Arda Fanfiction

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Schattenspiel

von Calamîr

Der Abend brach an und verwandelte die gelbbraunen Herbstblätter erst in pures Gold und bald darauf in ein tiefes Rot. Dann begann die Nacht, wieder einen Augenblick früher als am vorherigen Tag. Die Sonne verschwand und mit ihr alle Pracht, die ihr Licht auf den tanzenden Blättern gewirkt hatte. Schatten huschten wie Geister über den Boden und am Fuße eines Baumes kauerte sich eine Gestalt in das trockene Laub. Welche Farben ihre Kleider einst gehabt haben mussten, war nicht mehr auszumachen. So ausgewaschen und ausgeblichen waren die viel geflickten Schichten. Es war nicht einmal zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, zu tief hatte sie die Kapuze ihres Umhangs ins Gesicht gezogen.
Nur ein Schemen in der einfallenden Düsternis wickelte sich die Gestalt fester in ihren Umhang.
Stille kehrte ein. Einsamkeit kehrte ein. Der Wind begann mit seinem täglichen Schlaflied und die welkenden Blätter der Bäume raschelten dazu im Takt. Eine Eule begann klagend die zweite Stimme. Es war ein trauriges Lied, über das Sterben des Tages und den Einbruch der Dunkelheit. Angst vor dunklen Gestalten und ohne jede Hoffnung auf Licht. Denn die Nacht brach an. Die Dunkelheit. Schatten kamen aus ihren Verstecken und krochen langsam auf die farblose Gestalt zu. Das taten sie jeden Abend.
„Was wollt ihr?“, fragte die Gestalt, ohne hinzusehen, „ihr wisst, dass ich nichts habe.“
„Nein? Nein, habt Ihr nicht?“, wisperten die Schatten und tasteten sich näher an sie heran.
„Nein, das hatte ich noch nie.“
„Nein, nein, noch nie…“ die Schatten tuschelten leise. „Aber wenn Ihr mitkommt, dann habt Ihr was!“
„Wenn ich mitkomme, habt ihr mich.“, erwiderte die Gestalt müde.
„Und Ihr uns!“
„Nein, das habe ich nicht. Jetzt geht und versucht woanders euer Glück. Ihr könnt von mir nichts haben.“
Die Schatten wisperten unschlüssig, dann krochen sie langsam davon.
Die Gestalt war wieder allein. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Schlafen wie jeden Tag. Tief und fest, am liebsten, und nicht mehr aufwachen. Nicht mehr aufwachen und einen weiteren Tag verbringen, nur um wieder mit den Schatten zu sprechen und wieder zu schlafen. Sie kamen immer näher. Immer ein kleines bisschen näher, bis sie irgendwann ganz bei ihr sein und nicht mehr fragen würden. Fürchtete sie sich vor diesem Tag? Sie wusste es nicht.
Wie konnte sie eigentlich so allein sein? Im Wald lebten so viele Tiere, ja, er quoll über, dass seine Bewohner selbst das Erdreich und den Himmel eroberten. Doch vielleicht machte gerade diese Fülle an Leben der Gestalt klar, wie allein sie war. So allein, so einsam. Warum ging sie nicht nach Bree, oder einen anderen Ort der Umgebung? Sie hatte Angst. Angst, dass man sie ausgrenzen würde. Dass man sie nicht annehmen würde. Nicht mehr. Die Furcht vor diesem Schmerz hielt sie zurück. Es war einfacher weiter auf dem eisernen Laken der Einsamkeit schlafen. Schlafen…
die Wirklichkeit verschwamm und vor der Gestalt erschien ein silbernes Tor, welches sie direkt ins ferne Reich der Träume führen würde. Grade als sie es durchscheiten wollte, knackte ein Ast. Und noch einer. Die Gestalt warf dem lockend schimmernden Tor einen letzten wehmütigen Blick zu, dann drehte sie sich wieder in Richtung der düsteren Welt, in der drohend aufragende Bäume mit ihren dünnen schwarzen Fingern nach ihr griffen. Es knackte wieder.
„Ja ja, ich komme ja schon“, murmelte die Gestalt zu niemandem als sich selbst. Wer sollte da schon sein. Ein Tier, das etwas von ihr wollte. Wie immer.
„Ja?“
Die Gestalt stockte. Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. Da war jemand. Die Stimme hatte ängstlich geklungen. Ängstlich und verlassen. Unsicher zögerte sie. Sie wollte helfen. Doch sie hatte auch Angst. Angst, vor dem, was sie sich am sehnlichsten wünschte. Gesellschaft.
„Hallo? Ist da wer?“ Die Stimme kam näher, begleitet von stolpernden Füßen und dem roten Schein einer zuckenden Kerzenflamme im Inneren einer Laterne.
Die Gestalt stand immer noch an ihrem Baum, bloß ein weiterer Schatten in der Nacht. Ein Schatten… Nein, sie wollte nicht wie die Schatten werden. Ein Nichts, dass nur in der Dunkelheit lebte und sich in seiner Einsamkeit selbst verzerrte.
„Hier“, brachte sie mühsam hervor. Wollte sie das? Nein, sie konnte immer noch verschwinden, leise und heimlich wie ein Schatten, der vor dem Licht flieht. Es kostete sie alle Kraft auszuharren und auf das kleine Licht zu warten. Zwischen den Bäumen tauchte jetzt der Träger der flackernden Laterne auf, dessen Sicht jedoch auf den kleinen Lichtkreis seiner Leuchte beschränkt war.
„Wo? Wo seid ihr?“ Erleichterung lag in der Stimme des anderen.
„Hier.“ Die Gestalt zitterte. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Der Lichtträger stolperte in ihre Richtung. Sein weißes Gewand leuchtete im Schein seines fast nieder gebrannten Laternenlichts.
„Komm, komm weg, das Licht naht!“, flüsterten und zischten die Schatten besorgt und zerrten an ihren ausgewaschenen und abgenutzten Kleidern. „Das Licht naht, komm mit!“
Aber die Gestalt schüttelte nur den Kopf. Denn so wie die Schatten an ihren Kleidern zerrten, so weckte die tanzende Kerzenflamme alte, lange vergessene und vergrabene Erinnerungen. Erinnerung an Wörter, deren Bedeutung sie schon seit langem vergessen hatte. Die Bedeutung solch lieblicher Dinge wie Wärme, Geborgenheit, Glück und Freundschaft…
„Komm mit! Komm!“
Die Schatten zerrten und rissen immer heftiger an ihr, während sie panisch tuschelten und auf sie einredeten. Es wäre so leicht, einfach mit ihnen zu gehen. Und es war so schwer, stehen zu bleiben und auf die sich stetig nähernde, weißgewandte andere Gestalt zu warten. So stand sie grau, wie sie war, zwischen Schatten und Licht. Es war nur ein Schritt, den sie machen musste. Einen Schritt, um der Dunkelheit ein für alle Mal zu entkommen, oder ihr auf ewig anheimzufallen. Welchen Weg würde sie einschlagen? Würde die Gestalt, die bereits alle Farbe verloren hatte, ihre Angst überwinden und ins Licht treten? Oder würde sie der verlockenden Versuchung nachgeben, und sich für immer vom Licht abwenden?

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