Arda Fanfiction

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In der Mitte des Sommers

von Cúthalion

Chapter #1

Juni 1482

Er tritt durch die grüne Tür; die warme Helligkeit ist ein Anschlag auf seine Augen. Er blinzelt wie eine Eule im Tageslicht, und die säuberliche Reihe von Blumenbeeten und Bohnenstangen ist wenig mehr als ein verschwommenes Durcheinander von Farben, bis er mit einer mühseligen Willensanstrengung den Kopf schüttelt und wieder deutlich sehen kann.

Zu seiner Rechten erblickt er die Rosenbüsche, die er nach der Wiederherstellung von Beutelsend gepflanzt hat, ein Lebensalter ist das jetzt her… und sechzig Jahre später erheben die königlichen Blumen noch immer stolz ihr Haupt und verströmen ihren schweren Duft. Zu seiner Linken ziehen sich die üppigen, hoch aufgerichteten Kerzen des Rittersporns in einer Symphonie aus weichem Blau an der Mauer des Smials entlang, ein sanftes Spiegelbild des Himmels. Und in etwa zwei Wochen wird der Heliotrop anfangen zu blühen. Mit einem plötzlichen, schmerzhaften Stich erinnert er sich daran, wie die Pflanzen vor noch nicht einmal zwei Jahren eingetroffen sind: durch einen königlichen Boten aus Gondor überbracht und begleitet von einem Brief voller Zuneigung, geschrieben von Königin Arwens eigener Hand. Sie sind Rosies ganzes Entzücken gewesen, und sie hat viele Stunden auf der kleinen Holzbank neben dem Beet verbracht und den süßen Vanilleduft eingeatmet, der von den violetten Blüten aufstieg.

Bis die Krankheit und das Alter ihr selbst diese letzte, unschuldige Freude geraubt haben.

Er hasst sich selbst für diesen Gedanken; er ist ihm so gar nicht ähnlich, seiner friedlichen Natur so fremd. Er hat immer unterscheiden können, wann er kämpfen und wann er hinzunehmen hatte, was das Leben für ihn bereithielt. Aber jetzt hat sich der feste Boden unter seinen Füßen in kaltes Wasser verwandelt, einen wirbelnden Strudel, der ihn einsaugt und ihm das Gefühl gibt, zu ertrinken… wie damals an jenem Tag, als er versuchte, in Parth Galen Herrn Frodos Boot zu folgen.

Merkwürdig, dass er gerade jetzt an Herrn Frodo denkt. Ihn auf diesem Elbenschiff hinter dem Horizont verschwinden zu sehen, das war der letzte Verlust, den er wie ein Messer gespürt hat, das sich in seinem Herzen drehte… und jetzt geschieht es wieder. Dieses Jahr hat der Mittsommer für seine Familie kein ausgelassenes Fest bereitgehalten… keinen Tanz, kein üppiges Essen unter dem Festbaum. Dieses Jahr haben sich die Gärtnerkinder um das Bett ihrer Mutter versammelt wie ein Nest voller Küken, unter dem Schatten des nahenden Verlustes zusammengekauert. Rosie ist immer der Mittelpunkt des Smial gewesen, die Wärme und das Herdfeuer, und am Mittsommerabend ist die Flamme ihres Lebens ausgegangen wie der Stummel einer Kerze.

„Meine liebe Rose,“ flüstert er. „Meine Rosie.“

Er weint nicht. Er hat nicht einmal in dem Augenblick geweint, als sie vor drei Tagen den schlichten Sarg in die Erde hinabgesenkt haben, und er hat die Zeit seither mit dem Versuch verbracht, seine Kinder und Enkel zu trösten. Sie sind so sehr daran gewöhnt, sich auf seine Stärke zu verlassen… er hat einfach nicht das Herz, ihr unbeirrtes Vertrauen dadurch zu erschüttern, dass er sie seine Trauer und Erschöpfung sehen lässt.

Aber die Nächte sind etwas ganz anderes. In den Nächten liegt er in seinem Bett, das seinen Zweck verloren zu haben scheint… sie beide zu beherbergen, ihm die Möglichkeit zu geben, in den grauen Stunden vor der Morgendämmerung die Hand auszustrecken und ihre Finger zu berühren, ihre Haare, ihr Gesicht. Jetzt ist die andere Hälfte des Bettes leer, und der sanfte, beruhigende Rhythmus ihrer regelmäßigen Atemzüge neben ihm ist für immer dahin.

