Númenor, etwa 2025 Zweites Zeitalter
Der Wind vom Westen trug den Duft des Meeres in die Hallen von Andúnië, und die Wellen flüsterten an den Klippen wie Stimmen aus alten Tagen. In einer mit silbernen Tüchern behangenen Halle saß Arzûrân Elentirmo, Fürstensohn, Sternenwächter und Erbe eines Namens, der einst mit Ehre gekrönt war.
Sein Blick ruhte auf dem dunkler werdenden Horizont, wo die Sonne hinter Tol Eressëa sank, und die ersten Sterne sich zaghaft zeigten. Immer war es diese Stunde, in der ihm das Herz schwer wurde.
„Sie sehen uns nicht mehr“, sagte er leise. „Wenn sie es je taten.“
An seiner Seite stand Isilmë, seine jüngste Schwester, mit einer Rolle pergamentierten Himmels in der Hand. „Du sprichst, als wäre Elbereth blind geworden“, erwiderte sie, halb spöttisch, halb sorgenvoll. „Was quält dich, Bruder?“
Er wandte sich ihr zu, das Licht des Abends spiegelte sich in seinen dunklen Augen. „Ich lese die alten Weissagungen, Isilmë. Die Schriften von Eärendur, von Tar-Minastir, sogar jene, die in Armenelos verboten sind. Immer ist von Verfall die Rede, vom sinkenden Stern. Ich frage mich: Sind wir nicht längst auf diesem Pfad?“
„Du bist zu viel in den Schatten deiner Gedanken“, sagte sie leise. „Der Weg der Getreuen ist hart, aber recht.“
Arzûrân lächelte schwach. „Und doch sterben wir, während die Elben unversehrt weitergehen. Ich spüre… es ist falsch. Wir tun alles, wie es uns gelehrt wurde, und dennoch bleibt uns das größte Geheimnis verschlossen.“
Isilmë schwieg. Sie wusste um seinen inneren Kampf – um seinen Hunger nach Wissen, tiefer als der vieler Gelehrter. Seine Fragen waren keine bloßen Worte. Sie zehrten an ihm wie Salz am Felsen.
Später, in der Sternwarte
Arzûrân stand allein unter der Kuppel, wo der Himmel durch die offene Öffnung sichtbar war. Dort, an einem Elentirmo-Stein, der die Bewegungen von Vardas Sternen verzeichnete, lag ein altes Fragment: ein Blatt aus einem verloren geglaubten Buch, geschrieben in einer Sprache, die nur wenige kannten – Adûnaic, vermischt mit den dunklen Zeichen aus Mittelerde.
Er hatte es auf einer Reise nach Umbar erhalten, heimlich, von einem Fremden mit leuchtenden Augen. „Für dich, Sternenwächter“, hatte der Mann geflüstert. „Dies ist der Anfang.“
Das Fragment sprach von Ringen – neun an der Zahl – die nicht von den Valar stammten, aber Macht enthielten, wie sie selbst die Könige von Armenelos nie gekannt hatten. Es sprach von Leben, das nicht vergehen müsse. Von einem Band zwischen Geist und Zeit.
Er hatte es nie jemandem gezeigt.
In der Audienzhalle, Tage später
Sein Vater, Fürst Eäranur, alt und müde, saß auf dem Thron aus weißem Stein. „Ich höre, du willst erneut nach Mittelerde. Warum? Die Missionen der Königlichen Flotte reichen. Deine Pflichten sind hier.“
Arzûrân trat ruhig vor. „Ich spüre, dass dort Wissen liegt, das wir nie zu fassen wagten. Vielleicht Hoffnung für uns – für unser Volk. Wenn wir rechtzeitig lernen, ehe wir zu Staub zerfallen.“
Der alte Fürst musterte ihn lange. „Wissen, mein Sohn, ist ein zweischneidiges Schwert. Manche Wahrheiten verändern den Geist so sehr, dass er nie wieder derselbe sein kann.“
„Ich weiß“, antwortete Arzûrân. „Aber ich bin bereit.“
Am Hafen von Rómenna
Die Segel waren gesetzt, das Schiff beladen. Dumpf schlugen die Taue gegen die Masten, als wollten sie sich befreien. Am Horizont ruhte das Meer in bleierner Stille, und doch stieg vom Wasser her ein Nebel auf – dicht, schwer, und unnatürlich kalt. Für diese Jahreszeit war das ungewöhnlich, doch niemand sprach es laut aus.
Arzûrân betrat das Deck mit langsamen Schritten. Die Planken unter seinen Füßen waren feucht, als hätte das Schiff lange Zeit in den Schatten der Welt gelegen. Die Männer an Bord mieden seinen Blick, und die wenigen Stimmen verstummten, als er kam.
Aus dem dichten Dunst, der sich über den Kai wie ein Tuch legte, löste sich eine Gestalt. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet, seine Kleidung schlicht, aber von seltsamem Schnitt – nicht númenorisch, nicht westlich. Sein Gesicht war bleich wie polierter Stein, nur zur Hälfte sichtbar unter einer Kapuze, die das Licht zu verschlucken schien.
„Dein Weg beginnt nun, Arzûrân Elentirmo“, sprach der Fremde. Seine Stimme war ruhig, fast sanft – und doch lag darin etwas, das nicht in diese Welt gehörte.
Arzûrân blieb stehen, seine Hand unbewusst am Griff seines Degens. „Wer seid Ihr?“
Der Mann lächelte nicht. Kein Laut kam von ihm außer seinen Worten. „Ein Diener jener, die große Gaben gewähren.“
Er machte einen Schritt näher, und der Nebel schloss sich hinter ihm wie ein Vorhang.
„Wenn du suchst, was jenseits des Todes liegt – wirst du finden,“ fuhr er fort, „doch nicht, was du hoffst.“
Ein kalter Hauch strich über das Deck, und Arzûrân fröstelte, obwohl kein Wind ging. Dann war der Fremde verschwunden – als hätte ihn der Nebel verschluckt, oder als wäre er nie dort gewesen. Nur ein dunkler Streifen auf den Planken blieb, wo seine Füße gestanden hatten, wie ein Schatten, der sich nicht gänzlich auflöst.
Arzûrân blickte noch lange auf die Stelle. Dann wandte er sich ab und ging an Bord. Das Schiff glitt kurz darauf lautlos vom Kai, als folge es einem Ruf, den nur er hören konnte.