Arda Fanfiction

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Samhain

von Luminella

Kapitel 1

On one mystic, magic night,
Jack O Lanterns glowing bright,
kids with bags of candy sweet,
roam door to door and street to street,
all dressed up for trick or treat!

© Patricia L. Cisco

 


 

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Historische Anmerkung

2989 Drittes Zeitalter

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Der Herbstwind war ungewöhnlich warm für Ende Oktober, doch das kam Bilbo Beutlin gerade recht. Schließlich hatte er Frodo vor nicht ganz einem Monat zu sich nach Hobbingen geholt und ihn ganz offiziell adoptiert. Das war kein großes Unterfangen gewesen, da Hobbits sich ungern mit bürokratischen Tätigkeiten herumschlugen. Im Grunde hatte Bilbo nur dafür sorgen müssen, dass Frodo als sein Erbe im Bürgerbuch aufgenommen wurde. In diesem Buch, das sorgsam vom Bürgermeister gehegt und gepflegt wurde, stand ein jeder Hobbit mit Vor- und Nachnamen gelistet, der in Hobbingen lebte, dort geboren (mit dem Geburtstag) oder gestorben (mit dem Todestag) war. Und nun endlich war auch Frodos Name darin aufgenommen.

Eigentlich hatte Bilbo die Adoption irgendwie mit Frodo feiern wollen, doch der arme Junge schien so traurig gewesen zu sein, seine alte Heimat – Bockland – und insbesondere seine Freunde, Vettern und Basen, verlassen zu müssen, dass Bilbo damit lieber noch ein wenig gewartet hatte.

Bilbo riss den Jungen nur ungern aus seiner gewohnten Umgebung, Hobbits waren in dieser Hinsicht nicht sehr anpassungsfähig, aber die Umstände hatten ihm keine große Wahl gelassen. Bilbo besaß nun einmal eines der schönsten Smials in ganz Hobbingen und war zudem weitaus älter, was einen Umzug für ihn noch viel schwieriger gestaltet hätte. Alte Bäume sollte man schließlich nicht verpflanzen, das wusste jeder. Frodo war hingegen noch ein Schössling. Mit der richtigen Aufmerksamkeit, Liebe und Geduld – da war sich Bilbo sicher – würde Frodo sich in Beutelsend einleben.

Als er nun also mit dem jungen Frodo an der Hand vor die Tür von Beutelsend trat, atmete er tief die klare Herbstluft ein. „Riechst du das, Frodo?“

Der Junge sah ein wenig ratlos zu seinem Onkel auf und nestelte an den Knöpfen seiner neuen Jacke. Er nahm ebenfalls einen tiefen Atemzug, schüttelte dann jedoch einigermaßen verwirrt den Kopf.

„Der Duft von süßem Gebäck liegt in der Luft.“ Er zeigte den Hügel hinunter zu den kleineren Smials. Dort stiegen aus einigen Kaminen Rauchwolken empor. „Ich wette, dass du heute nach der Abenddämmerung bei einigen dieser Höhlen leckere Tassenkuchen, Kekse und andere Süßigkeiten bekommen wirst.“ Bilbo schenkte dem Kind ein zuversichtliches Lächeln. Allerdings sah Frodo ganz und gar nicht begeistert aus. Bilbo ging neben ihm in die Knie, um auf seine Augenhöhe zu kommen. „Was bedrückt dich?“

„Ich möchte nicht alleine losziehen und Süßigkeit oder Streich spielen. Zuhause war das immer ein riesiger Spaß, aber hier kenne ich doch niemanden.“

„Ach Frodo“, sagte Bilbo nickend und wuschelte dem Jungen durch die dunklen Locken. „Ich kann dich gut verstehen. Aber in Hobbingen wohnen mindestens so viele Kinder wie in Bockland. Und manchmal kommen sie sogar von Wasserau bis hier herauf auf den Bühl, weil sie wissen, dass sie bei mir nichts Süßes, sondern ein Silberstück bekommen.“ Frodo verzog das Gesicht. „Sieh mal, wie schön unser Smial und unser Garten mit geschnitzten Gruselkürbissen, Grabsteinen, Orkschädel geschmückt sind. Die haben mir übrigens meine Zwergenfreunde geschenkt.“ Sogar Steinfiguren, die aussahen wie versteinerte Trolle, standen in Bilbos Garten und erinnerten ihn jedes Jahr aufs Neue an sein wohl größtes Abenteuer. Nur Spinnen wollte er absolut nicht in seinem Zuhause oder im Garten dulden, weder Attrappen noch die echten. Nicht, nach dem Erlebnis im Düsterwald, oh nein!