Er ist aus dem Smial geflüchtet, vor der Stille in der Küche, die stets erfüllt gewesen ist von ihrer singenden Stimme, ihrem ansteckenden Lachen, vom Klappern der Töpfe und Pfannen und dem köstlichen Duft des Essens, das sie immer gekocht hat. Jetzt ist es Elanor, die die Flammen im Herd zu neuem Leben schürt. Sie kennt die besten Rezepte ihrer Mutter, und Jung-Rosie gelingt der legendäre Äpfelkuchen mit Rosinen und Nüssen fast so vollkommen wie ihrer Mutter… aber die Gegenwart seiner Mädchen bedeutet für ihn keinen echten Trost. Sie machen die plötzliche, überwältigende Lücke in seinem Leben nur noch deutlicher spürbar.

Er hat gedacht, der Garten würde ihm vielleicht helfen – sein Reich, der Ort, wo er immer seinen persönlichen Seelenfrieden gefunden hat. Der saubere Geruch nach Erde ist zu allen Zeiten nichts Geringeres als sein Allheilmittel gewesen, dieses lindernde Wissen über die wachsenden Dinge, über zarte Sämlinge, die sich ihren Weg hinauf als Licht bahnen. Jetzt steht er im warmen Sommerdunst, von einer duftenden Blumenfülle umgeben, in der Mitte seines höchst eigenen Königtums – und er weiß, er ist selbst dieses letzten und grundlegenden Trostes beraubt.

Der Klang zweier Stimmen schreckt ihn aus seiner bitteren Betäubung auf. Am hinteren Ende des wohlriechenden Gartens sieht er zwei Gestalten, eine große und eine kleine. Er geht den Pfad hinunter und findet seinen ältesten Sohn Frodo, der mit seinem eigenen Jüngsten neben einem Karottenbeet kniet.

„… und du musst das Grünzeug abschneiden, wenn du sie einmal aus dem Boden heraus hast, Junge,“ hört er Frodo sagen. „oder sie trocknen aus und werden ganz runzelig.“

„Runzelig?“ sagt Klein-Pippin und kraust als unbewusste Antwort auf diese Vorstellung seine winzige Nase. „Wie Opa Sams Gesicht?“

„Wie Opa Sam, ja,“ erwidert sein Vater, und für einen ganz kurzen Moment verdunkelt ein Schatten seine Augen.

Pip dreht eine Karotte zwischen seinen kleinen Fingern hin und her.

„Opa Sam ist traurig,“ bemerkt er. „Er vermisst Oma Rosie.“

„Genau wie ich,“ flüstert Frodo, beugt sich hinunter und küsst den lockigen Kopf seines Sohnes. Er räuspert sich und wischt sich unauffällig die Augen mit dem Ärmel. Um Himmels Willen, das ist sein bestes Hemd, denkt Sam, plötzlich zwischen Elend und Gelächter hin- und hergerissen, die arme Primula kriegt Zustände, wenn sie ihn dabei erwischt, wie er es beim Werkeln im Garten trägt. Seine Schwiegertochter ist eine Perle unter den Hobbitfrauen, und sie hat Rosie beinahe bis zur Anbetung verehrt, aber ihre entspannte Art, die üblichen Fallstricke des täglichen Lebens zu handhaben, besitzt sie noch nicht – bis jetzt jedenfalls. Sie wird schon noch hineinwachsen, denkt Sam und schaut mit melancholischer Zuneigung auf seinen Sohn und seinen Enkel hinunter.

Der kleine Junge könnte genauso gut er selbst sein, denkt er, wie er seine ersten Schritte in die zauberhafte Welt wachsender Dinge gemacht hat, angeleitet von den Händen des Ohm. Der Ohm… er hat die Bürde von Bells Verlust geschultert, in dem er sein Herz wie eine dicke Tür mit schweren Holzriegeln verschlossen hat. Er hat sein Bestes versucht, eine verlässliche Stütze für seine Kinder zu sein – eine bärbeißige, übellaunige Stütze zuweilen, aber dennoch eine Stütze. Und nun ist er fort… wie Bell, wie Lily Kattun… wie Rosie.

Zum ersten Mal wagt er es, seine Gedanken in eine unbekannte Zukunft wandern zu lassen. Wie wird diese Zukunft sich anfühlen, wenn er beschließt, ohne sie weiterzumachen? Der frühere Bürgermeister, früherer Freund des legendären, halb vergessenen Ringträgers und selbst ein Träger des Rings… ganz allein jetzt, von denen, die er liebt, zurückgelassen, während sie unbekannte Wege genommen haben, ohne zurückzuschauen.

