Arda Fanfiction

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Lothos letzter Tag

von Rubynye

Kapitel #1

Hätte er, als er am Morgen aufwachte, gewusst, dass dieser Tag sein letzter sein würde, er hätte diese Neuigkeit vielleicht willkommen geheißen.

Lotho erwachte im Sonnenlicht; das Mädchen atmete leise. Früher hatten morgens Vögel gesungen, aber die Eiche, die Beutelsend gekrönt hatte, war vor ein paar Wochen niedergehauen worden, als Scharker ankam. Nun regte sich vor seinem Fenster nichts außer einer Brise, und in Beutelsend regte sich bis jetzt auch nichts; in einem entfernten Gästezimmer schnarchte Scharker, und neben Lotho lag das Mädchen zusammengerollt auf der Seite, den Rücken ihm zugewandt, ihre braunen Locken füllig und leuchtend in der Sonne. Der Anblick rief ihm das älteste Gamdschie-Mädchen ins Gedächtnis... wie ihr Haar genauso im Sonnenschein geglänzt hatte, als sie eilends vor ihm davonrannte; aber sie war lange verheiratet und fort... das waren sie alle, bis auf den karottenköpfigen Jüngsten und den gichtbrüchigen alten Ohm. Wenn Lotho Beutelsend damals schon besessen hätte – wie es hätte sein sollen – dann hätte er sie behalten, und ihre Schwester und diesen Gärtnerjungen, den Brandybock-Liebling; er hätte Beutelsend schon vor Jahren haben müssen, und die Dienste der Gamdschies mit dazu.

Während er an all dies dachte (und daran, worum er betrogen worden war) grollte Lotho und trat nach dem Mädchen, das mit einem Schrei erwachte, aus dem Bett sprang und dabei gleich zu flennen anfing. Wieder grollte er vor Abscheu, schaute in ihr bleiches Gesicht mit den nassen Augen und knurrte: „Oh, mach, dass du raus kommst!“; sie schnappte sich ihren Rock und huschte davon.

Lotho fiel in die Kissen zurück und einen Moment später wünschte er, er könnte sich selbst einen Tritt versetzen, weil er das Mädel weggeschickt hatte. Sie war eine gute Köchin gewesen, mit einem warmen Busen, und jetzt würde er eine teuflisch harte Zeit darauf verwenden müssen, sie zu finden (wo immer sie sich auch versteckte), wenn er jemals wieder einen von diesen widerborstigen Großen Leuten dazu bringen konnte, seinem Gebot zu gehorchen. Öfter und öfter lachten sie über seine Befehle, taten was sie wollten, hörten auf niemanden.

Auf niemanden außer Scharker mit seiner Seidenzunge.

Lotho schauderte bei diesem Gedanken, presste die Handballen gegen sein Gesicht und stand auf.

Lotho trat in den Korridor; er roch Staub und alten Abfall, und er nieste und schnaubte. Beutelsend war ein Saustall; es war keine anständige Putzfrau mehr zu bekommen, nachdem die meisten der faulen Einwohner von Hobbingen nicht gewillt waren, für ihn zu arbeiten, trotz seines Goldes. Sein letztes Mädchen hatte nur in der Hoffnung hier Dienst getan, ihre Eltern und ihre Brüder in den Riegellöchern mit Essen zu versorgen; dieser Gedanke ließ Lotho ein wenig lächeln. Er fragte sich, ob sie vielleicht zurückkommen würde, wenn sie an ihre Familie dachte... und er könnte sie auf Knien betteln lassen, um ihre Stellung wiederzubekommen...

„Au!“ Lotho machte einen Satz, als sein Fuß schmerzte; auf seinem Weg hatte er sich den Zeh an einem zerbrochenen Stuhl gestoßen. Er stand in dem kleinen Wohnzimmer; wie fast alle Räume war es vollgestopft und überfüllt mit Dingen, die zur Wiederverteilung hierher gebracht worden waren. Unter dem Stuhl, der auf ihn losgegangen war, lagen Kekse aus einer Blechbüchse verstreut, und während er hinschaute, krabbelten Mäuse darüber hin, behaglich knabbernd; sie mästeten sich an den Mühen von Hobbits.

An seinen Mühen! „He!“ schrie Lotho empört und holte mit seinem Fuß zum Tritt nach den Mäusen aus, die sich aus dem Staub machten. Er beugte sich hinunter, um die Kekse wieder in die Blechbüchse zu schaufeln, als ein tiefes, polterndes Gelächter ihn aufhielt.

„Sicherlich kann die entzückende Butterblume dir doch ein besseres Frühstück machen als das da?“ sagte Scharker, der im Türrahmen stand.

