Arda Fanfiction

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Wie Legolas sich als Bogenschütze erwies

von Chathol-linn

Kapitel #2


*****



Der Reiter aus Lothlórien war nicht der einzige Besucher, der Thranduils Grenzen in dieser Nacht überquerte. Herrscher folgte ihm kurze Zeit später, mit Blut auf seinen Hauern und in seinem Geist. Zuletzt hatte er einen halb ausgewachsenen Wolfswelpen getötet, der das Pech gehabt hatte, dass er ihn in einem unbewachten Augenblick antraf. Das unerfahrene Tier hatte die Nase in einen Schlammloch vergraben, um eine schmerzende Abschürfung auf seiner Schnauze zu kühlen. Als er den Eber witterte, war es zu spät, irgendetwas zu tun... außer zu sterben. Herrscher schlitzte den Wolfswelpen von der Brust bis zum Unterleib auf und zerfleischte die hervorquellenden Eingeweide. Der letzte Atemzug des Welpen war ein einziger Schrei.


Herrscher stand über dem toten Welpen. Sein aufgerissenes Ohr pochte. Er nahm das Ohr des Welpen ins Maul und kaute darauf herum, bis es blutete. Rache schmeckte gut. Dies war zwar kein Hund, aber es war dicht genug dran.



*****



Als Legolas die Halle verließ, hatte er einen Plan. Nachdem er die Wachen angewiesen hatte, nach ihren Gästen Ausschau zu halten, würde er noch etwas mehr auf dem Pferderücken üben. Und er würde sich den Rat des Bogenmeisters zu Herzen nehmen... ein wenig vor der Zeit. Er würde ein lebhafteres Pferd reiten. Genauer gesagt – er würde Fëanor (Feuriger Geist) reiten, das Pferd seines Vaters.


Ohne auch nur einen Gedanken an Heimlichkeit zu verschwenden, führte er Fëanor aus dem Stall, durch den Fluss und über die Lichtung. Mehrere Elben winkten und riefen ihm etwas zu, aber er ging weiter. Er wollte Fëanor an seine Gegenwart gewöhnen, bevor er aufstieg. Als Legolas erst einmal oben saß, war es ein hartes Stück Arbeit für ihn, sein Reittier im Schritt zu halten. Thranduil war über sechs Fuß groß und hatte sein Schlachtroß nach Stärke, Größe und Lebhaftigkeit ausgesucht. Legolas dagegen war für einen Zwölfjährigen recht klein geraten. Da Fëanor bei jeder Gelegenheit in Trab fiel, dauerte es nicht lange, bis er auf den Kadaver des aufgeschlitzten Wolfswelpen stieß.


Er erinnerte sich an die Weidmannskunst und stieg ein gutes Stück entfernt ab, um die Fährte nicht zu zerstören. Als er etwa auf halbem Weg zwischen dem toten Welpen und Fëanor war, sah er die Spuren und die Verletzungen. Dann wusste er Bescheid. Das Wildschwein.


In diesem Moment hörte er ein Rascheln im nahen Gehölz. Er stand vollig still.



*****



Herrscher war da. Und er war hocherfreut, denn abgesehen von dem Pferd war Legolas allein. Wildschweine können natürlich nicht zählen, aber Herrscher kannte die „Sechser-Regel“ ebenso gut wie Jägerin. Er konnte leicht den Unterschied spüren zwischen sechs Jägern, die ihn überwältigen konnten und fünfen, die es nicht konnten. An diesem Abend wusste er, dass da das Pferd war, und nur noch einer mehr. Kein Mensch, nein... aber es war dicht genug dran.


Legolas bewegte nur die Augen und schätzte den Abstand zu Fëanor. Er nahm an, dass der Eber genauso weit von Fëanor entfernt war wie er selbst, aber auf der anderen Seite. Er hatte seinen Bogen und die Pfeile, aber er wiegte sich nicht in dem Glauben, dass sie ihn vor einem angreifenden Wildschwein schützen würden. Seine einzige Chance war, vor dem Angriff Fëanor zu erreichen und dann zu reiten wie der Wind. Er war ziemlich sicher, dass das große Pferd schneller laufen konnte als der Eber... oder dass es wenigstens imstande war, zu überleben. Wenigstens hoffte er das.


Feänor fing bereits an, ein wenig herumzutänzeln, als ihm der Geruch nach Wildschwein und Blut in die Nüstern stieg.