Seine Kinder werden sich höchstwahrscheinlich um ihn scharen, als Schild gegen seine Trauer; sie werden ihr normales Leben auf unnatürliche Art unterbrechen, aus Angst, dass ihr geliebter Vater nicht mehr das sein könnte, was er immer für sie gewesen ist. In den letzten paar Tagen hat er eine Maske der Seelenruhe getragen, aber er weiß, früher oder später wird sie die ersten Risse zeigen. Dann wird sich das Elend seiner besorgten Nachkömmlinge nur noch vervielfachen, wenn er keinen Weg findet, ihnen das Herz zu erleichtern – und seines.

„Frodo, mein Junge?“

Der junge Hobbit schaut zu ihm auf, und der Blick in seinen Augen bestätigt nur, was Sam noch Sekunden zuvor gedacht hat – er sieht eine tiefe, nackte Furcht vor der Veränderung, die sie alle befallen hat. Er hat Recht gehabt, und er kann es nicht länger ertragen.

Sam holt tief Atem.

„Ab mit euch in den Smial, Jungs,“ sagt er, ein müdes Lächeln um die Lippen. „Der Apfelkuchen ist jetzt ganz bestimmt schon aus dem Ofen. Und ihr habt doch Hunger, oder nicht?“

„Ja – Apfelkuchen!“ Klein Pippin springt auf die Beine; Karotten und Garten sind über die süße Verheißung seiner Lieblingsleckerei gänzlich vergessen. „Komm, Papa…“ aber Frodo zögert.

„Was ist mit dir?“ fragt er. „Willst du denn keinen Kuchen?“

„Noch nicht, mein Sohn,“ Sam nimmt den Anblick seines Ältesten mit liebendem Staunen in sich auf… Rosies Augen, ihr Lächeln, verbunden mit seiner eigenen, kräftigen Statur und seinem gerstenblonden Haar. Dies ist nicht die goldene Anmut seiner erstgeborenen Tochter, nicht das schwache Echo von elbischem Zauber und Schönheit aus lang vergangenen Zeiten. In diesem Hobbit sieht er das gesamte Auenland verkörpert, fruchtbare Erde und triumphierende Erntefeste, gesäumt von stetiger Dankbarkeit und erdgebundener Freude. Ein würdiger Erbe all dessen, wofür er und seine Gefährten gekämpft haben. „Ich würde gern noch ein kleines bisschen draußen bleiben. Ich bin gleich bei euch, versprochen.“

Er folgt Frodo und dem Kleinen mit den Augen, wie sie den Pfad entlang schlendern; binnen kurzem haben die Finger von Klein Pippin die seines Vaters gefunden, und sie gehen Hand in Hand. Die grüne Tür schließt sich hinter ihnen und er ist einmal mehr allein.

Behutsam lässt er sich auf Rosies Lieblingsbank neben dem Heliotrop nieder… und zum allerersten Mal ist das Gesicht, das er im Geist vor sich sieht, nicht das von Schmerz, Alter und Krankheit veränderte Gesicht seiner Frau. Er sieht dunkle, silbergesträhnte Locken, und einen indigoblauen Blick, erfüllt von dem vertrauten, hart erkämpften Frieden, den er – endlich! – anfängt zu verstehen.

„Herr Frodo.“ Es ist ein halbes Schluchzen, und gleichzeitig ein Seufzer tiefer Erleichterung. Er ist über lange Jahre hinweg heil und ganz gewesen, so wie sein geliebter Herr es vorhergesehen hat. Frodos Träume für ihn haben sich erfüllt, und jetzt ist es Zeit für einen neuen Weg… einen Weg, der hinausführt durch das Gartentor und geradewegs in ein Abenteuer hinein, von dem er nie zu träumen gewagt hätte, als er noch jung war.

Er gluckst in sich hinein.

„Ich hab dir doch gesagt, ich würde dir folgen, wenn ich irgend kann,“ flüstert er, „und wenn es ein Elbenschiff braucht, dass ich da hinkomme. Von allen Dingen muss es ausgerechnet ein Schiff sein…!“

Ihm fallen die Augen zu, und wieder holt er tief Atem. Die frische Brise einer plötzlichen Hoffnung vertreibt die warmen, süßen Düfte seines Gartens, und plötzlich ist seine Nase voll von dem scharfen Geruch des Meeres.

Es ist Zeit.

ENDE

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