Feuer, Staub und Rauch wallen über die weite Ebene und verdecken dem einsamen Reiter die Sicht. Langsam nähert er sich der Gebirgskette, die sich von Osten nach Westen erstreckt und die Ebene von den nördlicheren Ländern abgrenzt. Ein heftiger Windstoß wirbelt den Staub auseinander. Dem Reiter präsentiert sich eine Gebirgszunge, auf deren höchster Spitze sich ein Turm, eigentlich schon eine kleine Stadt erhebt. Obwohl das Wort klein nur im Zusammenhang mit der bebauten Erdfläche benutzt werden kann. Denn an der Höhe bemessen, ist dieser Turm riesig, ein uneinnehmbares Bollwerk, ein noch größeres als das, auf dessen Grundmauern es errichtet wurde. Der Reiter hält nicht an, es ist als wäre er unbeeindruckt von der Pracht und physischen Macht des Bauwerks dem er sich nährt. Tatsächlich hat er den Kopf gesenkt, und wenn man genauer hinsieht, erkennt man seinen müden Gesichtsausdruck und die verkrampfte Haltung, in der er auf seinem Reittier sitzt. Alles deutet darauf hin, dass dieser Reiter schon lange unterwegs ist und an der Grenze seiner Kräfte angelangt ist. Und auch das Pferd weist alle Zeichen starker Erschöpfung auf. Sein weißes Fell ist grau geworden und seine, normalerweise leuchtenden Augen, haben ihren Glanz verloren. Doch sobald das Tier beginnt den ansteigenden Pfad zu erklimmen, beschleunigt es seinen Schritt, als würde es den warmen gemütlichen Stall wittern, der sich hinter den Mauern der Festung befindet.
Die Tore, eingebettet in die Unterste der Wehrmauern, öffnen sich langsam um den Reiter zu empfangen. Und da zögert dieser. Dunkel ist der Weg hinter diesen Toren der Nacht, dahinter mag der Tod genauso gut aber auch eine gemütliche Kammer und ein gutes Essen auf ihn warten. Welche dieser Möglichkeiten hat der Hausherr für ihn ausersehen? Weiß er überhaupt, dass er in kürze einen Gast zu empfangen hat? Ist er überhaupt innerhalb dieser Gemäuer, oder hat er sich in seinen anderen Turm zurückgezogen? Das Pferd stellt sich diese Fragen nicht – freudig wirft es den Kopf hoch und wiehert den anderen Pferden zu, die es hinter dem Tor wittert. Bei diesem Geräusch schreckt der Reiter auf und treibt sein Tier an: egal was ihn erwartet, er muss seine Aufgabe erfüllen. Danach kann er sein eigenes Zuhause aufsuchen. Seine müden Augen leuchten auf, als er an die Freunde denkt, die er verlassen musste, um den Auftrag, den der Hohe König ihm erteilt hat, auszuführen. Ja, bald wird er sie wiedersehen. Nur noch diese kleine Hürde und er ist am Ziel seiner Mühen. Daran, dass er möglicherweise nicht in der Lage sein wird, seine Aufgabe zu erfüllen denkt er gar nicht. Die Worte des Königs sind für ihn Befehl. Er hat vollkommen vergessen, dass hinter diesen Mauern die üblichen Gesetze, die für seine Art aufgestellt wurden, nichts gelten. Dieses Land und dieser Turm haben ihre eigenen Gesetze. Und an die wird er sich halten müssen.
***
Der Saal war dreieckig, in jede der drei Wände war eine große Tür eingelassen, doch nirgends sah man auch nur ein einziges Fenster. Lag es daran, dass draußen Nacht herrschte, waren die Vorhänge zugezogen worden, oder hatte man vielleicht die Fensterläden geschlossen? Nein, dieser Saal hatte keine Fenster, er konnte gar keine haben, da er unterirdisch angelegt war. Doch woher kam das Licht, das roten Wiederschein auf die Duzenden von Säulen warf, die das Deckengewölbe trugen? Tatsächlich erkannte man wenige Augenblicke nachdem man den Raum betrat, dass die Wände aus einer Art Kristall bestanden, hinter welchem Feuer loderten. Die höchsten Flammenzungen schossen sogar bis zur Decke hoch. Hinter der Feuerwand erhob sich eine zweite Wandschicht, diesmal aus schwarzem Marmor. Selbst der Fußboden schien in der selben Art gemacht zu sein. Jeder, der sich in diesem Saal aufhielt, hatte unweigerlich das Gefühl in einer roten Flammenhölle zu wandern, und wenn man nicht aufpasste, verlor man jeden Sinn für Zeit und Raum, denn das Kristall reflektierte den Feuerschein und die hin und her huschenden Schatten trogen das Auge und den Verstand.
