Arda Fanfiction

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Bevor ich schlafen gehe

von Cúthalion

Eine Geburt im Frühling

Lily Stolzfuß wurde an einem strahlenden Frühlingsmorgen des Jahres 1384 geboren. „Viola, sie ist ein Sterngucker!“ rief die Hebamme aus, als sie das kleine Mädchen hochhob, mit einem Tuch abrieb und auf den Bauch ihrer Mutter legte. Viola Stolzfuß streichelte den flaumigen Kopf, brachte ein schwaches Lächeln zustande und lauschte mit Erleichterung dem kräftigen Geschrei. Es war ihre erste Geburt, und die ganze Prozedur war doch wesentlich anstrengender gewesen, als sie sich das vorher ausgemalt hatte.

Eine halbe Stunde später kam Fredegar Stolzfuß nach Hause; er hatte den ersten jungen Salat und eine Karrenladung Spitzkohl auf dem Markt in Wasserau verkauft und war schon seit Tagesanbruch unterwegs. Er wurde von der Nachricht überrascht, dass er zum allerersten Mal Vater geworden war. Er kam in das Zimmer gestürzt, küsste seine Frau und nahm das kleine Bündel vorsichtig in die Arme. Seine Tochter öffnete zwei bernsteinbraune Augen und betrachtete ihn eine Weile neugierig; endlich gähnte sie herzhaft und schlief ein. Fredegar setzte sich auf die Bettkante. Er lächelte auf das winzige, rosige Gesicht hinunter und bestaunte die langen Wimpern, die runde Knopfnase und den vollkommenen kleinen Mund, und zum zweiten Mal in seinem Leben verliebte er sich rettungslos.

„Nun… und wie wollen wir sie nennen?” fragte er mit gedämpfter Stimme, noch immer erschüttert von dem Wunder des neuen Lebens in seinen Armen.

„Ich hatte an Anemone gedacht,” sagte Violet; sie war wirklich müde, und alles, was sie jetzt wollte, war Schlaf. „Oder vielleicht Maie?”

Fredegar streichelte die samtweiche Wange des Babys mit einem rauhen Daumen. Plötzlich erinnerte er sich an einen Sommertag vor langer Zeit.

Sein Vater hatte ihn nach Bree mitgenommen, um Setzlinge einer neuen Kirschbaumzüchtung zu kaufen, die er kreuzen wollte, und auf ihrem Heimweg ratterte ihr Karren über die Brandyweinbrücke. Fredegar bat seinen Vater, anzuhalten; er hatte noch nie einen Fluss gesehen, der größer war als die Wässer in Hobbingen. Der kleine Hobbitjunge kletterte vom Karren und schaute durch das hölzerne Geländer auf das glitzernde Wasser hinunter. Dicht am Ufer, überschattet von den hängenden Zweigen der Weiden, sah er dicke Bündel wundersamer Pflanzen, mit hohen Stängeln von einem tiefen, saftigen Grün und mit schlanken Blättern; Blütenköpfe wiegten sich leise in der kühlen Brise, wandten ihre gelben Gesichter in seine Richtung und lächelten ihm zu.

„Schau mal, Papa!” sagte er. „Was für Pflanzen sind das denn?”

„Wasserlilien, Sohn.” sagte sein Vater, und dann hob er ihn wieder auf den Karren. Fredegar war ein klein wenig traurig; er wäre liebend gerne näher ans Flussufer gegangen und hätte diese fremdartigen und wunderschönen Blumen angefasst. Aber sein Vater hatte das gesunde Misstrauen aller Hobbits gegen jedes schnell fließende Wasser geerbt, das breiter war als ein dünnes Rinnsal. Er hätte diesen Einfall sicherlich für albern oder sogar für gefährlich gehalten.

Nun, fast zwanzig Jahre später, schaute Fredegar auf das Gesicht seiner neu geborenen Tochter hinunter und lächelte.

„Ich würde sie gern Lily nennen.” sagte er.