Am Himmel zogen einige Wolken auf, der Wind wurde kräftiger. Der große Festbaum, unterhalb von Beutelsend, ließ seine bunt gefärbten Blätter fallen, die eine Windböe bis fast hinauf in Bilbos Garten trug. Erneut atmete der Hobbit tief durch, richtete sich wieder auf und fasste einen Entschluss. „Komm“, sagte er zu Frodo, „jetzt lassen wir den Drachen steigen, an dem wir die letzten zwei Tage gearbeitet haben. Ich wette, dass er richtig toll da oben aussehen wird.“ Er deutete zum Himmel hinauf.

Frodo folgte seinem Fingerzeig und nickte schließlich. Der Junge ging zurück ins Smial und kam kurz darauf mit einem leuchtend roten Drachen zurück. Der Schweif des Drachen bestand aus einem halben Dutzend langer Bänder in rot, orange und gelb, die zwei mal so lang waren wie Frodo groß. Der Junge zog sie über den Boden hinter sich her. „Wo sollen wir es versuchen?“ Frodo sah sich rund um das Smial um. Hier oben auf dem Bühl war die Windstärke ideal, gerade stark genug, um den Drachen zu tragen, aber nicht so stark, dass seine Leine reißen würde.

„Komm mir nach“, erwiderte Bilbo. Auf dem Bühl, in Richtung Schiefertonwald, gab es eine Lichtung, die sich hervorragend eignen sollte. Sie würden nur wenige Minuten bis dorthin unterwegs sein.

Die Lichtung war noch nicht in Sichtweite, als über ihren Köpfen bereits einige Drachen hinwegflogen. „Sieh mal, Frodo, wir sind nicht die einzigen mit dieser Idee gewesen.“ Und tatsächlich, auf der Lichtung befanden sich mehrere Kinder, die Bilbo nicht alle namentlich bekannt waren, aber doch vertraut wirkten. Er hatte sich früher nie viel aus Kindern gemacht, aber das hatte sich geändert. Frodo würde Freunde brauchen, um eine glückliche Kindheit zu haben. Und das war das allerwichtigste für Bilbo. Nachdem Frodo seine Eltern so früh durch diesen furchtbaren Unfall verloren hatte, war es ihm eine Herzensangelegenheit gewesen, wieder Freude in Frodos Leben zu bringen.

„Wir müssen genügend Abstand einhalten, sonst verheddern sich die Drachen ineinander.“ Bilbo deutete auf eine geeignete Stelle und Frodo gehorchte. Er war ein so liebenswerter, zurückhaltender Junge. „Hast du schon mal einen Drachen steigen lassen?“ Frodo schüttelte den Kopf. „Das ist mit dem richtigen Wind kein Problem.“ Und dann erklärte er Frodo, wie er mit dem Drachen erst Anlauf gegen den Wind nehmen musste, ehe er ihn loslassen und ihm Leine geben durfte. Und tatsächlich stellte sich der Junge sehr geschickt an. „Lauf, Frodo, schneller. Ja, genau so. Lauf!“, feuerte Bilbo ihn an und Frodo lief jauchzend über die Lichtung, der Wind zerrte bereits an dem Drachen. Bilbo konnte es deutlich sehen. „Und jetzt lass ihn steigen!“ Und der Drachen stieg empor in die Lüfte und gesellte sich in sicherem Abstand zu den anderen.