Staunend betrachtete der Besucher die, an das Unmögliche grenzende Konstruktion. Es war das erste Mal, dass er sich innerhalb dieser Mauern befand, und obwohl er schon viel über sie gehört hatte, übertraf der Anblick doch jedes Gerücht. Er drehte sich langsam um die eigene Achse und bestaunte die zahlreichen Verzierungen an den Säulen, und die prachtvoll gearbeiteten, durchsichtigen Fliesen. Und sogleich bedauerte er sein Handeln. Denn er hatte, wie zu erwarten war, sämtliche Orientierung verloren. Durch welche Tür war er gekommen? Welche der drei Ecken hatte er sich zuerst angeschaut? Seufzend blickte der Mann zum Boden und stellte verwundert fest, dass ihn ein alter Mann mit rotem Bart und langen, hin und her zuckenden Haaren von unten anstarrte. Wo er auch hinblickte, sah er Spiegelbilder von sich, alle in dieser flackernden, feurigen Farbe. Was war das für ein Raum, fragte er sich. In seinen dunkelsten Träumen hätte er sich nicht ausmalen können, wie es war, in diesem Saal Stunden zu verbringen. Und wo war eigentlich der Hausherr, der ihn hier hatte empfangen wollen?
"Sauron!" Die tiefe, wohltönende Stimme des Mannes hallte von dem Kristall wieder und rollte als nicht enden wollendes Echo durch den Saal.
"Interessant, nicht wahr? Eine andere Stimme, ebenso wohltönend, doch eine Nuance höher antwortete dem Fragenden.
Was ist das hier, eine Folterkammer? Pflegst du deinen Besuch immer hier zu empfangen? Die Augen des Gastes glommen kurz auf, als er dem Hausherrn seinen Gedanken übertrug.
Ein leises Lachen erklang hinter seiner rechten Schulter. Es ist keine Folterkammer, und ich empfange hier auch keinen Besuch. Eine schlanke, dunkelhaarige Gestalt trat vor den alten Mann. Mit verschränkten Armen sah er sich um und blickte dann seinem Gesprächspartner direkt in die Augen: Ich habe diesen Saal gerade erst fertig gestellt, ich weiß noch nicht, wozu er gut sein soll. Wenn ich ehrlich bin, bist du der erste, der ihn sieht.
Ich verstehe, ich bin das Versuchskaninchen, sozusagen. In diesem Fall fühle ich mich geehrt, doch weshalb hast du einen Saal gebaut, ohne sich vorher Gedanken darum gemacht zu haben, welchen Zweck dieser erfühlen soll? Ruhig erwiderte der alte Mann den Blick des Jüngeren.
"Weshalb nicht? Mir war langweilig. Aber lassen wir das. Komm mit", Sauron drehte sich um und ging auf eine der drei großen Türen zu. "Lass uns nach oben gehen, dort ist die Luft besser".
Der alte Mann folgte seinem Führer durch schwach erleuchtete Flure in die oberen Stockwerke des riesigen Turms in dem sie sich befanden. Als er seinen Auftrag übernommen hatte, hatte er gehofft, niemals dem Wesen gegenübertreten zu müssen, in dessen Behausung er sich jetzt befand. Nun war er dort, und sein Herz wünschte, es würde das erste und einzige Mal sein. Doch sein Verstand sagte ihm etwas ganz anderes, als er das kreisrunde Zimmer, dessen Wände ganz aus Glas bestanden, betrat und somit die höchste Spitze von Saurons Turms erreichte, von wo aus man den gesamten Wald überblicken konnte, in dem er gebaut war.
***
Der Reiter schüttelt den Kopf, um sich von der Last der Erinnerungen zu befreien. Er hat das große Tor inzwischen passiert und wird nun von zwei vermummten Gestalten durch scheinbar unendliche Gänge, in den blanken Fels hinein gehauen, den Hügel hinauf geführt. Er achtet nicht sonderlich auf den Weg. Denn wenn es ihm bestimmt ist diese Gemäuer noch einmal zu verlassen, dann wird er es nicht auf dem Wege tun, auf dem er gekommen ist. Er sitzt regungslos auf seinem Pferd und guckt nur starr vor sich hin. Im Geiste geht er noch einmal die Worte durch, die er dem Hausherrn vortragen wird. Nicht das er das noch nicht getan hätte. Seit Jahrzehnten beschäftigt ihn der Gedanke, was bei ihrem, eindeutig letzten Treffen passieren wird.