*****

Für das Baby zu sorgen war keine leichte Aufgabe, wie Violet Stolzfuß zu ihrer großen Bestürzung herausfand; bevor ihre Tochter geboren war, hatte sie die rosige Vorstellung von sich selbst gehegt, wie sie in einem Schaukelstuhl neben dem Fenster saß, einen friedlich schlafenden Engel in den Armen. Lily aber weigerte sich energisch, friedlich und vor allem still zu sein; sie schrie Tag und Nacht, saugte mit einem erstaunlich harten Gaumen und wurde scheinbar doch nie richtig satt. Binnen weniger Wochen waren Violas Brustwarzen wund und entzündet, und das Stillen wurde zu einem Drama, mit einer hysterisch schluchzenden Mutter und einem hilflosen Vater.

Normalerweise hätte eine junge Hobbitfrau mit ihrem ersten Kind jede Menge Hilfe von Verwandten und Nachbarn erwarten können; aber Violas gesamte Verwandtschaft lebte weit entfernt in Bockland, und Violet war nicht sehr erfolgreich darin gewesen, sich in Hobbingen Freunde zu machen. Heimlich hielt sie ihre Nachbarn für öde und engstirnig, und die spürten ihre Abneigung… weshalb die erste Welle von wohlmeinenden Besuchern mit Geschenken und vorgekochten Mahlzeiten auch ziemlich bald nach Lilys Geburt wieder versiegte. Violet hätte den Rat einer erfahrenen Mutter bitter nötig gehabt; statt dessen verkroch sie sich zu Hause, verließ den Smial kaum noch und erinnerte sich verzweifelt an glücklichere Tage, als sie ihr gemütliches Heim nur mit ihrem Mann hatte teilen müssen.

Fredegar stand der ganzen Angelegenheit völlig ratlos gegenüber; die Kirschernte war in volllem Gange, aber er verließ den Obstgarten mehrmals am Tag... und das, obwohl sich seine Frau in eine rasende Furie verwandelt hatte, die ihn mit sinnlosen Anklagen überschüttete, sobald er in der Tür des Stolzfuß-Smials erschien. Er spürte eine starke, wenn auch schuldbewusste Erleichterung, wenn es ihm möglich war, wieder zu flüchten. Ein wachsender Schlafmangel, die ernste Brustentzündung und die wütende Enttäuschung über ihre Mutterschaft sorgten dafür, dass Viola eine regelrechte Abscheu gegen ihre Tochter entwickelte. Nach zwei Monaten weigerte sie sich, sie noch länger zu stillen; sie lag auf ihrem Bett, starrte an die Decke und vergrub ihr Gesicht in den Kissen, wenn das hungrige Geschrei ihrer Tochter sie an ihr Versagen erinnerte.

Als die Ernte vorüber war, versuchte Fredegar, Lily selbst zu füttern, mit einem kleinen Löffel und einem dünnen Leinentuch, zum Zipfel gedreht und in Ziegenmilch getaucht, aber beide Methoden waren nicht gerade erfolgreich. Endlich ging er zu Amaranth Brockhaus, der Hebamme (die zu sehen Viola sich stur geweigert hatte); ein einziger Blick in sein erschöpftes Gesicht sagte Amaranth genug, um ihr klar zu machen, dass es Zeit war, einzugreifen… sogar noch bevor sie sich geduldig seine gestammelten Erklärungen angehört hatte.

„Tolman Kattuns Frau hat einen Sohn, vier Monate alt, und sie erwartet schon das nächste Kind,” sagte sie und tätschelte Fredegar den Rücken. „Ihre Hausmagd hat Klein-Jolly gestillt, sobald ihr eigener Sohn soweit war, aus einer Tasse zu trinken. Ich bin sicher, Frau Kattun wird gerne helfen, und ihrer Margerite macht ein weiteres Baby bestimmt nichts aus, wenn du ihr die Sache mit ein paar Münzen versüßt. Sobald das Baby erst einmal satt ist, wird es sich schon beruhigen... und vielleicht nimmt deine Violet ja ein bißchen Hilfe von mir an, wenn sie erst einmal ein paar Nächte anständig geschlafen hat, meinst du nicht? Ich fürchte, sie wird einige Zeit brauchen, sich zu erholen, und es wäre besser, wenn sich jemand anderes anständig um das Kleine kümmert... jedenfalls so lange, bis sie den Weg aus ihrem jetzigen Zustand heraus gefunden hat. ”

