Arda Fanfiction

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Deine Aufzeichnungen

von Olga

Kapitel 1

Und Vater, vielleicht habe ich auch Dich ein bisschen gerettet in dieser Zeit. Als ich Dir erzählte, ganz genau erzählte, wie es in mir schrie, als ich Moranon in seinem Blut liegen sah, und als wenige Tage später ein Blutstrom über meine Schenkel floss, und wie kalt und leer ich mich danach fühlte, da habe ich Dich, Vater, zum ersten Mal weinen sehen. Und mich und Dich tröstend, habe ich begriffen, dass Du nicht nur um mich, sondern auch um Dich selbst geweint hast.

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Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Hinter den Lidern brennen heiße Tränen, von denen ich schon viel zu viele geweint habe. Ich sitze in deinem kleinen Schreibzimmer, das so viele Jahre Dein letztes Refugium wurde, wann immer dir die Welt dort draußen zu viel geworden war. Mein Rücken schmerzt – ich habe schon wieder die Schultern nach vorne gebeugt. Die schlechte Angewohnheit einer Frau, die die sie umgebenden Männer stets um Kopfeslänge überragt.

Ich habe mich in diesen Tagen daran gemacht, den kleinen Schreibtisch auszuräumen, deren Inhalt Du mir vor Deinem Tode vermacht hast – habe Deine Aufzeichnungen gelesen, viele viele Stunden – Deine Aufzeichnungen, König Elessar. Mein Vater.

Ich war Deine zweitjüngste Tochter – und das ist eine ungünstige Konstellation. Meine älteste Schwester war viele Jahre älter als ich, und voller Sanftheit - als ich eben mit dem Erwachsenwerden begann, rundete sich ihr Bauch bereits verheißungsvoll, trug sie bereits das schwellende Leben ihres ersten Kindes in sich. Eldarion, mein Bruder – nun, ich schätze, über ihn brauche ich nicht viel zu sagen, er war immer der Sohn, den Du Dir gewünscht hattest- ruhig, verantwortungsvoll, zuverlässig – mit dieser Zuverlässigkeit bemüht er sich jetzt bereist, die Lücke auszufüllen, die Du hinterlassen hast, und sein Erbe als König des Landes anzutreten – ich beneide ihn nicht um seine Aufgabe. Nimwen, die Jüngste: Meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, voller Lachen und Liebreiz. Sie ist jetzt bei Arwen, und sich hoffe, sie vermag unserer Mutter Trost zu geben.

Dazwischen ich. Als Kind war ich weinerlich, aufsässig und oft von rasender Eifersucht erfüllt – gegenüber meinem Bruder, der so viel mehr Freiheiten als ich hatte – gegenüber meiner kleinen Schwester, die soviel liebreizender war als ich. Ich: Ein mageres Kind mit meist finster verzogenem Gesicht und großen Händen und Füßen. Als ich dann erwachsen wurde, schoss ich mehr in die Höhe, als es meinem Selbstbewusstsein gut tat. Meine Züge wurden zu kantig, meine Schultern zu breit, um noch weibliche Anmut bergen zu können. Genaugenommen, Vater, war ich ein Abbild von Dir – mehr schlecht als recht in eine weibliche Form gepresst.

Ihr wusstet wohl nicht so recht, was ihr mit mir anfangen solltet, Du und Mutter. Von Anfang an war ich das schwierige Kind der Familie. Das begann schon bei der Geburt, welche Arwen große Schmerzen bereitete und nach der sie tagelang im Kindbettfieber darniederlag. Vielleicht begann es ja schon da, dass ich mich meiner Mutter entfremdete. Ich zog mich schon als Kind oft in meine eigene innere Welt zurück, verunsichert durch die Anforderungen der verwirrenden Welt da draußen. Und wenn ich aus meiner inneren Welt hervorkam, so meist mit großen, zerstörerischen Gefühlsstürmen, mit denen ich unsere Familie immer wieder durcheinander brachte. So ließ man mich lieber, wo ich war.

Doch auch Du, Vater, warst für uns Kinder nicht immer leicht zu ertragen. Denn warst Du als König auch gütig, weise beherrscht und gerecht, so ließest du diese Eigenschaften als Vater doch oft vermissen. Nicht, dass Du jemals grob zu uns geworden wärest – zumindest nicht mit Taten. Doch schien es mir oft, dass wir Dir mit unserem Geplärre und den kleinen Dramen unserer Kinderwelt, mit unserem beständigen Wetteifern nach Anerkennung und Zuneigung eine große Belastung waren. Oft genug, wenn ich und meine Geschwister abends in lautstarken Streit verfielen, und Mutter sich bemühte, diesen zu schlichten, standst Du auf, in den Augen nur Zorn und keine Wärme, gingst in Dein Arbeitszimmer und verschlosst die Tür hinter Dir. Heraus kamst Du erst, wenn wir bereits schliefen. Erst heute, wo ich Deine innersten Gedanken vor mir ausgebreitet sehe, begreife ich, das dies eine Flucht war und nicht die Ablehnung, die kalte Missbilligung, die ich als Kind immer verspürte – und die mich, die Unsicherste von uns Allen, wohl am tiefsten ins Herz traf.

Ja, Vater Du und ich – wo bei meiner Mutter Abstand und Entfremdung zunahmen, je älter ich wurde, entwickelte sich unser Verhältnis immer mehr zu einem Machtkampf, bei dem wir Beide viele Verletzungen davontrugen. Und ich war, je älter ich wurde, immer eigensinniger und verschlossener – was Dich zur Verzweiflung trieb. Und mich trieb Deine Verletztheit, Deine Ablehnung zur Verzweiflung. Einmal haben wir sogar ein Jahr nicht miteinander geredet. Vater, ich konnte nie gut mit Menschen umgehen – deswegen blieb ich lange allein, voller Zorn auf mich, meine Familie und die Welt. Bis Moranon kam und mir die Liebe zeigte.