Bilbo schloss zu seinem Neffen auf und legte ihm anerkennend eine Hand auf die Schulter. „Du bist ein Naturtalent. Schau an, wie schön dein Drachen fliegt.“

Frodo strahlte über das ganze Gesicht. „Danke, Onkel Bilbo.“

„Nicht dafür, mein guter Junge.“ Er drückte Frodo an sich und gab ihm dann noch ein paar weitere Tipps zur Lenkung des Drachens, zur sicheren Höhe, damit die Leine nicht reißen oder der Drachen abstürzen würde. Als die Dämmerung allmählich einsetzte und die Sonne an Wärme verlor, holten sie den Drachen wieder behutsam vom Himmel. Die anderen Kinder taten es ihnen gleich und jedes wickelte sorgfältig die Leine wieder auf das Haltestöckchen, damit sich keine Knoten bilden würden.

„Was meinst du, Frodo, hast du nicht doch Lust bekommen dich zu verkleiden? Ich kann dich ja auch begleiten.“

„Das würdest du tun?“ Frodo sah ihn mit großen Augen an.

Bilbo hatte den Eindruck, dass Frodo sehr lange zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hatte. Er wollte es den Familien nicht vorwerfen, die sich einige Jahre mit um Frodo gekümmert hatten, aber er war nun mal nicht das einzige Kind dort gewesen. Und er war nicht eines ihrer Kinder gewesen. Bilbo fand seine neue Aufgabe erstaunlicherweise sehr erfüllend und merkte, wie sehr er die Zeit mit dem Jungen genoss. Frodo weckte den Jungen in Bilbo, der selbst abenteuerlustig und sogar ein ziemlicher Lausebengel gewesen war; dagegen wirkte Frodo lammfromm.

„Es gibt nichts, das ich lieber täte. Wir essen einfach später zu Abend. Das sollte kein Problem sein. Und wenn du möchtest, erzähle ich dir noch eine Gruselgeschichte, bevor es ins Bett geht.“

Erneut strahlte Frodo über das ganze Gesicht.

***

Als es endlich dunkel wurde, hatte sich Frodo zu einem niedlichen Gespenst verwandelt. Es war wohl nicht das einfallsreichste Kostüm an diesem Abend, aber sie beide mussten ihre Kreativität noch schulen.

Bevor sie loszogen, entzündete Bilbo noch die Kerzen in den Kürbislaternen im Garten. Die Kürbisfratzen sahen im Dunkeln, wenn das Kerzenlicht in ihnen flackerte, noch viel unheimlicher aus als am Tag. Überhaupt war er recht zufrieden mit der unheimlichen Gestaltung seines Gartens.

Frodo wartete geduldig am Gartentor auf ihn, einen kleinen Weidenkorb in der Hand. Und dann marschierten sie gemeinsam los und zogen von Smial zu Smial. Unterwegs begegneten sie Kindern, die meist in kleinen Gruppen unterwegs waren. Bei einigen konnte Bilbo aus der Ferne hören, dass sie heute wohl nicht bis zum Bühl würden gehen müssen, da Herr Bilbo nicht zuhause war. Sie hörten sich enttäuscht an. Das Silberstück war für sie alle immer ein willkommenes Taschengeld gewesen, Bilbo wusste das nur zu gut. Aber Frodo war ihm wichtiger. Und er wusste ebenso gut, dass der Junge niemals allein losgezogen wäre.

Rechts von ihnen sprang plötzlich ein pelziges Geschöpf mit lautem Gebrüll aus einem Gebüsch hervor und erschreckte die Beiden so sehr, dass sich Frodo instinktiv hinter Bilbo versteckte. „Du meine Güte!“, keuchte Bilbo gespielt schockiert. „Hilfe, ein unheimlicher Bär!“

Es folgte ein Kichern und dann: „Guten Abend, Herr Beutlin.“

„Sieh mal Frodo, der Bär kann sprechen. Und höflich ist er noch dazu.“ Frodo kam langsam hinter Bilbos Rücken hervor.

„Hilfe, ein Geist!“, rief da der Bär und versteckte sich scheinbar erschrocken wieder hinter dem Busch. Das wiederum ließ Frodo leise kichern.