Sie kam ein paar Stunden später, um Lily zu den Kattuns zu bringen. Viola hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen; es war Fredegar, der einen Korb mit kleinen Häubchen, Hemden, Hosen und Windeln gepackt hatte, und er war es auch, der seine schreiende Tochter zu Amaranths Wagen trug.

„Werden sie sich wirklich um sie kümmern?” fragte er ängstlich, als die Hebamme das zappelnde Bündel in ihrer Armbeuge zurechtrückte und die Hand nach den Zügeln ihres alten, braunen Ponys ausstreckte.

„Aber sicher werden sie das, Jungchen,” erwiderte sie, als wäre er noch einer der kleinen Lümmel, die versuchten, in ihrem Garten Äpfel zu stibitzen. „Du kannst sie jederzeit besuchen, wenn du möchtest; Lily Kattun ist eine gute Seele und ihre Margerite ist eine feine Amme.”

*****

Eine halbe Stunde später rollten die Räder von Amaranths Wagen auf den Bauernhof und Tolman Kattun nahm die Mistgabel in die linke Hand und tippte sich mit der rechten an die Mütze.

„Also das ist die lärmende kleine Namensvetterin, auf die meine Lily wartet?” sagte er mit einem breiten Lächeln. „Starke Lungen und eine mächtig gute Farbe, was?”

„Ja, Tom, und ordentlich hungrig,” antwortete Amaranth und stieg vom Karren. „Ist Lily drinnen?”

„Ist sie, und Margerite auch. Sie können es beide kaum erwarten, euch zu sehen.”

Als Amaranth in die Küche kam, erhob sich Lily von ihrem Stuhl neben dem Herd und nahm ihren wohl gefütterten Sohn aus den Armen von Margerite entgegen, während die Hausmagd der Hebamme Lily abnahm. Das Baby, das sich während der Wagenfahrt beruhigt hatte, fing wieder an zu brüllen, und Margerite lachte. „Zu viele unbekannte Gesichter, hm, Kleines? Also, Liebchen, komm mal mit, Margerite kümmert sich schon um dich...." Sie verschwand im Nebenzimmer und innerhalb von weniger als einer Minute verstummte das Geschrei. Lily Kattuns Augen und die Augen der Hebamme begegneten sich über dem Tisch und sie tauschten ein zufriedenes Lächeln.

„Wie lange kannst du sie hier behalten?” fragte die Hebamme.

„Bis das neue Baby geboren ist,” antwortete Lily und streichelte dabei ihren leicht gewölbten Bauch. „Ich hoffe, diesmal wird’s ein Mädchen.“ Sie runzelte die Stirn. „Was ist mit Viola? Ich hoffe, sie erholt sich bald.”

Die Hebamme seufzte. „Wenn Viola bloß nicht so hochnäsig wäre…” sagte sie kopfschüttelnd, „Natürlich ist sie eine großartige Stickerin – man kann einen ganzen Garten in allen Farben des Regenbogens unter ihren Händen aufblühen sehen – aber selbst die allerschönste gestickte Blume macht ein Kind nicht satt, und sie hat ein bisschen allzu deutlich gemacht, dass sie niemanden von uns braucht… bis es beinahe zu spät war. Es wird eine Menge Zeit nötig sein, um ihr da heraus zu helfen… wenn sie das zulässt.”

Margerite kam zurück. Lily ruhte in ihren Armen, ihr kleines Gesicht rosig und friedlich; sie war fest eingeschlafen.

„So ein süßes kleines Mädchen!” Lily Kattun lächelte. „Ich bin sicher, sobald Viola sich besser fühlt, wird sie das Kleine aus vollem Herzen genießen.”

