Arda Fanfiction

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Nachbarschaftshilfe auf Seestadt-Art

von Tristania

Ein ganz besonderes Julfest

2940 Jahr des Dritten Zeitalters
Rhovanion, Esgaroth
Winter

„Sechs… sieben… und acht. Das war’s, mehr kann ich Euch im Augenblick nicht geben.“

Mit hochgezogenen Brauen musterte Bard die Kupferstücke, die auf seiner ausgestreckten Handfläche blitzten, ehe er den Blick hob und das teigige Antlitz seines Gegenübers fixierte.

„Abgemacht waren elf“, erinnerte er in ruhigem, aber bestimmtem Tonfall, bekam dafür jedoch nur ein bedauerndes Schulterzucken. 

„Ich weiß, und Ihr sollt den Rest Eures Lohns auch bekommen. Aber der Winter war für unsereins noch nie eine gute Zeit und ich habe einen ganzen Schwung hungriger Mäuler zuhause, die gefüttert werden wollen.“

Der Blick aus wässerigen blauen Augen heischte um Verständnis und veranlasste Bard dazu, die scharfe Erwiderung, die ihm bereits auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter zu schlucken. Stattdessen schloss er seine Finger fest um die Münzen und nickte knapp. 

„So bald wie möglich“, schärfte er dem Händler ein, dessen Ware er vor gut einer Stunde übergesetzt hatte, dann trat er einen Schritt zurück und ließ den Mann passieren. Dieser nickte hastig, drückte sich an Bard vorbei und eilte zum Ende des Steges um die Männer anzublaffen, die damit beschäftigt waren eine Reihe schwerer Fässer zu einem Karren zu rollen.

Kopfschüttelnd drehte Bard sich um und stapfte den Kai entlang, noch immer darüber abwägend ob er auf den Halsabschneider von einem Kaufmann wütend sein oder lieber resignieren sollte. Begleitet wurde er von einer eisigen Böe, die von Osten her über den Langen See wehte und in deren klammer Kälte das Versprechen von frischem Schnee lag. Der Winter hielt das Umland seit zwei Wochen fest im Griff und ein guter Teil des Gewässers war inzwischen unter einer dicken Eisschicht verschwunden.

Mit Beginn der kalten Monate waren auch die Jultage stetig näher gerückt und standen nun unmittelbar bevor. Die Frostzeit endete heute Nacht mit der Wintersonnenwende und überall ließen sich die Vorbereitungen für den Zeitenwechsel und die damit verbundenen Feierlichkeiten erkennen. Selbst jetzt, als er die Anlegestellen verließ und tiefer in das Gewirr aus hölzernen Stegen und Brücken eintauchte, die die Gebäude und Plätze innerhalb von Esgaroth verbanden, zierten beinahe jede Fassade immergrüne Zweige und bunte Bänder, die träge im auffrischenden Wind flatterten. In dieser Zeit war die Stimmung deutlich ausgelassener, es wurde öfter gelacht und gescherzt und alle freuten sich auf die bevorstehenden Tage im Kreise der Angehörigen.

Für Bard hatten die Festivitäten immer einen etwas bitteren Beigeschmack, denn sie erinnerte ihn gerne daran, dass im Gefüge seiner eigenen Familie eine schmerzhafte Lücke klaffte. In diesen glanzvollen Tagen dachte er besonders oft an sie, jene Frau, die noch immer alles für ihn bedeutete. Die sein Leben erleuchtet hatte wie eine Kerze die Dunkelheit und deren Flamme binnen einer einzigen tragischen Nacht auf ewig verloschen war. Zurückgeblieben war neben Schmerz und verblassenden Erinnerungen jedoch auch die Verantwortung für die drei gemeinsamen Kinder, die plötzlich auf seinen Schultern ruhte und schnell zu seinem Hauptantrieb wurde. Womöglich hätte er sich in seiner Trauer verloren, hätten nicht Sigrid, Bain und Tilda seine ganze Aufmerksamkeit gefordert. 