„Komm heraus, kleiner Bär. Das ist ein guter Geist, der nur böse Hobbits heimsucht“, sagte Bilbo und gab sich im Gebüsch nach dem Bären suchend. Bilbo kannte den Bären sehr gut, da er die Stimme wieder erkannte. Und außerdem hatte der Junge im vergangenen Jahr das selbe Kostüm getragen. Sicherlich fand seine Mutter, die in anderen Umständen war, nicht die Zeit oder Kraft für jedes ihrer Kinder neue Kostüme zu fertigen.

„Weil du uns so überzeugend erschreckt hast, sollst du eine Belohnung bekommen“, meinte Bilbo und lockte den vermeintlichen Bären damit aus dem Gebüsch. Er bemerkte dabei nicht, dass einige andere verkleidete Kinder aus der Nähe und auch von weiter entfernt, die Szene beobachteten. Und als der kleine Bär das jährliche Silberstück bekam, das Bilbo aus einem kleinen Ledersäckchen fischte, da wurden die drei plötzlich von allerlei Ungeheuern, Getier und Gespenstern überrannt und erschreckt. Sie waren regelrecht umzingelt. Und dann begannen die Kinder ein Lied zu singen, während sie um die Drei herumtanzten und mit Rasseln und Scheppern ihren Gesang untermalten.

‚Leuchte Kürbis durch die Nacht
Halt' die Geister fern
Jack O' Lantern, gib gut Acht
Dass sie uns nicht stör'n‘

Nachdem die Kinder ihr Lied zu Ende gesungen hatten, kreischten sie weiter und machten allerhand unheimliche Geräusche, bis Bilbo schließlich die Hände hob und sich ergab. „Das war ausgezeichnet!“ Ihn beeindruckte, wie schnell sich die Kinder verbündet hatten, um ihn auf offener Straße zu erschrecken. Aus einigen Smials schauten die Bewohner heraus und beobachteten das kleine Schauspiel. Und dann gab es von Bilbo Applaus. „Jeder soll für seinen Einsatz eine Silbermünze bekommen. Stellt euch brav in einer Reihe auf, ich habe genug für euch alle dabei.“

Und so kam es, dass Bilbo an diesem Samhainabend doch kein einziges Kind enttäuschte.

„Herr Beutlin!“, erklang irgendwann die Stimme seines Gärtners hinter ihm, der dem kleinen Bären die großen, wettergegerbten Hände auf die Schultern legte. „Unser Sam hat Euch hoffentlich nicht zu sehr erschreckt?“

„Aber nein“, winkte Bilbo ab. „Nun ja, eigentlich doch“, sagte er dann und zwinkerte Sam zu, der ihn aus seinem Kostüm heraus mit unschuldigen Kinderaugen anblickte.

„Dieser freundliche kleine Geist ist übrigens mein Neffe Frodo.“

„Hallo Frodo. Willkommen in Hobbingen“, grüßte der Gärtner den Jungen.

Frodo und Sam reichten sich die Hand. Und dann kamen sämtliche Kinder, die bis dahin um sie herumgestanden und ihre bisherige Ausbeute verglichen hatten. Und sie alle stellten sich der Reihe nach vor. Bilbo konnte nur schmunzeln, denn sie alle waren so gut verkleidet, dass sie sich am nächsten Tag auf der Straße wohl kaum wieder erkennen würden. Allerdings bemerkte er auch, wie Frodo trotz allem auftaute.

„Komm, dein Korb ist ja noch fast leer“, sagte Sam und griff nach Frodos Hand. „Ich weiß, wo es die besten Leckereien gibt.“

„Darf ich, Onkel Bilbo?“ Frodo sah zu ihm auf.

„Na los, lauft! Viel Spaß euch beiden!“ Bilbo wurde daraufhin auf einen kleinen Umtrunk zu den Gamdschies eingeladen. Und später, gegen Mitternacht, traf sich praktisch ganz Hobbingen am großen Freudenfeuer, auf dem Festplatz, und Bilbo gab seine gruseligsten Abenteuer zum Besten, während sie schmausten und gemeinsam Samhain feierten.

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