Amaranth nickte langsam, heimlich den nagenden Verdacht unterdrückend, dass Viola kein Kind, das sie geboren hatte, je wirklich genießen würde.

******

Lily lag beinahe sechs Monate in der Wiege neben Jolly; unter den erfahrenen Händen von Margerite und Frau Kattun entwickelte sie sich prächtig, schlief die Nächte durch und verlangte ihr Frühstück nie vor dem ersten Hahnenschrei. Im Juli fing sie an, durch die Küche zu krabbeln, im September entdeckte Daisy, dass sie zum ersten Mal aufrecht saß. Und zwei Tage, bevor Fredegar seine Tochter wieder nach Hause brachte, zog sie sich am Rand von Klein-Toms Bett hoch, bis sie auf wackeligen Beinen stand und Frau Kattun zahnlos anlächelte, als sie hereinkam und einen kleinen Freudenschrei ausstieß.

Fredegar kam und packte Lily, die in zwei Decken gewickelt und in einen großen Korb gesteckt worden war, auf den Sitz seines Karrens. Er fuhr vom Hof und ließ die ganze Reihe der winkenden Kattun-Familie hinter sich. Es war ein kalter Morgen, und sein Atem wehte wie eine weiße Wolke um seinen Kopf. Von Zeit zu Zeit schaute er auf das schlafende Baby neben sich hinunter, fast schwindelig vor Freude. Nun kam seine Kleine dahin zurück, wo sie hingehörte; Viola hatte sich in den vergangenen Monaten erholt und er wusste, dass sie sich darauf freute, ihr Kind zu sehen. In diesem Moment war er sich sicher, dass jedes Wunder möglich war. Sie hatten einen schlechten Anfang gehabt, aber dies – die schlafende Gestalt in dem Korb und die gesunde Frau daheim, die mit ihrem Stickrahmen am Fenster saß und nach ihm Ausschau hielt – dies war der wahre Beginn ihres Lebens als Familie.

Viola stand in einem Fleck Sonnenlicht, als er die Tür öffnete. Sie kam ihm entgegen und nahm Lily auf den Arm, überrascht von ihrem Gewicht. Das kleine Mädchen öffnete die Augen und schenkte ihrer Mutter ein schläfriges Lächeln; Viola lächelte zurück, heimlich erleichtert. Sie hatte sich seit Wochen vor diesem Tag gefürchtet. Sie hatte sich auf angenehme Weise daran gewöhnt, wieder mit ihrem Mann allein zu sein; die fürchterliche Zeit mit dem schreienden Baby war zu einer schwachen Erinnerung verblasst, und ihre regelmäßigen Besuche auf dem Kattun-Hof, um Lily zu sehen, hatten nichts an dieser Tatsache geändert.

Fredegar küsste seine Frau.

„Frau Kattun sagt, sie kann jetzt normales Essen bekommen,“ erklärte er. „Das wird die Dinge für dich viel leichter machen, Liebes.“

Hoffen wir das Beste, dachte Viola und fühlte sich verlegen und ein wenig schuldig bei diesem Gedanken. Aber sie nickte mit soviel Zuversicht, wie sie aufbringen konnte und sagte nichts.

******

Lily wurde zwei und folgte ihrem Vater auf plumpen kleinen Beinen in den Obstgarten, und er kam heim mit dem schlafenden Kind auf einer Hüfte und der Kiepe voll reifer Kirschen wackelig auf der anderen. Sie wurde drei, half bei der Ernte mit und sortierte die zerdrückten Früchte in ihr kleines Körbchen, bis sie Hunger bekam oder einschlief. Mit vier half sie ihrer Mutter, einen Kirschkuchen zu backen, mit dem Fredegar sich vor sämtlichen Freunden groß tat. Sie wurde fünf und versuchte sich an ihrem ersten Kreuzstich, ein Muster aus Kirschblüten in vielen verschiedenen Farben. Das Taschentuch war am Ende schmuddelig und die Stiche ihrer ersten Stickarbeit taumelten über das Leinen wie betrunkene Krieger, aber ihr Vater steckte es in seine Tasche und hütete es wie einen Schatz.