Und doch weiß er, dass er nicht vorbereitet dafür ist, dass er es nie war oder sein wird. Noch nie empfand er den Verdruss, diesen Auftrag übernommen zu haben, als so intensiv. Doch er war bis jetzt auch nie auf sich allein gestellt. Bis zu diesem Jahr hatte er immer seine zwei Freunde um sich gehabt, aber jetzt...sie hatten ihn beide verlassen, der eine sich ganz von den Geschicken der Welt zurückziehend, der andere sich gänzlich gegen ihn stellend. Gegen ihn und auf die Seite seines Gegners, desjenigen, der über dieses trostlose Land und über diesen Dunklen Turm herrschte.
Die beiden Führer des Wanderers bedeuten ihm abzusitzen, und erst jetzt merkt dieser, dass sie die anderen drei Mauern schon hinter sich haben. Der Reiter blickt zurück, durch das Tor der letzten Mauer und sieht das ganze Hochplateau, über das er an diesen Ort gekommen ist, zu seinen Füßen ausgebreitet. In der Ferne erhebt sich ein einsamer Berg, von dessen Gipfel Rauch aufsteigt, und selbst aus dieser Entfernung kann man das sanfte rote Glühen der Lava in seinem Inneren erkennen, wie sie sich an seinen schwarzen Hängen spiegelt. Der Orodruin. Der einzige, noch aktive Vulkan im Westen von Mittelerde. Die Völker, die Menschen und Elben, die ihn vom Weiten erblicken. wissen nicht, dass es an anderen Orten noch andere, wie ihn gibt. Für sie ist er einzigartig und deshalb eine um so größere Gefahr.
Eine nicht einschätzbare Gefahr ist er auch für den Mann, der sich umdreht und von seinem Reittier absteigt. Denn niemand, auch er nicht, weiß wie viel Macht der Maiar, der in dem Dunklen Turm lebt, wirklich über den Berg hat. Der einzige, der das richtig einschätzen könnte, wurde aus den Kreisen der Welt verbannt. Doch es ist gut so, wie es ist. Sonst wäre die Gefahr noch größer, und der Kampf von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wieder versucht der Gast des Dunklen Herrschers seine düsteren Gedanken abzuschütteln. Ein leichtes Lächeln huscht über sein Gesicht. Je älter der Körper, in dem er sich befindet wird, desto schwerer fällt es ihm, sein Denken auf eine Sache zu konzentrieren. Und seit seinem Kampf mit einem anderen von Morgoth´ Dienern, und seiner Rückkehr in diese Welt der Sterblichen, und der schwindenden Macht der Elben, wird es immer schlimmer. Seufzend überlässt er sein Pferd Stallburschen, die es sogleich wegführen. Verwundert stellt der alte Mann fest, dass die Bediensteten, egal welche Tätigkeiten sie auch ausführen. immer nur Menschen sind. Nirgends sieht man auch nur einen Ork oder ein anderes Lebewesen. Nur die Beiden, die ihn an diesen Ort gebracht haben, scheinen anders zu sein. Keine Sterblichen sind sie, aber auch keine Elben. Eine seltsame Ahnung beschleicht den alten Mann. Aufmerksam versucht er die Schatten hinter den Kapuzen der Beiden Gestalten zu ergründen. Und als hätten sie seine Gedanken gelesen, wendet einer von ihnen ihm den Kopf zu und wirf seinen Umhang ab.
"Sei gegrüßt, Olorin. Das ist doch dein Name in dieser Welt, oder? Wie du siehst, haben wir dich erwartet." Der Sprecher hat die Erscheinung einer jungen Frau, groß mit langen schwarz-braunen Haaren. Nur ihre Augen, unendlich tief, unendlich alt und von einem inneren Feuer erhellt, und ihre alterslose, erhabene Stimme verraten, von welchem Volk sie in Wirklichkeit stammt.
"Ihr seid noch hier?", ruft der alte Mann erstaunt aus, und im selben Moment hat es schon den Anschein, als würde ihm seine unüberlegte Frage schon leid tun. "Ich meinte...Wir sind davon ausgegangen, dass Sauron..."
