„Deshalb sagten die Wissenskundigen der Menschen, dass es noch immer einen geraden Weg geben müsse, für die, denen es gestattet sei, ihn zu finden.“
(Das Silmarillion)
Er spürte kühlen Wind auf seinem Gesicht und nahm einen tiefen Zug frischer, salziger Meeresluft. Dicht an seinem Ohr murmelte eine geliebte, vertraute Stimme: „Komm, Frodo, mein Junge, es ist Zeit zum Aufwachen.“
Frodo öffnete die Augen und entdeckte, dass er in warme Decken gehüllt war und auf einem der großen, weichen Polster lag, die man entlang des weißen Schiffsdecks ausgebreitet hatte. Er streckte sich und setzte sich auf, ein wenig orientierungslos. Gandalf saß auf einer Seite neben ihm und Bilbo auf der anderen. Nicht wenige Elben standen in der Nähe, und als sie mit Erleichterung feststellten, dass der Ringträger sich erholt hatte, nickten sie und lächelten Frodo zu, dann entfernten sie sich.
„Guten Morgen, Frodo. Ich sehe, du fühlst dich besser.“ sagte Gandalf.
„Ja.“ Frodo gähnte. „Ich hatte den allerschönsten Traum – vom Auenland. Oder – es fühlte sich eher so an wie das Auenland, nur wunderbarer. Alles war so grün und frisch, und da war überall Licht, und die Luft roch nach Blumen... sogar die Blumen haben geleuchtet.“ Er seufzte. „Da waren Wasserfälle, höher als die in Bruchtal, so schön, und das Wasser schien zu singen...“
„Das ist kaum das Auenland, an das ich mich erinnere,“ gluckste Bilbo.
„Du hast Recht, Bilbo,“ sagte Gandalf gedankenvoll. „Er beschreibt die Westseite von Tol Eressëa.“
„Tue ich das?“ fragte Frodo überrascht. Er schaute hinaus auf das sonnenbeschienene Meer, noch immer rosig von der Morgenröte, und lächelte. „Es muss ein wirklich schöner Ort sein.“
„Das ist es wirklich.“
„Ich nehme an, ich werde sehr wenig Zeit haben, es zu genießen,“ seufzte Bilbo, „aber ich habe schon länger gelebt als jeder andere Hobbit, und kein Tag davon tut mir Leid.“
„Du magst es länger genießen, als du denkst,“ sagte Galadriel, als sie zu ihnen herüberkam. Sie ließ sich anmutig neben Bilbo nieder, und verschiedene Elben stellten Schalen mit Obst und frischem Brot vor sie hin.
„Wie fühlst du dich, Frodo?“
„Danke, Herrin, es geht mir gut,“ Frodo blickte sie mit einem dankbaren Lächeln an. „Da war Schmerz, und Kälte, und bittere Erinnerungen, aber dann... ich glaube, Ihr habt gesungen, und die Dunkelheit hob sich, und ich erinnere mich nur noch an wunderbare Träume.“
„Wir hoffen, dass du eine solche Krankheit nicht mehr kennen wirst.“ Galadriels goldenes Haar glitzerte im Sonnenlicht, als wäre es mit Edelsteinen besetzt.
„Das ist auch meine Hoffnung,“ sagte Frodo.
„Was hab Ihr damit gemeint, als Ihr sagtet, dass ich die Insel vielleicht länger genießen werde als ich denke?“ fragte Bilbo sie.
„Es hat damit zu tun, wie der Fluss der Zeit wahrgenommen wird,“ erklärte Galadriel, „ich glaube, dass du das am stärksten in Lórien empfunden hast, Frodo... erinnerst du dich, das Wochen verstrichen und dir vorkamen wie Tage?“
„Ja,“ sagte Frodo zustimmen und suchte sich einen süßen Apfel aus. „Wir alle haben es bemerkt.“
„Ich denke, dass du diese Erfahrung im Segensreich noch stärker machen wirst,“ fuhr Galadriel fort, „denn was ich dem Goldenen Wald durch Nenya verleihen konnte, ist nicht mehr als ein Echo von Eldamar. Im Westen vergeht die Zeit tatsächlich, aber sachte und zum größten Teil unbemerkt. Unsterblichkeit ist keine der Gaben, die wir den Zweitgeborenen spenden dürfen, aber ich vermute, dass du länger in Frieden und Freude unter uns leben wirst, als du dachtest.“
„Das möchte ich hoffen,“ gluckste Bilbo. „So eine schöne Insel, mit so einer langen Geschichte muss von einem Ende zum anderen von zwei abenteuerlustigen Hobbits erforscht werden, meinst du nicht auch, mein Junge?“
Frodo lächelte und legte einen Arm um Bilbo. Er bezweifelte allerdings, dass irgendein Reich, wie gesegnet auch immer, seinem geliebten Onkel Jugend und Lebenskraft zurückgeben würde – aber wie viel Zeit sie auch zusammen haben mochten, sie würden sie haben.