Was ich neben meiner Größe und Gestalt noch von Dir geerbt habe, Vater, ist mein Gespür für die Natur, wegen der ich eine große Begeisterung für die Eigenheiten von Pflanzen und Tieren entwickelte. Und im Osten, in den Ländern rund um das Nurnenmeer, bot sich eine Gelegenheit, dieses Wissen einzusetzen – und mir bot sich die Gelegenheit, weit, weit von Dir fortzukommen. So ging ich also mit Moranon zusammen nach Nurn, um dort die Aufforstung und Kultivierung des kargen Landes zu leiten. Ich ging mit dem Vorsatz, nie wieder nach Hause zurückzukehren.

Es war eine viel zu schwere Aufgabe, die ich mir ausgesucht hatte, denn Armut und Hunger herrschten in diesem Ländern, und das Wetter war unbeständig – lange Dürreperioden wechselten sich ab mit heftigen Unwetterphasen, in denen der Schlagregen die letzten Erntebestände wegschwemmte. Ich war im vierten Monat schwanger, als wir bei einem Saatguttransport von Wegelagerern überfallen wurden – und ich musste schmerzlich erfahren, was Armut, Hunger und einen lange Geschichte von Gewalt und Hass aus Menschen machen können. Moranon wurde erschlagen, und ich wurde schwer verletzt. Als es gelang, mich nach Minas Tirith zurückzubringen, hatte ich mein Kind bereits verloren.

Ich kehrte also zurück nach Hause, geschlagen und verzweifelt. Mein Körper wurde von einem nicht enden wollenden Fieber verzehrt, ich war verrückt vor Schmerz und Kummer.

Da hast Du, Vater, alle Deine Regierungsgeschäfte kurzfristig Deinen Beratern und Eldarion überlassen und bist zu mir gekommen. Ich weiß noch genau, wie du mich damals pflegtest, an meinem Bett saßt und meine Hand hieltst, während ich mich, von Alpträumen gequält, hin und her wälzte. Du warst es auch, Vater, der nicht zuließ, das ich mich hernach in mich zurückzog, den Toten folgend – Du hast mich so lange gefragt und gedrängt, bis die Tränen und die Worte aus mir herausflossen – wissend, dass das, was ich erlebt hatte, ausgesprochen werden musste, gleichsam einer Wunde, die zum Verheilen zunächst neu geöffnet werden muss. Es war ein langer Weg durch die Dunkelheit, Vater, und ohne Dich hätte ich ihn nicht geschafft - ich wäre wohl gestorben oder doch im Herzen so verdorrt, dass kaum mehr ein Unterschied zu Tode bestanden hätte. Doch durch Dich, Vater, gelang es mir, mich aus diesem Alptraum lebend zu retten und mir auch dieses Stück weiblicher Weichheit zu bewahren, das ich durch Moranon gewonnen hatte. Die Weichheit, die es mir nun möglich macht, mich nach vielen Jahren der Trauer auf einen neuen Menschen einzulassen – nicht mit dem Feuer der ersten Liebe, doch voller Wärme und Zugewandtheit

Und Vater, vielleicht habe ich auch Dich ein bisschen gerettet in dieser Zeit. Als ich Dir erzählte, ganz genau erzählte, wie es in mir schrie, als ich Moranon in seinem Blut liegen sah, und als wenige Tage später ein Blutstrom über meine Schenkel floss, und wie kalt und leer ich mich danach fühlte, da habe ich Dich, Vater, zum ersten Mal weinen sehen. Und mich und Dich tröstend, habe ich begriffen, dass Du nicht nur um mich, sondern auch um Dich selbst geweint hast.

Ich hatte zwar meinen Geliebten und mein Kind verloren, doch meinen Vater hatte ich wiedergefunden. Und als Du Dich, älter werdend, immer mehr auf meine breiten Schultern stütztest, war ich stark genug geworden, diese Last zu tragen.

Ja, Vater, denn Du trugst den selben Schmerz in Dir, den auch ich erfahren musste. Vielleicht hast Du mir deshalb all diese Aufzeichnungen vermacht, in denen Du nun, nach deinem Tode, dein Innerstes vor mit ausbreitest. Dein Innerstes, das erfüllt war von deiner Erinnerung an Angst, unendliche Schlachten, Grausamkeiten, den Tod vieler Freunde. Sie verfolgten Dich in deine Träume, bei Tag und bei Nacht, Dich, von den alle glaubten, er wäre am Ziel all seiner Wünsche. Nicht einmal Arwen hat verstanden, dass Du, wann immer du durch die Straßen von Minas Tirith wandeltest, wann immer Du über die Zinnen der Stadtmauer über dein Land blicktest, das Blut der Erschlagenen vor Dir sahst, rochst, schmecktest. Vielleicht war Dir deshalb unsere kindliche Lebendigkeit oft zuwider – weil Du selbst mit Deinem Überleben gehadert hast nach diesem Krieg.

Jetzt sitze ich an Deinem Schreibtisch, Vater, und betrachte die vielen Seiten Papier, die Du mit deiner engen, ebenmäßigen Handschrift gefüllt hast. Ich sitze hier mit meinen eigenen Wunden, die Tochter meines Vaters. Gebrochen, doch noch voller Leben, lese ich diese Zeilen von Dir:

„Nun sitze ich hier, und warte, dass es Frühling wird in meinen Herzen.“

ENDE

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