Lotho fühlte die Kälte aufwärts und abwärts auf seinem Rückgrat, aber er stand langsam auf und staubte sich die Hände ab. „Sie ist weg, und der Smial ist in Unordnung... dieses faule Weibsstück. Ich werde im Laufe des Tages ein besseres Mädchen holen, damit es hier arbeiten kann.“

„In der Tat.“ erwiderte Scharker, und dann war er weg. Lotho schauderte, dann straffte er den Rücken und ging sich ein Bad herrichten.

Wenigstens hatte er am Abend zuvor daran gedacht, das Mädchen die Feuerstellen vorbereiten und Wasser heißmachen zu lassen; von einem warmen Bad wurde immer alles besser, und nebenbei ließ es einen noch wie einen Edelhobbit riechen. Das war, was seine Mutter immer gesagt hatte.

Lotho dachte an seine Mutter und presste die Handballen gegen seine stechenden Augen. Er vermisste sie. Sie lächelte ihn an. Sie war seit Neujahr der einzige Hobbit gewesen, der ihn anlächelte; die regierungstreuen Büttel, deren Grimassen ihre Augen nicht erreichten, konnte man kaum mitzählen. Seine Mutter hatte ihn mit Stolz angesehen und ihm gesagt, er solle die Bürde auf sich nehmen... dass das Auenland eine gute, feste Hand brauchte, nicht die plumpe Laschheit von Weißfuß oder die träumerische Schwäche von diesem Brandybock. Und doch war selbst sie irgendwann mit ihm über die Arbeit in Streit geraten und musste sich ein bisschen in den Riegellöchern beruhigen. Lotho vermisste sie, aber Scharker hatte gesagt, es würde sie nur aufregen, wenn er hinginge, um sie zu sehen; er war sicher, sie würde bald wieder zurück sein, angemessen respektvoll gegenüber Scharkers Befehlen... und sie würde Lotho noch einmal anlächeln.

Er war sich dessen sicher.

Lotho kletterte aus der Badewanne und schleppte sich zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen.

*****

Die rote Seidenweste sorgte immer dafür, dass er sich besser fühlte, und sie passte zu seinem Stand. Er steckte eine Handvoll Federn an seine Kappe und setzte sie schräg auf, nur ein wenig... und der Hobbit, der aus dem Spiegel zurückschaute, sah aus wie ein Edelhobbit und ein geborener Führer, auch wenn sein Gesicht ein bisschen fleckig war. Lotho rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht; davon platzte ein Pickel auf seiner Wange auf. Er fluchte und betupfte ihn mit einem Taschentuch, aber das war bald genug in Ordnung gebracht und er war bereit fürs Frühstück.

Was immer er auch zum Frühstück finden mochte jedenfalls. Er hätte das Mädchen über Nacht einen Haferbrei neben der Feuerstelle aufsetzen lassen sollen, überlegte er, während er geräuschvoll an einem Apfel herumkaute und etwas Käse und eine Gabel fand, auf der er ihn rösten konnte. Milch wäre auch ganz gut. Welche von den örtlichen Bauern hatten in letzter Zeit ihren Anteil noch nicht abgegeben?

Scharker betrat die Küche, vermied sorgfältig, in einen Abfallhaufen zu treten und unterbrach Lothos Gedanken. „Guten Morgen, Lotho.“ sagte er und nahm sich einen Apfel.

Lotho schnaubte; er konnte nicht sehen, was daran gut sein sollte und aß weiter. Plötzlich schmeckte alles bitter, als sei der Apfel in Alaun getaucht worden. Er würgte und spuckte den Mund voll aus, dann hustete er und warf den Rest des Apfels ins Feuer. „Verdammter, verfaulter...“

Scharker lachte. „Vielleicht hättest du bis nach dem Frühstück damit warten sollen, Butterblume hinauszuwerfen, Lotho.“

Lotho schaute zu ihm hoch, und er spürte ein solch kaltes Frösteln der Furcht, dass er sich selbst bei einem unwillkürlichen Schritt rückwärts ertappte, bevor er wieder imstande war, sich zu behaupten. „Ich glaube, ich gehe aus und stelle eine neue Haushälterin an.“ verkündete er und floh aus dem Zimmer, verfolgt von Scharkers Gelächter.

*****

Lotho hatte vorgehabt, Beutelsend zu verlassen, durch Hobbingen zu reiten und zu schauen, wie die Arbeit voranging, und er hatte auch sehen wollen, ob er irgendwelche passenden Kandidaten für die Stelle als Haushälterin entdecken konnte... obwohl Zwanziger und junge Erwachsene in letzter Zeit scheinbar lieber daheim blieben, vor allem die, die er bevorzugte. Wie auch immer, als er in die vordere Halle kam, lümmelte Gríma die Schlange auf einer Bank neben der Tür und bohrte sich mit einem Dolch zwischen den Zähnen herum. „Hallo, Pickel.“ sagte er gedehnt. Lotho ballte die Fäuste.