"...alleine ist?", fällt ihm die Frau ins Wort, "Wenn er überlebt hat, wieso nicht noch andere? Für wie schwach haltet ihr uns?" Ihr schönes Gesicht ist nun vor Wut verzerrt und ihre Augen scheinen aus loderndem Feuer zu bestehen.
"Lass gut sein", wirft die andere Gestalt ein. Auch sie dreht sich um und Olorin erkennt einen Mann, schlank, mit einem schmalen Gesicht und einer stark ausgeprägten Adlernase. Auch an ihm sind seine Augen das Auffälligste. Aber anders als bei der Frau sind sie hell-blau, so hell, dass sie schon fast weiß erscheinen und sie sind kalt, kälter als das ewige Eis, im Norden Mittelerdes. Und man merkt, dass er mächtiger ist als die Frau. Seine Macht ist im gesamten Umkreis spürbar, auch wenn er sie hinter einer unscheinbaren Menschen-Gestalt verbirgt. "Wie du siehst, sind wir hier. Und Sauron ist es auch, denn zu ihm wolltest du doch sicherlich". Der Maiar dreht sich um und öffnet eine kleine Seitentür, die ins Innere des großen Turms führt.
***
Die Fenster waren sehr schmal, hatten dafür aber die gesamte Höhe der Zimmerwand. An einem dieser Fenster stand, halb verborgen von den Schwarzen Vorhängen eine dunkle Gestalt. Es war ein Mann. Er war zwar groß, doch sein Rücken war gebeugt und an der Art, wie er sich an der Wand abstütze, sah man, dass er entweder sehr alt, oder mit großen Sorgen beladen war. Er starrte scheinbar auf das geschäftige Treiben im Hof unter ihm, doch in Wirklichkeit war er ganz tief in seine Gedanken versunken und es hatte nicht den Anschein, dass es schöne Gedanken waren.
"Vater?" Zwei andere Männer standen in der Mitte des Raumes, an einem mit Karten und Büchern übersäten Tisch. Der ältere von ihnen trat auf seinen Vater zu und berührte ihn sanft an der Schulter. "Wie lautet Eure Entscheidung, Vater?"
"Wirst du es denn zulassen, dass Faramir geht?"
"Ich werde, mich Eurem Wunsch fügen, doch ich bin der Ansicht, dass ich mehr Erfahrung darin habe...", der Mann brach plötzlich ab und drehte sich zu seinem jüngeren Bruder um.
Dieser guckte ihn einen Augenblick an und senkte dann den Blick. Sein Gesicht war vollkommen verschlossen und nichts deutete darauf hin, was in seinem Kopf vorging.
Der Mann am Fenster straffte sich und blickte seinen beiden Söhnen in die Augen.
"Faramir, ich weiß, dass du in mancherlei Hinsicht besser für diese Aufgabe geeigneter wärst, doch Boromir hat in diesem einen Punkt Recht: er hat mehr Erfahrung als du. Sowohl als Heerführer, als auch als Redner. Und einen Redner, einen guten, wird Gondor brauchen, falls Imladris wirklich gefunden werden kann. Ich weiß, dass du gehen willst, und meine Ahnung sagt mir, dass viel Gutes, aber auch viel Schlechtes für Gondor aus dieser Reise entspringen kann, wenn Boromir geht...doch dieses Wagnis müssen wir in Kauf nehmen. Boromir, du brichst in der Nacht auf. Der Feind ist wachsam geworden, er darf nicht merken, dass Gondors stärkster Mann nicht in Minas Tirith ist. Geht nun. Mein Segen für euch beide."
Faramir verbeugte sich vor dem Truchsess von Gondor und verließ raschen Schrittes das Zimmer. Boromir blieb noch einen Moment stehen. Sorgenvoll sah er seinen Vater an, aber dann schickte auch er sich an, den Raum zu verlassen, als Denethor ich noch einmal zu sich rief.
"Habt ihr es euch anders überlegt, Vater?"
"Nein, mein Sohn. Aber ich möchte dich noch etwas fragen: Was denkst du über den Zauberer, Mithrandir?" Denethor sah seinen Sohn fragend an.
"Er ist ein Zauberer...aber falls er irgendwelche großen Kräfte besitzt, hat er dies bis jetzt nicht gezeigt. Er ist...neugierig...er hat immer Wissen von uns genommen, aber selten etwas dafür gegeben. Doch er ist gegen Sauron...hoffe ich wenigstens." Der Mann sah zu Boden und dann wieder zu seinem Vater: "Stimmt etwas nicht mit ihm, habt Ihr etwas erfahren, dass Euch misstrauisch macht?"