„Ich ziehe mit dir auf Abenteuer aus, Bilbo,“ murmelte er, „so lange du möchtest.“ Ein plötzlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Herrin, wenn sich Sam irgendwann dazu entschließen sollte zu segeln...“
„... dann wirst du mit Sicherheit da sein, um ihn zu begrüßen,“ erwiderte Galadriel, die seine unausgesprochene Frage begriff. Sie lächelte. „Sollte Sam eines Tages in seinem Herzen das Lied seiner neuen Heimat erkennen, dann wirst du ihn wiedersehen.“
„Ich bin froh.“ sagte Frodo leise.
*****
Vielleicht eine Woche nach seiner Erkrankung wurde Frodo von Gildor geweckt, der neben seinem Bett kniete. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen.
„Stimmt irgend etwas nicht?“ fragte Frodo und setzte sich auf. Er dachte, dass der Elb nervös aussah, oder so wie jemand, der eine große Erregung im Zaum hielt.
„Es tut mir Leid, dass ich dich wecken muss,“ sagte Gildor. „Du musst zu uns an Deck kommen, Frodo. Gandalf hat auch Bilbo schon geweckt.“
Frodo stand auf und warf sich rasch ein paar Kleidungsstücke über, dann ging er Gildor auf der Wendeltreppe voraus. Das Mithril und die Edelsteine, mit denen das Schiff geschmückt war, glitzerten im Sternenlicht so stark, dass er kein anderes Licht brauchte, um seinen Weg zu finden. Als er auf dem geräumigen Deck ankam, sah Frodo, dass es voller Leute war; fast jedermann an Bord waren scheinbar schon da – stehend, sitzend, oder leise singend – und alle schienen auf etwas zu warten.
Gildor führte Frodo durch die Menge dorthin, wo Elrond und Gandalf saßen. Gandalf hielt einen sehr schläfrigen Bilbo halb und halb auf dem Schoß, und Elrond bedeutete Frodo, sich zwischen ihn und den Zauberer zu setzen. Gildor ließ sich in ihrer Nähe nieder und senkte den Kopf.
„Was geschieht hier?“ flüsterte Frodo. Er konnte sehen, dass Galadriel alleine am Bug stand. Ihr Haar flatterte hinter ihr im Wind, und sie schaute nach Westen.
„Du bist gerade rechtzeitig gekommen,“ erwiderte Elrond. Er nahm eine von Frodos Händen in seine große; ein Finger ruhte unauffällig dort, wo der Puls des Hobbits schlug. Er lächelte auf Frodo hinunter.
„Spürst du es, Frodo? Schließ deine Augen...“
Frodo tat es, aber er spürte nichts anders als die allgegenwärtige Bewegung des Schiffes und den Wind in seinen Haaren. Er wollte die Augen gerade wieder öffnen, als Galadriels reine Stimme sich zu einem klaren, freudigen Gesang erhob, und plötzlich wurde er von einem Schwindelgefühl überwältigt. Für einen Moment hatte er Mühe zu atmen, und er spürte, wie Elronds Arme sich um ihn legten.
„Atme, Frodo,“ murmelte Elrond, „atme... entspann dich... hör einfach zu...“
Frodo klammerte sich an den Elbenherrn; er lauschte und fing an... etwas... zu fühlen... von direkt vor ihm, aus dem Westen... Es rauschte auf ihn zu und durch ihn hindurch, in einer Kaskade aus Licht, Musik und Wärme. Es war freudiger Friede, und Zustimmung, und ein Chor willkommenheißender Stimmen. Er fühlte sich sicher, und geliebt, und plötzlich so glücklich, das er sich fragte, ob er wohl jeden Moment vor Freude platzen würde.
