„Ich denke, sie sieht aus wie ein Pferd”, sagte Éomer, der nachdenklich auf Stroh herumkaute.
Éowyn schürzte die Lippen und zog ihrem Bruder den Strohhalm aus dem Mund. „Alles, worüber du jemals nachdenkst, sind Pferde! Eines Tages wirst du dich noch selbst in ein Pferd verwandeln.”
„Wäre gar nicht mal so schlecht...“, sinnierte Éomer. Nach dem Mittagessen fühlte er sich angenehm träge, und die Sonne wärmte sein Gesicht. Während sie im hohen Gras am Fuße des Hügels von Edoras lagen, spürten sie den Wind überhaupt nicht, und im Augenblick schien es, als würde der Winter noch ein Weilchen länger auf sich warten lassen. Ein wunderbarer Tag für einen Galopp.
Éowyn ließ sich dicht neben ihrem Bruder auf den Rücken fallen und schaute zu der Wolke auf, die er der Ähnlichkeit mit einem Pferd beschuldigt hatte. Sie konzentrierte sich mit der ganze Frühreife ihrer acht Jahre auf diese Aufgabe, aber sie konnte in den wogenden weißen Formen nicht ein einziges Pferd entdecken. „Ich sehe einen Vogel, mit großen Schwingen, vielleicht eine Krähe“, sagte sie überzeugt. „Und ein Schwert, und eine Schlange – siehst du die wirbelnde Wolke da? Die Schlange treibt über der Krähe.“
Éomer kratzte sich am Kopf. „Ich sehe bloß ein Pferd.“
Éowyn seufzte und verdrehte den Hals, um die dünne Gestalt anzuschauen, die nicht weit von dort, wo sie lagen, mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt saß... auf der Seite, wo unter der frühen Nachmittagssonne noch der letzte Rest Schatten übrig blieb. „Gríma, was denkst du?“
Der Junge, um ein Drittel kleiner als ihr Bruder, obwohl er mit vierzehn älter war, blickte bei ihrer drängelnden Frage auf. Sein Hals war weiß und dünn, aber die Linie seines Kinns hatte eine schöne, stolze Form, die jetzt, da sie daran gewöhnt war, Formen zu erkennen, ihren Blick anzog – um unterschiedliche, wandernde Bilder in dieser gebogenen Linie zu suchen und in den huschenden Schatten auf seinem Hals. Ein anderes Licht, dachte sie, und man könnte dort eine Hand sehen... oder das Heft von einem Schwert. Ihr war gar nicht bewusst, dass ihre Gedanken sich ebenso oft den Schwertern zuwandten wie die ihres Bruders den Pferden.
„Ich sehe einen Turm“, sagte Gríma endlich langsam. „Und ich sehe einen Garten. Der Garten ist sich selbst überlassen worden, und Wildblumen haben ihn überwuchert, und jetzt welken sie unter dem kalten Wind, der aus dem Osten bläst. Eine Lawine hängt über dem Garten...“ Er hob eine Hand und zeigte zum Himmel; allerdings konnte keines der königlichen Geschwister aus seinem Blickwinkel in der Weite des Himmel erkennen, worauf er zeigte. „Der Schnee wird den Garten unter sich begraben, aber die Spitze des Turmes wird immer noch darüber hinausragen.“
„Und an der Spitze des Turmes ist eine Maid“, entschied Éowyn begeistert. „Und ein Held wird kommen, um sie zu retten... er reitet auf dem Rücken eines edlen, riesigen Raben und sie werden gemeinsam durch den Himmel fliegen!“
Éomer lachte. „Ihr seid beide albern. Es ist ein Pferd. Und fliegen Helden nicht sonst immer auf Adlern?“
„Also, ich mag Grímas Version mehr“, sagte Éowyn hochnäsig; sie setzte sich auf und begriff endlich, dass die Rückseite ihres feinen, lavendelfarbenen Mieders vermutlich mit Erdkrümeln und Grashalmen übersät war. „Und ich mag Raben lieber als Adler.“
Noch ein Weilchen, und es war Zeit für den Unterricht. Die staubige Bibliothek zog sie nicht gerade an, ebenso wenig wie das Versprechen der Gegenwart ihres Lehrers mit dem steinernen Gesicht... nicht, wenn die Sonne schien und die warmen Tage noch immer andauerten. Sie schloss die Augen und roch das Gras und die Luft. Sie spürte Éomers Flanke an ihrem Schenkel, und obwohl Gríma sie nicht berührte, fühlte sie seinen Blick im Nacken, der sich irgendwo zwischen ihren geflochtenen Locken verlor. Sie lächelte, und die Anspannung fing langsam an zu weichen. Für diesmal waren sie wohl verborgen; nur sie drei, wie Karten in einem Stapel, bevor jemand sie umdrehte.
Sie sank wieder auf den Boden zurück und beobachtete die Lawine, die über dem Garten dräute... und den Raben, der sich bereit machte zum Flug.
ENDE
*"Mistigris" ist eine Poker-Variante, bei der ein Joker eingesetzt wird.