Legolas tat einen tiefen, aber sehr leisen Atemzug. Dann machte er seine Bewegung, einen plötzlichen Satz in Richtung der Steigbügel. Er sprang wie eine Katze auf den Pferderücken und schrie: „Noro lim!“ Und Fëanor galoppierte wie verrückt.


Herrscher war ihm dicht auf den Fersen. Sie flohen den Pfad hinunter; Fëanor konnte nicht entkommen, und Herrscher konnte sie nicht einholen. Legolas befand sich in einem Rausch der Angst. Er wusste, dass eine einzige falsche Bewegung oder der Verlust des Gleichgewichts ihn direkt dem Eber in den Weg schleudern würde. Er vergrub sein Gesicht in Fëanors Mähne und wich den peitschenden Zweigen aus. Der Wind fegte durch sein Haar, während sie durch den Wald brachen, und – er genoss das doch nicht etwa? Er ließ Fëanor laufen, wo er wollte, denn er wusste, dass er der Sicherheit seiner Ställe zustrebte. Aber in all seiner Panik, seiner Erregung und Unerfahrenheit vergaß er, dass zwischen dem Wald und den Stallungen die Lichtung lag, und die Lichtung war voller Elben. Sie hielten genau darauf zu.



*****



„Haldir, komm doch bitte zu uns in den Familienraum.“ sagte Thranduil. „Wir wollen auf dem Balkon einen Becher Wein trinken.“ Elwen goss ein und Thranduil bediente zuerst seinen Gast, dann Elsila, Elwen und sich selbat. Die Nachtluft wehte durch die offenen Balkontüren und brachte den Gesang derer mit sich, die sich auf der Lichtung versammelt hatten. Die vier erhoben ihre Becher zu einem schweigenden Gruß an die Sterne.


Jägerin und ihr Mann Galadel waren unterhalb von ihnen auf der Wiese. Berendil hatte den Fluss gerade auf den schlüpfrigen Steinen überquert, die als Brücke dienten – jedenfalls für Elben. Jeder andere wäre ziemlich schnell ins Wasser gerutscht. Die Sänger beendeten einen wehmütigen ann-thennath an das Sternbild des Schmetterlings (unsere Cassiopeia). Ihre Stimmen erstarben unter den Geräuschen des Stromes und der Wälder.


Auf dem Rasen sagte Jägerin: „Was ist das?“


Auf dem Balkon fragte Elwen: „Erwartest du noch mehr Reiter, Haldir?“


Jenseits des Stromes rannte Berendil dem Geräusch entgegen. „Etwas kommt hierher!“


In diesem Moment brach Fëanor in vollem Lauf aus dem entfernten Ende der Lichtung; sein Schweif flatterte hinter ihm und Legolas klammerte sich an seinen Rücken. Es sah aus, als würden sie kopfüber in Berendil hineinkrachen, aber Berendil duckte sich und Fëanor scheute halb, und halb sprang er über ihn hinweg. Berendil spürte die Hitze des großen Pferdes und hätte seine Hufe berühren können. Auf beiden Seiten spritzten die Elben auseinander, denn jetzt lag Herrscher nur noch knapp zehn Schritte zurück, und er war gekommen, um zu töten.


Ein einzelnes Mädchen stand wie eingefroren auf einem Fleck rechts von Berendil. Er langte nach dem Kind, hob es hoch und warf den kleinen Körper in Richtung Strom. Dann wandte er sich dem angreifenden Eber zu. Er konnte noch denken: O Elbereth, Dank sei dir für Deine Gnade... , während er rings um sich hier die unbeschirmten Gedanken der entsetzten Elben hören konnte: Mandos’ Hallen... Mandos’ Hallen... Die Zeit verlangsamte sich für ihn und der Eber kam näher.


Dann drehte Legolas sich um, wendete Fëanor und fing an zu schießen.


Berendil hörte das Singen des Bogens (bei diesem Geräusch dachte er stets an Gesang) und das Ssswppp! von Pfeilen. Sie zischten rings um seinen Kopf und fast durch seine Haare. Dann sah er einen eigenartigen und wundersamen Anblick: Herrscher waren rings um seinen Kopf und die Schultern irgendwie dicke, grüne Borsten gewachsen. Er griff nicht länger an. Im Sterben krachte er in Berengil hinein... aber als totes Gewicht, nicht als lebende Furie.