Kurz vor Lilys sechstem Geburtstag* adoptierte Bilbo Beutlin, der Herr von Beutelsend, seinen viel jüngeren Vetter Frodo. Die Mutter des Jungen war eine Brandybock, und die Gerüchte schwappten wie eine Woge über den Markt von Wasserau, wo Viola die Tischtücher, Servietten und Schürzen verkaufte, die sie den Winter über bestickt hatte.

Lily saß mit baumelnden Beinen auf einer Holzkiste; einzelne, kastanienbraune Locken stahlen sich aus den festen Zöpfen, die ihre Mutter am Morgen geflochten hatte. Sie verstand noch nicht einmal die Hälfte von dem erregten Klatsch, der sie umsummte, und natürlich kannte sie diesen „dreisten Erbschleicher“ nicht (so hatte Lobelia Sackheim-Beutlin Bilbos ahnungslosen Erben genannt, als sie vor einer halben Stunde wie ein Unwetter über Violas Stand hereingebrochen war). Aber sie erinnerte sich an einen Spaziergang vor sechs Monaten mit ihrem Vater; da hatten sie Herrn Beutlin getroffen, der gerade von einer seiner langen, geheimnisvollen Wanderungen zurückkam. Der alte Edelhobbit grüßte Fredegar Stolzfuß mit großer Höflichkeit, lächelte sie an und gab ihr ein Pfefferminzbonbon aus seiner Tasche, bevor er den Weg den Bühl hinauf einschlug. Fred erzählte ihr, dass Bilbo schon fast sein ganzes Leben lang allein lebte, und jetzt war Lily heimlich erfreut, dass er endlich etwas Gesellschaft gefunden hatte. Als ihr Vater kam, um sie vom Markt abzuholen, erzählte sie ihm von ihren Gedanken und wurde mit einer liebevollen Umarmung belohnt.

Amaranth hatte Recht behalten und sich gleichzeitig geirrt; Viola hatte weniger Schwierigkeiten mit ihrer Tochter, als sie zuerst erwartet hatte. Lily verwandelte sich von einem schreienden Baby in ein freundliches, ausgeglichenes kleines Mädchen, und mit den Jahren wurde sie ziemlich selbstständig. Ihre Mutter brachte ihr bei, wie man nähte und stickte, und sie war ehrlich erfreut und stolz, als sie sah, dass Lily scheinbar ihr Talent geerbt hatte. Lily trug stets hübsche Kleider, die Viola mit gestickten Blumen und Blättern dekoriert hatte, und wenn Lily sich das Knie aufschlug oder den Ellenbogen zerkratzte, war sie schnell helfend zur Stelle. Lily wusste, dass sie ihr Bestes tat. Aber das kleine Mädchen begriff auch mit dem sicheren Instinkt aller Kinder, dass sie sich an ihren Vater wenden musste, wenn sie ein liebevolles Herz und offene Arme suchte.

Als Lily zehn wurde, stellte Viola zu ihrer großen Bestürzung fest, dass sie wieder schwanger war. Es dauerte Monate, bis sie sich mit der Tatsache versöhnte, dass die Katastrophe, die sie einmal durchlitten hatte, sich jetzt zu wiederholen drohte. Aber dieses Mal war das Kind ein Junge, und er kam viel leichter zur Welt als ihre Tochter. Was mit Lily so schwer gewesen war, ging mit Marco (wie der Junge genannt wurde) erstaunlich leicht, und mehr als das, Viola hatte genügend Milch für das Baby. Das entsetzlich gefürchtete Stillen stellte sich als Vergnügen für Mutter und Sohn heraus.

Lily war klug und sensibel; sie spürte den Unterschied zwischen der angestrengten Sorgfalt, die Viola ihr angedeihen ließ und der zärtlichen, scheinbar mühelosen Liebe, die sie ihrem Bruder schenkte. Sie lehnte sich allerdings nicht auf; Lily lernte sehr früh in ihrem Leben, die Dinge so zu nehmen, wie sie waren. Und sie hatte Glück; sie wusste, wie tief ihr Vater sie liebte, und ihre Bindung wurde noch enger.