Der alte Mann seufzte und sprach leise und eindringlich auf seinen ältesten Sohn ein: "Ich habe tatsächlich Dinge gesehen und gehört, die mich misstrauisch gemacht haben. Doch ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich will dich nur bitten vorsichtig zu sein. Sei auf der Hut, falls du einem der Zauberer begegnest. Denn ich zweifle inzwischen an der Loyalität von beiden, von Curunir und von Mithrandir. Du musst jedes ihrer Wörter eingehend aufwiegen...glaube nicht alles was sie sagen und unterziehe alles einer gründlichen Prüfung, sofern das möglich ist."
"Boromir...du bist mein ältester Sohn, und du wirst der nächste Herrscher über Gondor und über die Weiße Stadt sein...pass auf dich auf, mein Junge."
"Das werde ich tun Vater, ich verspreche es euch." Der Mann verneigte sich vor seinem Vater und verließ raschen Schrittes das große Zimmer.
Denethor starrte ihm noch eine Weile nach, dann ging auch er hinaus. Er stieg eine steile Treppe nach oben, bis er schließlich an der Spitze des Turms angelangt war. Er befand sich in einem großen runden Raum, ebenfalls mit hohen Fenstern. Schnell, fast verstohlen, als würde er Angst haben, jemand würde ihn beobachten, ging er auf einen Sockel zu, der in der Mitte des Raumes stand. Darauf ruhte ein Gegenstand, verdeckt durch eine schwarze Decke, welche Gondors Herr nun abnahm. Aufmerksam betrachtete er die Schwarze Kugel, die vor ihm lag. Viele Dinge hatte ihm der Palantir schon gezeigt...einen alten Mann, der hinter den Mauern eines Turmes verschwand, der auf einem Hügel im Wald stand... einen anderen alten Mann, der ein Rudel von Wargen musterte, und sich mit den Reitern dieser grässlichen Wölfe unterhielt... was würde ihm der Sehende Stein noch zeigen... vielleicht die vielen Tausenden von Orks, die in Richtung Minas Morguls marschierten... oder neun schwarze Pferde, wie sie ungeduldig ihre Reiter erwarteten... vielleicht würde der Stein auch einen Mann zeigen, groß, mit braunen Haaren und grauen Augen, wie er ein zweigeteiltes Schwert betrachtet... und einen anderen, einen alten Mann, der seine Schritte in unerwartete Richtungen lenkt... und wie würde der Herr des Turmes der Wacht diese Bilder verstehen, derjenige, der über das Land bis zu der Rückkehr des Königs wachen soll?
***
"Wieso hast du eigentlich eine so... menschliche Gestalt, Olorin?" Die Frau dreht sich nicht zu dem Gast um, doch auch ohne ihren Gesichtsausdruck zu sehen, erkennt man daran, wie sie das Wort "menschlich" ausspricht, ihre tiefwurzelnde Verachtung für die Rasse der Menschen.
"Du musst zugeben, es ist die unauffälligste Art in der heutigen Welt in Erscheinung zu treten."
"Ich meinte eigentlich, wieso diese Gestalt so alt ist, ich kann mir nicht vorstellen, dass es sonderlich angenehm ist in einem derart verwelkten Körper zu sein."
"Es lässt sich aushalten... die Sache ist die, dass Menschen dem Alter die größte Aufmerksamkeit und Verehrung schenken... Die Mächtigen der Menschen sind meistens alt, und Alte hören nicht darauf, was die Jungen ihnen sagen."
"Das ist wohl bei allen Völkern so...", sagt die Frau kopfschüttelnd und für einen Moment scheint es, als wäre sie ganz weit weg, bis ihre Augen aufglühen und eine Melodie an den Wänden des Ganges wiederhallt, ohne dass in der Nähe ein Instrument gespielt wird. Es ihre geistige Stimme, die ihre Gedanken und Gefühle in Musik umsetzt. Olorin runzelt die Stirn, als wäre diese Musik etwas, was er nicht erwartet hat. Er hatte gedacht, sie hätten alle diese Fähigkeit verloren. Alle Diener... Melkors...
Du scheinst wirklich keine besonders hohe Meinung über unsere Kräfte zu haben. Die hellen Augen des Mannes leuchten kurz auf und wieder scheint eisige Kälte aus ihnen zu strömen.
