Arda Fanfiction

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Das Lied vom Herzquell

von Luminella

Der seltsame Frühling

In Lyndelby kam der Frühling zu früh – nicht wie ein zarter Hauch, sondern wie ein vergessener Gast, der plötzlich mitten in der Nacht anklopft, mit triefendem Mantel und einem Lächeln, das ein wenig zu breit ist.

Die Schneeglöckchen blühten, ehe der letzte Schnee geschmolzen war. Die Bienen summten, obwohl die Weiden noch schliefen. Und die Vögel sangen – nicht mit Freude, sondern wie im Wettlauf mit einer Uhr, die niemand gestellt hatte.

Schon Anfang Nachblüte trieben die Kirschen aus, ehe noch der letzte Frost das Land verlassen hatte. Aus dem Fluss, der sonst still zwischen Weiden und Schilf dahinzog, stieg Dampf auf, so fein wie Atem. Und doch war er warm. Zu warm.

Tildafern Nasslaub merkte es zuerst an den Kräutern. Der Dost spross zwei Wochen zu früh.
Die Minze war schärfer als sonst – nicht nur würzig, sondern fast bissig. Und der Baldrian, der sich sonst Zeit ließ wie ein alter Onkel, reckte sich jetzt wie ein ungeduldiges Kind dem Licht entgegen.

Sie blickte aus dem Küchenfenster und hielt eine Kelle in der Hand, voll frischem Löwenzahnhonig, und vergaß fast, ihn ins Glas zu füllen.

„Der Fluss dampft“, sagte sie leise.

„Er tut das manchmal im Sommer“, murmelte Belba, ihre Mutter, vom Küchentisch her.

„Es ist aber noch Frühling“, entgegnete Tilda, mehr zu sich selbst als zur Mutter.

Grisel, ihre zahme Bisamratte, huschte über den Boden und sprang auf die Fensterbank. Sie reckte die Nase – nicht neugierig, sondern nervös.

Tilda roch es jetzt auch. Nicht faulig. Nicht fremd. Einfach… zu viel. Zu viel Wärme, zu viel Leben auf einmal.


Im Dorf tuschelte man. Die Gänse legten Eier in doppelter Zahl. Ein alter Weidenbaum war innerhalb weniger Tage vollständig ausgetrieben, als habe er einen Wettlauf verloren und wolle es nun wieder gutmachen.

Und dann wurde das kleine Gänsekind von Trude krank.

Tilda besuchte das Haus spät am Nachmittag. Die Hütte roch nach Heu, Holzrauch und Sorgen. Trude saß neben dem Bett, das Gesicht wie ein faltiges Blatt im Herbst.

Das Kind lag fiebrig da, die Haut rot wie Feuer und doch klamm wie Fischhaut. Kein Tee half, kein Umschlag zog die Glut aus ihr. Tilda kochte ein Moosgebräu, flüsterte leise Verse aus Esmerras Lehrliedern dazu – doch das Kind schwitzte nur stumm, die Lider zitterten.

„Es ist kein gewöhnliches Fieber“, sagte sie. „Es kommt von draußen.“

„Vom Fluss?“

„Vielleicht“, erwiderte sie grüblerisch. Eigentlich war sie sich diesbezüglich nicht sicher, aber dass der Fluss zu dieser Jahreszeit warmes Wasser führte, war alles andere als normal.


Am selben Abend saß Tilda unter der alten Ulme vor Esmerras Haus – jenem krummen, mit Kräuterbündeln behängten Haus am Rande von Lyndelby, wo der Wildwuchs der Flussauen bereits an die Gärten tastete. Der Wind trug den Duft von Fenchel, Pfefferminze und feuchtem Holz in die Luft. Esmerra war nicht nur die Dorfälteste, sondern auch Tildas Tante – und bei den Kindern als „die Krähenhexe“ verschrien. Sie warfen heimlich Kiesel an ihre Fensterläden und rannten davon, wenn der Wind ihre Tür knarren ließ. „Die alte Esmerra kocht Wetter in ihren Töpfen“, flüsterten sie, „und redet mit Krähen.“ Manche behaupteten, sie könne hören, was das Wasser erzählte.

Doch Tilda wusste, dass mehr in Esmerra wohnte als schrullige Eigenheiten – etwas Altes, Tieferes, das wie ein stiller Fluss unter der Oberfläche floss.

Esmerras Augen waren klar, hell wie kalter Morgenregen, und sie blickten einen an, als könnte sie hinter die Worte lauschen. Sie sprach selten, es sei denn, die Stille hatte lange genug neben ihr gesessen.

Jetzt reichte sie Tilda eine Tasse dampfenden Beifußtee. Die Kräuter schwammen wie kleine Segel im trüben Wasser.

„Wenn das Lied stockt,“ sagte sie leise, „fließt auch das Leben falsch.“

Tilda runzelte die Stirn. „Welches Lied?“

Esmerras Finger – sehnig, vom Garten und vom Alter gezeichnet – tippte sich an die Brust. „Das vom Fluss. Vom Land. Vom Herzquell.“

Tilda fuhr bei dem Wort zusammen. Sie hatte es gehört – einst, in einem Lied, das niemand mehr zu Ende sang. Eine Mär vielleicht. Eine Kinderphantasie.