* Eine kurze Bemerkung zum Altersschlüssel: Ebenso wie rabidsamfan ziehe ich von den Hobbitjahren ein Drittel ab, um auf ein vergleichbares „Menschenalter“ zu kommen. Das heißt, als Frodo nach Hobbingen kommt, ist Lily sechs, nach unseren Maßstäben also etwa vier, und Frodo ist nach „Menschenjahren“ erst vierzehn.

*****

Das Jahr von Marcos Geburt kam der Mittsommer-Jahrmarkt turnusmäßig nach Hobbingen, und schon Tage vorher waren die Gästezimmer im Efeubusch und im Grünen Drachen mit Fremden, Freunden und all denjenigen Verwandten überfüllt, die man nicht mehr in den Smials der Bewohner von Hobbingen unterbringen konnte. Lily kleiner Bruder hatte eine böse Sommergrippe, also blieb Viola zu Hause und erlaubte ihrer Tochter, mit ihrem Vater zusammen den Jahrmarkt zu besuchen.

Es war ein großartiges Abenteuer; Lily wanderte von Stand zu Stand, bewunderte schöne Röcke und Blusen, bemalte Keramik und buntes Glas. Fredegar kaufte ihr einen kandierten Apfel und süße Limonade, und sie hatten jede Menge Spaß miteinander. Dann entdeckte Lily einen Tisch mit Silberarmbändern, auf tiefblauem Samt dekoriert; das feine Metall glitzerte in der Sonne und Lily ließ die Hand ihres Vaters los und schlenderte hinüber, um ein besonders zierliches, mit weißen Edelsteinen besetztes Stück zu bewundern. Als sie sich umdrehte, stand sie plötzlich ganz allein in der großen Menge.

Erst tat sie ihr Bestes, genau dort zu bleiben, wo sie ihren Vater verloren hatte; er hatte ihr eingeschärft, nicht wegzulaufen. Aber bald machten die Besucher des Jahrmarktes ihr das unmöglich; sie wurde gestoßen und gezerrt und von dem Strom aus erhitzten Körpern, pelzigen Füßen und lauten Stimmen mitgerissen. Verzweifelt versuchte sie, die Tränen niederzukämpfen, die ihr in die Augen stiegen, dann machte sie ein paar unsichere Schritte vorwärts und trat einem alten Hobbit direkt vor sich gegen das Bein.

„Autsch! Kannst du nicht ein bisschen besser aufpassen wo du hinl... oh!“

Er kauerte sich mitten in dem wirbelnden Durcheinander hin, und dann füllte ein vertrautes, von Fältchen durchzogenes Gesicht mit hellen Augen ihr Blickfeld, und eine warme Hand schloss sich um ihre Schulter – die Hand von Bilbo Beutlin.

„Kann ich dir helfen, kleines Fräulein? Wie heißt du denn?“

„Ich... ich bin Lily S... stolzfuß, und ich h...hab meinen V...vater verloren...“

Ihre Stimme war nicht mehr als ein schrilles Quietschen und zu ihrer schrecklichen Schande brach sie in Tränen aus. Der alte Hobbit gab ein beruhigendes „Nun... nun... ts ts ts...“ von sich und förderte ein riesiges weißes Tuch aus seiner Westentasche zutage. Er trocknete ihr das Gesicht und half ihr, sich die Nase zu putzen.

„Da... so ist es recht.“ Er wandte den Kopf. „Frodo? Bist du so nett und kommst mal hier rüber, Junge?“

Lily hob den Kopf und schluckte vor Überraschung. Ein Hobbit bahnte sich seinen Weg durch die Menge, jung, mit dunkelbraunen Haaren und einem regelmäßig geschnittenen Gesicht mit blasser Haut. Als er näher kam, sah sie die Weste, die er über seinem sauberen Leinenhemd trug; rehbraune Seide, bestickt mit efeugrünen und goldenen Blätterranken. Unwillkürlich lächelte sie durch ihre Tränen.