„Ich bin der Oberst der Büttel. Und ich wäre dir dankbar, wenn du mich so anreden würdest.“

„Schon recht, Oberst.“ grinste Gríma und Lotho wollte ihn so schrecklich dringend schlagen, ihn aus Beutelsend hinauswerfen... und er wusste, er wagte es nicht; der Gedanke ließ seine verräterischen Augen heftig stechen.

Doch gerade, als Lotho zu seinem Entsetzen befürchtete, weinen zu müssen, rief Scharkers herrische Stimme aus den Tiefen von Beutelsend: „Schlange!“; Grímas Grinsen brach zusammen und wurde zu Furcht, und Lotho stand aufrechter und grinste nun selbst. Gríma huschte mit glitzernden Augen an Lotho vorbei und Lotho erwiderte seinen Blick, immer noch grinsend.

Und dennoch stellte Lotho fest, dass er zitterte, während er im Korridor stand, so heftig, als hätte ihn ein Fieber gepackt; ihm drehte sich der Magen um, als wollte er seinen mageren Inhalt von sich geben. Auf schwachen Beinen wankte Lotho zurück ins Bett.

Draußen hauten ein paar Menschen irgend etwas zusammen, wahrscheinlich einen weiteren Schuppen; kurze Augenblicke der Arbeit wechselten mit weit längeren Augenblicken, während derer sie grobe Witze rissen. Einmal wurden die Witze lauter und noch gröber, begleitet von ein paar weiblichen Schreien und gefolgt vom Geräusch weglaufender Hobbits, während die Menschen lachten. Lotho zog sich ein Kissen über den Kopf, drehte sich auf die Seite, rollte sich zusammen und dachte an Vogelgesang.

Es war bald Mittag. Scharker öffnete die Tür und lud die Menschen ein, „sich zu erfrischen“, wie er das nannte; sie lärmten in Küche und Keller herum, wo sie zweifellos über das Bierfass herfielen. Lotho lag im Bett und fragte sich, warum er nicht aufstand, um zu verlangen, dass Ruhe einkehrte... verlangte, dass sie sein Heim verließen... verlangte, dass sie das Auenland verließen. Nur, dass er, wenn sie fort gingen, all seine Macht verlieren würde.

Das bisschen Macht, das er hatte.

Lotho schob diesen Gedanken beiseite. War er nicht der reichste Hobbit im Auenland, und der Oberst der Büttel? Er hatte nur einen Anfall von Schwermut, hervorgerufen durch Erschöpfung, durch all die Mühe, die er zum Wohle seiner faulen, undankbaren Mithobbits auf sich nahm. Er würde im Bett bleiben und am nächsten Morgen erfrischt aufstehen, bereit, den ganzen Tag zu arbeiten, um das Auenland besser zu machen. Er würde eine neue Haushälterin finden... er dachte darüber nach, träumte von Sonnenlicht auf lockigem Haar und einem lächelnden, kräftigen Hobbit, der ihn „Herr“ nannte.

Lotho schloss die Augen.

Er stolperte im Nebel herum, über scharfkantige, feuchte Felsen. Ihm war kalt, und ihm schauderte. Ein Gesicht tauchte in der Dunkelheit auf, mit blauen Augen und gerunzelter Stirn. „Was hast du mit meinem Smial gemacht?“ fragte ihn Frodo. „Was hast du meinem Zuhause angetan?“

„Es ist mein Zuhause!“ schrie Lotho. „Es gehört mir!“

Frodo schüttelte den Kopf; ein hoch gewachsener, geschmeidiger Elb erschien an seiner Stelle, das lange Haar im Wind wehend, den Bogen gespannt. Der Pfeil sang, während er flog. Lotho spürte, wie die eisige Spitze traf und ihn mit ihrer Kälte aufschlitzte.

Ein zweiter Pfeil traf. Ein dritter, brennend heiß.

Lotho würgte, konnte nicht atmen, öffnete die Augen. Gríma beugte sich über ihn, einen blutigen Dolch in der Hand, und wieder stieß er ihn hinunter in Lothos Brust.

Grímas Augen glitzerten.

Lotho lächelte.


Scharrer (Original: Sharkey) wurde Saruman von seinen untergebenen Orks genannt. In der Übersetzung von Wolfgang Krege kommt diese Bezeichnung als Scharker vor. Beidem zugrunde liegt das aus dem Orkischen stammende Sharkû, was ‚Alter Mann‘ bedeutet. In der Original-Ausgabe des Herr der Ringe finden sich unterschiedliche Schreibweisen dieses Namens: sharkû im Kapitel The Scouring of the Shire, im Appendix F: Of Other Races dagegen sharku. Während dessen heißt es in der deutschen Carroux-Übersetzung im Kapitel Die Befreiung des Auenlandes wiederum scharkû.
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