Er bemerkte nicht, dass er weinte, bis er die sanfte Hand des Elbenherrn auf seinem Gesicht spürte.
„Ah,“ flüsterte Elrond dem Hobbit zu. „Es ist lange her, dass du dich so gefühlt hast, nicht wahr?“
„Nicht seit...“ Frodo hielt die Augen fest geschlossen; er konnte kaum sprechen. „Nicht seit ich ein Kind war, Herr Elrond – ein sehr, sehr kleines Kind – bevor ich irgend etwas wusste von Furcht, Trauer oder Leere.“
„Das gibt es nicht länger, nicht für dich,“ sagte der Elbenherr, und er und Gandalf wechselten einen erleichterten Blick. Welche Hilfe die Sterblichen auch immer nötig hatten, um in den Westen zu gehen, sie war nicht länger erforderlich. Der Gerade Weg war geöffnet worden.
„Ich will nicht, dass dies endet,“ murmelte Frodo.
„Das wird es nicht,“ versicherte Elrond. „Versteh dies, Frodo – du bist mit dem Ring aus dem Auenland geflohen, aus Liebe zu deinem Land und seinen Leuten, aber als du zurückgekehrt bist, hat es deine Hingabe nicht erwidert; es hat dich weder geschätzt noch geehrt, noch an sein Herz gedrückt. Wenn es das getan hätte, wärst du wohl nicht gesegelt, nehme ich an.“
„Nein,“ flüsterte Frodo und öffnete endlich wieder die Augen, „vielleicht nicht.“
„Und so hast du den Mut gefunden, das Auenland zum zweiten Mal zu verlassen,“ fuhr Elrond fort, „auf der Suche nach Heilung und Frieden – auf der Suche nach deiner wahren Heimat – jenem Platz und jener Kraft, die dich willkommen heißt und erkennt.“
Mit einemmal ließ der Wind nach; das einzige Geräusch war jetzt der leise, freudige Gesang der Elben, die sich um sie scharten.
Frodo wischte sich das Gesicht und sah sich um. „Was ist los?“
„In diesem Moment,“ sagte Elrond leise, „unter diesem Schiff, an genau dieser Stelle lassen wir die gekrümmte See hinter uns und setzen unsere Reise auf dem Geraden Weg fort, nach Aman.“
„Wir lassen das Meer hinter uns? Davon habt Ihr nie etwas gesagt,“ meine Frodo.
„Um die Wahrheit zu sagen, wir wussten nicht, was passieren würde, wenn wir diesen Punkt erreichen,“ sagte Gandalf.
„Du meinst, was passieren würde.... mit Bilbo und mir?“
„Ja... und mit anderen Sterblichen, die noch nach Westen reisen werden.“
„Bilbo, fühlst du dich wohl?“
„Wie ein Fisch im Wasser, mein Junge,“ Bilbo ruhte in Gandalfs Armen; er sah friedevoll und glücklich aus. „Wie ein Fisch im Wasser.“
Frodo blickte sich um. Ohne den Wind und durch das plötzliche Nachlassen der Schiffsbewegungen schien es, als würden sie still stehen. Ein feiner Nebel umgab das Schiff, und er konnte weder die Sterne noch die Sonne sehen.
„Gandalf, sind wir noch auf dem Meer?“ Frodo sah, dass verschiedene Elben in der Nähe den Zauberer anschauten, als würden sie sich dasselbe fragen.
„In gewisser Weise,“ antwortete der Zauberer, „aber nicht auf dem Meer, wie du es gekannt hast. Meine lieben Freunde...“ der Zauberer sprach zu Frodo und zu Bilbo, und zu allen, die zuhörten, „... Ihr habt Mittelerde verlassen.“
„Ich fühle es,“ flüsterte Frodo ehrfürchtig, „ich tu’s. Es ist wie etwas, das Sam einmal gesagt hat... darüber, in einem Lied zu sein. Und ich...“ Wieder schloss er die Augen. „Ich kenne dieses Lied.“ Er zog den Edelstein an der Kette um seinen Hals hervor und hielt ihn fest; die andere Hand streckte er Bilbo entgegen, der sie sanft mit den Fingern umschloss.
„Und es kennt dich.“ murmelte Elrond.