„Ich hab diese Blätter gemacht!“ sagte sie, und ein plötzlicher Stolz vertrieb den größten Teil ihrer Furcht und Verlorenheit.

„Oh, wirklich?“ Herr Beutlin hob eine Augenbraue und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln; er nahm ihre Hand mit festem, tröstlichen Griff und führte sie durch die Menge in den Schatten eines Karrens voller Apfelkörbe, wo sie abseits des Gedränges stehen konnten; der junge Hobbit war ihnen gefolgt und Bilbo deutete lächelnd und mit großer Geste in ihre Richtung.

„Darf ich dir Lily Stolzfuß vorstellen – die Tochter von Fredegar Stolzfuß, dessen Kirschen wir jeden Morgen in unserer Frühstücksmarmelade genießen. Sie ist die Künstlerin, die deine Weste mit diesen feinen Blättern dekoriert hat.“

„Nur die grünen,“ war Lily ein, immer noch schnüffelnd.

„Nur die grünen,“ wiederholte Herr Beutlin mit einem Zwinkern in den Augen. Der junge Hobbit sah an seiner Kleidung herunter, dann verbeugte er sich feierlich und lächelte breit.

„Sehr gut gelungen,“ sagte er, „Und jetzt werde ich mich immer daran erinnern, wer sie gemacht hat. Vielen Dank, Fräulein Stolzfuß.“

Sie schaute zu ihm auf.

„Es war das erste Mal, dass Mama mir erlaubt hat, es zu versuchen.“ erklärte sie ihm. „Vielleicht besticke ich dir eines Tages noch eine, wenn ich es besser kann.“

„Ich freue mich darauf.“ sagte er, und sie dachte, dass sie seine Stimme mochte... sie war warm, gleichmäßig und angenehm. Jetzt ergriff der alte Herr Beutlin wieder das Wort.

„Würdest du bei Fräulein Stolzfuß bleiben, mein Junge?“ fragte er. „ich werde gehen und ihren Vater holen. Er muss inzwischen ziemlich besorgt sein.“

Mit diesen Worten verschwand er in der Menge und ließ Lily bei seinem Erben zurück. Sie schaute ihn aus den Augenwinkeln an, und plötzlich kamen ihr die zornigen Worte von Lobelia Sackheim-Beutlin wieder in den Sinn. Sie sprach, ohne nachzudenken.

„Weißt du was? Frau Lobelia muss sich irren – du siehst überhaupt nicht aus wie ein Erbschleicher!“

„Bitte um Verzeihung...?“

Ihr Gesicht wurde scharlachrot und sie starrte ihn ängstlich an. War er wütend? Sein Gesicht blieb ein paar Momente völlig ausdruckslos, dann erschien ein mutwilliges Grinsen in seinen Augen und er fing an zu lachen, gedämpft zuerst, dann lauter und lauter, bis sie es endlich wagte, einzustimmen und ihre Stimmen durch die seidige, warme Luft des Mittsommertages schallten.

Endlich wischte er sich die Augen und schenkte ihr ein kameradschaftliches Grinsen.

„Darf ich dann also annehmen, dass du die Ansicht von Lobelia der Fürchterlichen nicht teilst?“ fragte er.

Sie presste eine Hand auf den Mund, hin- und her gerissen zwischen Entsetzen und Entzücken. Niemand hatte es je gewagt, so über Frau Lobelia zu reden, wenigstens nicht in ihrer Gegenwart. Aber dann sah sie das verkrampfte, bösartige Gesicht vor ihrem inneren Augen und fing hilflos wieder an zu kichern.

„Nein, ich glaube, sie irrt sich.“ versicherte sie ihm, nachdem sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte. „Du bist nett. Ich glaube, ich mag dich.“

„Ich mag dich auch.“ Er lächelte sie an und sie lächelte mit leuchtenden Augen zurück.

