ithilien gehört, aber nie hatte er tatsächlich einen von den sagenumwobenen Ringgeistern zu Gesicht bekommen. Die Männer suchten entsetzt Deckung auf und Faramir trieb die Halblinge und Gollum in eine Hausruine hinein.
„Bleibt hier und rührt euch nicht vom Fleck“
Bis ich eine Entscheidung getroffen habe, ergänzte er im Stillen.
Faramir hatte Geschichten gehört, dass die Nazgûl die Nähe des Einen Ringes spürten. So weit waren sie jedenfalls noch nie nach Gondor gekommen. Er wollte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn der Ring erst nach Minas Tirith gelangte. Er durfte nicht dorthin! Die Hobbits hatten recht: der Ring musste zerstört werden. Er brachte nur Unheil.
Plötzlich beobachtete Faramir, dass Frodo wie in Trance auf eine Mauer stieg und ein Nazgûl direkt auf ihn zugeflogen kam. Faramir legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens und schoss einfach auf das Untier. Er wusste, dass dies höchstens ein Nadelstich für die riesige Bestie sein konnte, und doch bewirkte der Pfeil im Leib des Tieres, dass dieses von Frodo abließ. Im gleichen Augenblick hatte Sam Frodo gepackt und beide kullerten von der Mauer herunter. Gollum saß erschrocken auf seinen Platz und starrte auf die Szene.
Faramir sah, dass Frodo plötzlich Sam mit dem Schwert bedrohte. Es war wohl ein Fehler gewesen, den Hobbits wieder ihre Waffen zu geben, nachdem man in Osgiliath angekommen war. Frodos Gesichtsausdruck war völlig verändert.
Das ist der Ring! Er verändert einen Menschen völlig. Nun verstehe ich alles. Auch Boromir wurde vom Ring verändert. Lange war er seinem Einfluss ausgesetzt. Vater hätte ihn wohl nicht mehr wiedererkannt, wenn er den Ring nach Gondor gebracht hätte.
Mehrere Soldaten ergriffen jetzt die beiden Hobbits wieder, nachdem Sam mit Frodo gesprochen hatte. Freudig brachten die Männer die Gefangenen zu Faramir, der nachdenklich dastand.
Plötzlich ging Faramir vor Frodo auf die Knie, denn er hatte große Achtung vor ihm bekommen. Wenn ein Geschöpf die Kraft aufbrachte, dieses Ding so lange bei sich zu tragen, ohne dabei zugrunde zu gehen, hatte es den größten Respekt verdient.
Madril spürte anscheinend, was sein Heermeister vorhatte, denn er erinnerte ihn daran, was ihn erwartete, wenn er die Gefangenen laufen ließ.
Ich weiß, was mich erwartet. Ich werde Osgiliath verlieren und das bisschen Ansehen, das ich noch bei meinem Vater habe. Doch ich weiß auch, dass ich letztendlich der Versuchung des Ringes widerstanden habe. Und nichts anderes zählt. Der Ring muss nach Mordor. Aber das versteht der pflichtbewusste Madril nicht.
„Dann ist mein Leben eben verwirkt“, erwiderte Faramir schlicht. „Lasst sie frei!“
Die Hobbits atmeten auf, während die Soldaten den Heermeister ungläubig anstarrten. Samweis schob lächelnd die Hand des Mannes von seiner Schulter, die noch darauf ruhte.
Faramir sah es als seine Pflicht an, den Hobbits aus der Stadt herauszuhelfen. Er kannte die Pläne der Stadt und wusste, dass es früher unterirdische Abwässerkanäle gegeben hatte. Durch diese konnten die Hobbits unbeschadet in den Osten von Ithilien gelangen.
Er spürte, dass er nun neue Freunde gewonnen hatte. Die Hobbits waren nicht nachtragend, sondern dankbar, weiterziehen zu können. Im Gegensatz zu Gollum jedoch. Die Kreatur folgte den Dreien schweigend mit verdrießlicher Miene. Gollum hatte nicht vergessen, dass Frodo ihn an die Waldläufer ausgeliefert hatte. Faramir merkte, dass dieses Wesen ungehalten war.
Er wird sich rächen an den Hobbits. Aber wie soll ich ihnen das klarmachen? Sie wollen auf keinen Fall auf ihn verzichten als Führer. Ich wünschte, ich würde mich in Mordor auskennen. Zu gerne würde ich sie anführen und ihnen helfen, den Ring zu vernichten. Aber ich muss bleiben und meinem Vater Rede und Antwort stehen. Er muss wissen, was der Ring mit Boromir getan hat.
Faramir warnte die Hobbits noch einmal eindringlich vor den Höhen von Cirith Ungol. Er hatte gehört, dass es dort nicht geheuer war. Irgendein fürchterliches Wesen machte den Weg dort unpassierbar. Doch die Hobbits konnten keinen anderen Weg gehen. Faramir blieb also nichts anderes übrig, als Gollum mit den beiden ziehen zu lassen.
Nachdenklich blickte er dem seltsamen Trio lange nach, auch als sie schon längst in der Dunkelheit des Kanalsystems verschwunden waren.
Ja, er wusste, dass er in den Augen seines Vaters versagt hatte. Aber Denethor würde lernen müssen, dass diese Entscheidung weise und richtig war. Irgendwann würde er es einsehen. Irgendwann.
ENDE