Dann passierten gleich mehrere Dinge: Das Mädchen kam am Flussufer auf die Beine und fing an zu weinen. Jägerin und ein paar andere rannten zu ihr, um sie zu trösten. Oben im Familienraum fiel die Königin zum ersten und einzigen Mal in ihrem langen Leben in Ohnmacht. Thranduil konnte sich kaum genügend zusammennehmen, um sie aufzufangen. Fëanor, der die ganze Angelegenheit satt hatte, schlug mächtig mit den Hinterläufen aus und kippte Legolas in den Fluss. Galadel kam zu Berengil, der unverletzt geblieben war. Wären wir dort gewesen, hätten wir zweifellos Dinge gesagt wie „Schau dir das an!“ oder „So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen!“ Nun haben Elben wenig Neigung zu solchem Geschwätz, noch haben sie es nötig, denn sie können von Natur aus Gedanken lesen. Nichtsdestoweniger sagte Galadel einen Augenblick später: „Schau dir das an!“. Und Berendil erwiderte: „So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen!“ Und dies war es, was sie sahen:


Legolas hatte, nachdem er Fëanor gewendet hatte, innerhalb von vier Sekunden fünf Schüsse losgelassen: Der erste war ein Doppelpfeilschuss gewesen. Jeder der beiden Pfeile hatte ein Auge durchbohrt und war auf der Stelle tödlich. Aber immer noch war der Eber herangekommen. Legolas hatte sich in den Steigbügeln aufgerichtet und einen einzelnen Pfeil in den Nacken des Schweines geschossen, der den Strang des Rückenmarks verletzte. Dies machte Herrscher beträchtlich langsamer. Dann hatte Legolas sich wieder in den Sattel fallen lassen, sich zur einen Seite hinuntergelehnt und einen weiteren Pfeil abgeschossen, der von vorn die Kehle durchbohrte. Endlich beugte er sich gefährlich zur anderen Seite hinunter und platzierte einen Pfeil in Herrschers Ohr.


Jemand sprang vom Balkon in die nächststehenden Bäume und schwang sich auf den Rasen hinunter. Es war Elwen. Sie rannte über die Steine im Fluss zu der Stelle hinüber, wo Legolas noch immer im Wasser saß.


„Du bist verletzt!“ sagte sie. „Du hast dir die Hand an den Felsen geschnitten – es blutet!“


Legolas hielt seine Hand in den Fluss, um sie zu säubern, bevor er aufstand. Der Schnitt war gar nichts – eine Stunde später würde er geheilt sein (Ein Stichling im Fluss trank sein Elbenblut im Wasser und lebte nach diesem Vorfall noch zehn weitere Jahre).


Elwen schlenderte zu Berendil und Galadel hinüber und warf einen Blick auf Herrscher. „Das ist der alte Fangzahn.“ stellte sie fest. „Der, der dieses Kind umgebracht hat. Ich nehme an, den werden wir wohl nicht essen.“


„Legolas, jeder einzelne dieser Schüsse wäre mir unmöglich gewesen.“ sagte Berendil.


„Mein Bruder, ein solches Schießen habe ich noch nie gesehen.“sagte Elwen. „Das ist wirklich wundervoll. Übrigens, Vater will dich in seinem Zimmer sehen. Ich glaube, er ist besorgt.“ Das war eine glatte Untertreibung des Zustandes, in dem sich Thranduil augenblicklich befand.


„Ja. Würdest du Fëanor für mich einfangen und dich um ihn kümmern? Und ihm ein paar Äpfel extra geben? Er hat mir das Leben gerettet.“


„Und du hast das meine gerettet.“ sagte Berendil.


„Nachdem ich es zuerst in Gefahr gebracht habe.“ sagte Legolas. „Ich bitte dich um Vergebung.“


Jetzt stieß Haldir zu der Gruppe; er war Elwen bei ihrem Abstieg über die Bäume gefolgt. Als er den Eber sah, schüttelte er den Kopf. „ich dachte, Berendil und du, ihr wäret auf dem Weg in Mandos’ Hallen, und das Pferd wahrscheinlich auch. Dies ist wunderbare Bogenschießkunst, vor allem vom Rücken eines solchen Ungetüms. Oh, und ich habe eine Botschaft von Thranduil. Er möchte...“


„... mich in seinem Zimmer sehen, ich weiß.“ sagte Legolas.


