Arda Fanfiction

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Strong

von Nathalie

Kapitel 1

Tränen sind eine scheußliche Sache.

Sie können ohne Vorwarnung kommen, ganz plötzlich, ohne dass man etwas dage-gen tun kann. Sie können den Verstand ausschalten und das komplette Denken übernehmen, wenn sie wollen. Tränen sind stärker als jeder Wundertrank und jeder Zauberspruch.

Mit Tränen kann man Kriege gewinnen und Herzen erobern. Tränen können heilen und verletzen, ja sogar töten. Niemand kann sich ihrer erwehren, niemand, der ein Herz hat. Niemand kann sie bekämpfen und sie einsperren, um sie zurück zu halten. Tränen sind die mächtigste Waffe und der größte Fluch.

Unbesiegbar.

Damals versuchte ich zum letzten Mal in meinem Leben, meine Tränen zu besiegen. Das Schlimme ist nur, dass es ein aussichtsloser Kampf ist. Und zum Schluss fühlt man sich immer als Verlierer, wenn der Blick verschwimmt und silberne Tränen glänzend die Wangen hinab rinnen.

Obwohl man weiß, dass jeder es verstehen würde, weil niemand, wirklich niemand stark genug für Tränen ist... trotz dieses Wissens fühlt man sich schwach und verletzbar, wenn die Tränen wieder einmal gesiegt haben. Damals habe ich es zum letzten Mal in meinem Leben versucht.

Viele Jahre folgten, in denen mir die Tränen kamen, bei jeder Geburt jedes einzelnen meiner Kinder, später bei ihren Hochzeiten, schlussendlich beim Tod meiner Frau, meiner geliebten Rosie. Doch niemals mehr versuchte ich, meine Tränen zurück zu halten. Niemals versuchte ich, meine Trauer oder meine Freude zu überdecken. Ich ließ ihnen freien Lauf und mit ihnen meinen Tränen.

Denn ich hatte eines begriffen, auf dieser langen, langen und so entbehrungsreichen Reise – wie schrecklich es ist, nichts mehr zu fühlen. Nichts mehr zu schmecken und zu riechen, sich nicht mehr an den Geschmack von Erdbeeren erinnern zu können und an den Duft von Rosen.

Wie schrecklich es ist, jemandem in die Augen zu sehen, jemandem, den du als guten Freund kennst... und zu sehen, dass man nichts mehr sieht. Dass dieser war-me, lebendige Funke aus den Augen verschwunden ist, der eine Spiegelung des Herzens war und gezeigt hat, dass dieser jemand noch etwas empfand.

Wenn dieser Funke verschwunden ist, kann dir diese Person kein Freund mehr sein. Du kannst zu ihr halten, alles für sie geben, doch nie wirst du etwas zurückbekommen, denn diese Person kennt nicht mehr Dankbarkeit oder Mitleid. Diese Person fühlt nicht mehr.

Einmal habe ich es gesehen, wie so ein Funke erlosch. Wie er erlosch mit dem auf-keimenden Wissen, dem Wissen, dass der Tod unausweichlich war. Mein lieber Herr Frodo, du konntest natürlich nicht mehr fühlen, wie es mir ging, in diesem Moment. Andere Dinge beschäftigten dich, wichtigere Dinge als die Gefühle deines treuen Sam. Das kann ich heute verstehen, damals konnte ich es nicht. Damals begriff ich noch nicht, wie groß diese Bürde wirklich war, die du zu tragen hattest. Wie groß die Welt war und wie groß das Böse in ihr, das sie zerstören wollte. Damals war ich so unwissend.

Ich fürchtete mich, Herr Frodo. Doch nicht vor Orks oder der Hitze des Feurigen Berges. Ich fürchtete, diesen Funken in deinen Augen niemals mehr wieder zu sehen. Meinen Freund, meinen guten, liebenswerten Herrn Frodo für immer verloren zu haben, irgendwo auf diesen staubigen grauen Ebenen. Auf dieser langen Reise, wo so vieles falsch gelaufen ist... so vieles anders, als es sollte.

Es war der Ring, nicht wahr, Frodo? Der Ring und das Wissen um seine Last. Das Wissen um den unausweichlichen Tod. Beides hast du überwunden, beides haben wird besiegt. Dieser Funke ist zurückgekehrt in deine Augen, doch er wird nie mehr so hell und unbeschwert scheinen können wie früher. Deswegen kann ich jetzt, nach all den Jahren, auch endlich verstehen, warum du in den Westen gegangen bist. Der einzige Ort, wo du noch ohne Furcht und Erinnerung leben konntest, wo du dich auf die Suche nach ein bisschen Frieden machen konntest.

Heute verstehe ich dich, Herr Frodo.

In all den Jahren, den langen Jahren, ließ ich meinen Tränen freien Lauf, nachdem du gegangen warst. Ich hatte erfahren, wie furchtbar es ist, nicht mehr zu fühlen. Ich wollte zeigen, jedem einzelnen, dass ich noch am Leben und Fühlen war. Ich schämte mich nicht für meine Tränen, sondern nahm sie als Zeichen dafür, dass ich ein Herz besaß und dass es noch schlug, für jemanden schlug. Ich nahm es als Zeichen für Stärke. Nur schwache Herzen können nicht mehr fühlen. Ein schwaches Herz kann nicht weinen.

Doch jetzt... nun... gibt es niemanden mehr, für den mein Herz schlagen kann. Meine Kinder sind erwachsen, stehen auf eigenen Beinen. Rosie ist gestorben, vor genau einem Jahr. Ich merke es nun auch, Herr Frodo. Wie schwer mir ein Lächeln fällt und wie meine Trauer schwindet. Wie mein Herz langsamer schlägt, nicht mehr mächtig und willensstark wie früher. Ich habe Angst.

Angst davor, nicht mehr zu fühlen. Deswegen habe ich diese Entscheidung getroffen, die mich über das Meer führen wird. Denselben Weg bist auch du gegangen. Ich weiß nicht, ob er dir geholfen hat. Mir jedenfalls macht der Gedanke Mut.

Ich stehe am Kai der Grauen Anfurten, beobachte den Sonnenuntergang. Als ob meine Augen zum ersten Mal sehen würden, betrachten sie die Rose, die auf dem Wasser davon schwimmt und das Spiegelbild des Himmels verzerrt. Mein letzter Gruß an Rosie, meine geliebte Rosie, mein letzter Abschied von Mittelerde.

Stumm füllen sich meine Augen mit Tränen, während ich an die Reling des weißen Schiffes trete, das den Hafen verlässt.

Ein befreites Lachen entfährt mir, als ich Silber auf meinen Wangen spüre, in dem Wissen, dass ich immer noch stark genug für Tränen bin.

ENDE

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