„Um Himmels Willen, Lily!“

Fredegar Stolzfuß überquerte den Gang zwischen den Ständen mit langen Schritten, den Herrn von Beutelsend auf den Fersen, und Frodo Beutlin sprang auf und half Lily auf die Füße.

„Geht es dir gut, Kind? Meine Güte, ich habe solche Angst gehabt!“

„Nun nun, Meister Stolzfuß, das hier ist nicht die Wildnis jenseits der Nebelberge,“ bemerkte Bilbo Beutlin in beruhigendem Tonfall, „ich bin sicher, beinahe jeder hier wäre sehr erfreut gewesen, das junge Fräulein zu seinem Smial zurückzueskortieren.“

„Ich... ich weiß nicht, wie ich mich bedanken soll...“

„Oh... ich bin sicher, wir würden beide einen Korb voll mit deinen feinen Kirschen für einen Kuchen überaus schätzen, meinst du nicht, Junge?“sagte Bilbo leichthin. Dann verbeugte er sich und lächelte Lily zu.

„Leb wohl, Fräulein Stolzfuß,“ sagte er. „Ich wünsche dir einen angenehmen Tag.“

Lily knickste, und dann stand Frodo vor ihr. Er verbeugte sich ebenfalls, dann nahm er ihre Hand und tupfte einen kleinen Kuss auf ihre Fingerspitzen.

„Dankeschön, Lily Stolzfuß,“ sagte er ernsthaft, „für meine Lieblingsweste und für deine mutige Unterstützung.“

„Auf Wiedersehen, Frodo Beutlin.“ erwiderte Lily und knickste wieder; sie sah den beiden zu, wie sie zwischen den Ständen verschwanden. Als sie fort waren, nahm ihr Vater sie erleichtert in die Arme und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Obwohl sie protestierte, brachte er sie nach Hause.

*****

In den nächsten sieben Jahren sah Lily Herrn Beutlin und seinen Erben von Zeit zu Zeit; mehr als einmal kamen die beiden am Beginn einer der Wanderungen, die sie jetzt gemeinsam unternahmen, am Stolzfuß-Smial vorbei. Und Frodo Beutlin versäumte nie, ihr zuzunicken oder sie mit großer Höflichkeit zu grüßen, wenn sie sich auf dem Markt oder auf dem Weg nach Wasserau begegneten. Als die Feierlichkeiten zu Bilbo Beutlins einundelfzigstem Geburtstag ganz Hobbingen in Aufruhr versetzten, war Lily gezwungen, mit einer schweren Erkältung zu Hause zu bleiben. Deshalb hörte sie nie seine seltsame Ansprache und sah auch nicht den blendenden Blitz, in dem er verschwand. Aber ihr Vater kam mit einem besonderen Geschenk nach Hause, das Bilbo Beutlin für sie vorbereitet hatte; ein feines Paar Scheren und einen wunderschönen Spiegel, in dessen Rückseite zarte Blumen und Vögel eingraviert waren. „Für Lily mit dem süßen Gesicht und den geschickten Händen – von Herrn Bilbo Beutlin“ stand auf der Karte in dem kleinen Päckchen. Lily saß fast eine Stunde auf ihrem Bett; sie ignorierte die morgendlichen Geräusche aus der Küche und das Quäken ihres kleinen Bruders.

Sie rief sich jede Einzelheit ihrer letzten Begegnung ins Gedächtnis – das aufgeregte Gesumm der Stimmen, die plötzliche Furcht, als sie ihren Vater verloren hatte, und der stille, freundliche Trost, den sie von beiden empfangen hatte, dem alten Beutlin und dem jungen. Endlich verstand sie das Gefühl, das sie an diesem Mittsommertag gehabt hatte.

Sie hatten dafür gesorgt, dass sie sich wie etwas Besonderes vorkam.

„Als ob ich eine Dame wäre...“ flüsterte sie, studierte ihr rundes Gesicht im Spiegel und sah sich lächeln... ein Lächeln, das ihr Herz beinahe so sehr wärmte wie das, das ihr Frodo Beutlin geschenkt hatte, als sie ihm sagte, dass sie ihn mochte.

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