„Wahrscheinlich will er mich auch sehen.“ sagte Berendil mit einem Grinsen. „Also, Herr Legolas, ich werde mit dir kommen.“


„Ich habe keine Angst davor, in das Zimmer meines Vaters zu gehen.“ sagte Legolas, schüttelte sich, um die Wassertropfen loszuwerden und versuchte, ein wenig präsentabler zu wirken. „Aber deine Gesellschaft ist mir stets willkommen, Bogenmeister. Lass uns gehen.“



*****



Wären wir Sperlinge auf dem Fensterbrett, dann hätten wir Tharanduil allein in seinem Zimmer gesehen, wesentlich gefasster, als wir es unter ähnlichen Umständen gewesen wären. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Augenblick zu ihm zurückkam, als Berendil, das Kind und Legolas beinahe ums Leben gekommen wären. Die Angst nährte seinen Zorn, und er hatte damit zu kämpfen.


Als das Klopfen an der Tür erklang, sagte er: „Kommt!“ Legolas und Berendil kamen herein.


„Legolas, was hast du getan?“ sagte Thranduil.


Es ist meine Schuld, Thranduil, sagte Berendil, den Geist abgeschirmt. Ich bin derjenige, der ihm die Idee in den Kopf gesetzt hat.


Thranduil warf Berendil einen Blick zu, der so bedeutungsschwanger war wie nur irgendeine gedankliche Unterredung, und er wandte sich Legolas zu.


„Sprich, Legolas.“


„Vater, ich habe dein Pferd geritten, um mit der Waffe zu üben, weil mein eigenes Pferd zu sanftmütig ist. Ich habe nicht um Erlaubnis gebeten.“ Dann berichtete er, wie er den toten Wolfswelpen gefunden hatte, und von der Verfolgung durch den wilden Eber. „Ich habe Fëanor seinen Willen gelassen, und er lief wie der Wind. Ich habe nicht an die Gefahr auf der Lichtung gedacht, bis wir dort waren.“


„Du hättest Fëanor niemals meistern können, ob du die Gefahr rechtzeitig erkannt hättest oder nicht. Du bist mir wie eine Distel vorgekommen auf diesem Pferd. Drei Tode habe ich heute Abend nahen sehen – deinen, den von Berendil und den des Kindes. Deine Mutter wird vielleicht nie wieder die selbe sein. Was soll Haldir von uns halten, wenn unser Prinz eine solche Missachtung zeigt?“


„Thranduil,“ sagte Berendil, „Legolas hat mein Leben gerettet, sein eigenes und das des Kindes. Niemand ist tot oder auch nur verletzt. Wenn er auf Goldens Rücken gesessen hätte, als er das Wildschwein fand, wäre er nicht entkommen. Und nie habe ich eine solche Schießkunst gesehen. Er hat mich überholt.“


„Unsinn. Er ist ein Kind. Er kommt nie und nimmer an deine Erfahrung und dein sicheres Urteil heran, wie du hoffentlich bemerkt hast.“


„Was die Erfahrung und das Urteil angeht, bin ich der Meister. Wenn es darum geht, einen Pfeil dorthin zu schicken, wo er ihn haben will... da hat Legolas mich überholt, und er wird nur noch besser werden. Du solltest ihm besser den Umgang mit noch einer andern Waffe beibringen. Eines Tages wird er ein Krieger sein, und dann wird er neben seinem Bogen auch eine Klinge brauchen.“


Ich stimme dir zu, mein Freund. sagten Thranduils beschirmte Gedanken. Ich werde ihn bald zu Klingensängerin in die Waffenmeisterei schicken.


Laut (und höchst erzürnt) sagte Thranduil: „Lass uns allein, Bogenmeister.“ Berendil verneigte sich und ging hinaus.


„Legolas, du bist fehlgegangen und hast uns in große Bedrängnis gebracht. Ich könnte dich dafür prügeln lassen, dass du auf diese Art deinen Hals riskiert hat, mein Sohn.“


Legolas verneigte sich. „Zu deinen Diensten, mein Herr Vater. Aber nur von deinen Händen allein will ich das ertragen; jeder andere sollte sich davor hüten.“


Berendil belauschte diesen Wortwechsel von außerhalb des Zimmers, wo er schamlos herumtrödelte.


Ausgezeichnete Antwort, Thranduil. Ich glaube, Jung-Legolas wird erwachsen.


„Oh, raus mit dir!“ sagte Thranduil. „Berendil wird sich eine Strafe für dich ausdenken. Halt dich fern von meinem Pferd und gib in Zukunft besser auf dich acht.“


Legolas verneigte sich noch einmal. „Ich liebe dich auch, Vater.“


Thranduil beobachtete, wie er hinausging. Eines Tages wird Legolas’ Tapferkeit einem hohen Ziel sehr dienlich sein. dachte er.



ENDE



*Chathol-linn heißt auf Sindarin „Klingensängerin“
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