Diese Nachricht vernimmt nur derjenige an den sie bestimmt ist... und er verliert keine Zeit mit einer Antwort. Auch seine Augen leuchten für einen Augenblick auf, aber sofort senkt sich ein dunkler Schatten über sie, und sie erscheinen stumpf und leblos... ganz so wie die Augen eines Sterblichen. Was war der Grund für diese Veränderung. Lag es daran, dass Saurons Gast sich darauf besinnt, welche Gefahr die Anwesenheit dieser beiden Geschöpfe für ihn bedeutet. Ist ihm endlich klar geworden, dass sie seine Gedanken mühelos lesen können, falls er sie nicht verbirgt. Will er nicht, dass die Beiden von seiner Aufgabe erfahren, oder von dem was er über sie denkt, oder weiß...oder glaubt zu wissen?
Schweigend schreiten die drei menschenähnlichen Gestalten eine lange gewundene Treppe hinauf, bis sie vor einer großen, zweiflügligen Tür stehen. Der Mann und die Frau stoßen die Tür auf und bedeuten dem Gast hindurchzutreten. Er zögert. Aufmerksam studiert er die Gesichter seiner Führer, doch auch sie haben ihren Geist verschlossen. Wiederum quält ihn die Ungewissheit... seine menschliche Gestalt hat ihn die Angst vor dem Unbekannten, vor der Zukunft gelehrt. Und diese Angst ist nicht so leicht abzuschütteln. Denn er weiß nicht welche Veränderung mit dem Herrn des Dunklen Turms vor sich gegangen ist seit sie sich das letzte Mal gesehen haben. Seit dem letzen Mal ist viel passiert und welche Auswirkungen diese Geschehnisse auf Sauron hatten, lässt sich nicht vorhersehen.
Langsam, zögernd einen Fuß vor den anderen setzend, tritt Olorin durch die große Tür. Er ist ein Bote. Ein Bote, der in die äußere Welt gekommen ist, um allen die hören wollen das Urteil des Ältesten Königs zu verkünden. Und nachdem er die Gelegenheit hatte seine Ziele und seine Aufgabe zu überdenken... und zu entscheiden ob er sie weiterführen wird oder nicht, ist es Olorins wichtigster Auftrag, dem Nachfolger Morgoth' Manwes Spruch zu verkünden. Was Sauron daraus machen wird, entscheidet darüber, wie schnell und wie gründlich seine Aufgabe zu vollenden ist. In den nächsten Augenblicken wird klar werden, was mit der Welt geschehen wird... was mit ihm selbst geschehen wird. Mit lautem Knall schlagen die beiden Türflügel hinter ihm zu. Nun wird die Entscheidung fallen. Außerhalb dieser Welt und dieser Zeit.
***
Feuer Staub und Rauch wallen über die weite Ebene und verdecken dem einsamen Reiter die Sicht. Schnell trägt ihn sein Pferd nach Nord-Westen, zu dem schwarzen Tor, dem Ausgang in die westlichen Länder. Flügelschläge rauschen über seinen Kopf hinweg, doch er achtet nicht darauf. Er weiß wer die geflügelten Boten über ihm sind und er kennt auch ihren Auftrag. Sie können ihm nicht schaden. Nicht solange er sich im Herrschaftsgebiet ihres Herrn befindet. Obwohl das Pferd mit höchster Geschwindigkeit die Straße entlang galoppiert, hat der Reiter den Blick gesenkt. Er weiß, dass das Tier ihn nicht abwerfen wird und er weiß, dass es den Weg genauso gut wie er kennt und keiner Führung bedarf.
Der Reiter ist ganz in seine Gedanken versunken, doch er wirkt nicht erschöpft, wie der Wanderer, der vor mehreren Stunden in die entgegengesetzte Richtung ritt. Er weiß nun was ihm bevorsteht. Kein Zweifel, keine Ängste verdunkeln seinen Geist. Der Weg, den er beschreiten muss liegt klar und deutlich vor ihm. Und er wird ihn gehen. Bis zu seinem Ende.
Für einen Augenblick zügelt der Mann sein Reittier und richtet sich auf. Er ist am Rande eines riesigen Tals angelangt. Es ist ganz von Bergen umzingelt und an seinem Ende erhebt sich ein riesiges Tor. Schweigend betrachtet der Reiter die Landschaft unter ihm, und dann die Länder hinter dem Schwarzen Tor. Und ohne noch einmal zurückzublicken, treibt er sein Pferd an.
"Lauf Schattenfell. Lauf, der Krieg ist entbrannt."
The End