„Der Herzquell ist echt?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

„Oder vergessen.“ Esmerra zog an ihrer Teetasse, der Dampf kräuselte ihr Gesicht. „Manchmal ist das das Gleiche.“

Tilda blickte in die Dämmerung, über die Felder, die zu grün waren, über die Bäume, die zu früh ihr Kleid gewechselt hatten. Etwas war nicht wie sonst. Etwas war zu viel, zu schnell, zu laut.

„Wie findet man ihn?“, fragte sie.

Esmerras Blick ging weit, dorthin, wo der Fluss zwischen die Weiden glitt und die Welt weich wurde. „Mit Liedern“, sagte sie. „Und leichten Füßen.“

„Ich bin keine Sängerin.“

„Du hast Ohren. Das genügt.“

Sie sagte es mit einer Sanftheit, die schwerer wog als jeder Trost.

Und Tilda saß da, mit der Teetasse in der Hand, das Herz voller Fragen, und wusste noch nicht, dass sie längst das erste Versmaß trug – vom Lied, das den Quell finden würde. Und vielleicht auch sich selbst.


In dieser Nacht schlief Tilda unruhig. Sie träumte von einem Farn, der im Nebel wuchs, und von einer Stimme unter Wasser, die summte, aber niemanden mehr fand, der mitsummte.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, war der Nebel dichter als sonst, und Grisel schlummerte noch auf ihrer Bettdecke.

Wenig später band Tilda entschlossen ihren kleinen Rucksack. Die Riemen waren schon ein wenig ausgefranst, doch sie mochte den Geruch nach Erde und Zeit, der daran haftete. Sorgsam rollte sie Moosbinden zusammen – getrocknetes Bibernell, gewickelt in ein altes Taschentuch –, legte ihren Holzbecher daneben, ein Stück Trockenbrot, einen Beutel voll Dörrobst und zuletzt ihr Liedheft. Die Seiten darin waren leer bis auf ein paar blasse Notenlinien, wie Wege, die noch gegangen werden wollten.

Grisel sprang mit einem Satz mitten hinein. Die kleine Bisamratte landete auf dem Dörrobst und begann sofort, neugierig mit den Pfoten zu wühlen. Ihre schwarzen Knopfaugen blitzten. Tilda hob sie auf, etwas zu streng vielleicht, und setzte sie zurück aufs Bett. „Du kannst nicht mitkommen, Grisel. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Die Reise könnte gefährlich werden.“

Die Bisamratte schüttelte sich beleidigt, putzte sich demonstrativ die Schnauze und setzte sich dann auf ihre Hinterpfoten, die Vorderpfoten verschränkt wie ein trotziges Kind. Tilda seufzte, strich ihr sanft über den Kopf und lächelte müde. „Ich komme zurück“, sagte sie, „wenn ich das Lied finde.“

In der Küche war es warm. Der Geruch von Sauerteig, Kümmel und frischem Heu lag in der Luft. Ihre Mutter, Belba, stand über der hölzernen Schüssel gebeugt und knetete gleichmäßig den Brotteig. Die Bewegungen ihrer Hände wirkten wie ein stilles Ritual – alt, beständig, tröstlich.

„Ich werde flussaufwärts gehen“, sagte Tilda, leise zuerst, dann deutlicher. „Ich will hören, was der Quell sagt.“

Belba hielt inne. Ihre Hände blieben im Teig, als horchten sie über die Finger hinaus auf etwas Tieferes. Dann sah sie auf, das Licht fiel schräg auf ihr rundes Gesicht, das von feinen Linien durchzogen war – nicht nur vom Alter, sondern vom Lachen, von Kummer, von Jahren voller Arbeit und Liebe.

Sie trat zu Tilda, wischte sich die Hände an der Schürze ab und küsste ihre Tochter sanft auf die Stirn. „Dann geh“, sagte sie. „Aber vergiss nicht – manche Lieder wollen nicht gesungen, sondern gehört werden.“

Draußen bewegte sich der Wind kaum. Die Blätter der Kornelkirsche vor dem Fenster zitterten nur leicht. Tilda stand eine Weile still, die Hand noch auf dem Rucksack, und lauschte. Kein Ruf. Kein Zeichen. Nur ein Flüstern in ihr – undeutlich und doch beharrlich wie das Murmeln eines Bachs im Nebel.

So begann es – nicht mit einem Donner, nicht mit einer Prophezeiung.
Sondern mit einem leisen Unbehagen in der Erde.
Mit Minze, die zu früh wuchs.
Mit einem Abschied, den niemand laut benannte.
Und mit einem Lied, das sich wie Nebel um das Herz legte.

Tilda schnürte die Riemen fest, nahm den Wanderstab ihres Großvaters zur Hand, und als sie die Tür hinter sich schloss, glaubte sie für einen Moment, fern am Fluss eine Stimme zu hören – wie ein altes Wiegenlied, das auf sie wartete.

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