Inzwischen waren drei Jahre ins Land gezogen und aus der anfänglichen Not hatte sich eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft entwickelt. Sigrid, beinahe volljährig, kümmerte sich alleine um den Haushalt, während Bain inzwischen alt genug war um ihm mit dem Kahn zur Hand zu gehen. Der Junge bewies schon jetzt viel Geschick und hatte bei den älteren und erfahreneren Bootsführern inzwischen genug Anerkennung gesammelt, um es später in deren Reihen einmal leicht zu haben. Tilda hingegen legte eine ungeheure Wissbegierde an den Tag, las alles was ihr unter die Finger kam und konnte es kaum abwarten ihren Vater oder Sigrid zum Markt zu begleiten, wo sie die Kaufleute bei den Verhandlungen beobachtete und versuchte, sich jedes Detail darüber einzuprägen. Vor kurzem hatte sie mit großem Ernst verkündet, sie wolle später ebenfalls Händlerin werden und dann dafür sorgen, dass alle schöne Kleider und genug zu essen hätten. Bain hatte sie aufgezogen, Sigrid Ermutigungen ausgesprochen und Bard war einfach daneben gesessen und hatte sich im Stillen gefragt, wann genau seine Jüngste so erwachsen geworden war. Alle drei, um ehrlich zu sein. Es machte ihn stolz, doch im Moment wünschte er sich, sie könnten einfach nur Kinder sein.

Die trübsinnigen Gedanken ließen ihn nicht los und begleiteten ihn weiter bis zu dem weitläufigen Rund direkt vor dem Rathaus, das den größten Platz von Esgaroth darstellte und auf welchem der Hauptmarkt gastierte. Die Plattform bildete eine kleine Halbinsel, die zu zwei Dritteln von einem Kanal umspült wurde in dem Handelsboote dümpelten. Einige Händler verkauften ihre Waren direkt von Deck, andere hatten es vorgezogen Zelte und Stände auf dem hölzernen Grund und den umliegenden Stegen zu errichten. Es herrschte das übliche geschäftige Gewimmel und nicht jeder war hier, weil er Waren erwerben wollte. Viele nutzten diesen Ort um Freunde und Bekannte zu treffen und den neuesten Tratsch auszutauschen. Die Luft war erfüllt von Stimmengewirr, Gelächter und lauten Rufen; mal mehr, mal weniger herzlichen. Bard schlängelte sich geschickt zwischen den Ständen und schwatzenden Besuchergrüppchen hindurch, deren einziges Thema die bevorstehenden Festtage zu sein schienen.

Er blickte auf als jemand unerwartet seinen Namen rief und entdeckte Peridur, der ihm zuwinkte und sich ein wenig mühsamer durch die Besucher drängte als der Kahnführer. Schuld daran waren das Bündel, das er geschultert hatte und der Jutesack, der unter seinem rechten Arm klemmte. Bard kannte den alternden Zöllner lange genug um ihn als Freund bezeichnen zu dürfen, deshalb blieb er geduldig stehen und wartete, bis Peridur aufgeschlossen hatte.

„Seid gegrüßt, Bard“, grinste dieser und tippte sich mit der Linken an den Rand der speckigen Fellmütze. „Wohin so eilig?“

„Runter zu den Westdocks. Ich habe noch eine Ladung, die zur Flussmündung gebracht werden will“, erwiderte dieser wahrheitsgemäß, was Peridur zu einem Kopfschütteln veranlasste.

„Und das noch am Tag der Julfeier! Ihr solltest längst bei Eurer Familie sein und das Fest mit ihnen vorbereiten.“

In seiner Stimme schwang gutmütiger Tadel, den er jeden anderem in seiner Stimmung übel genommen hätte, doch Bard verkniff sich einen scharfen Gegenkommentar. Peridur meinte es nicht böse und es sich mit ihm zu verscherzen brachte kaum etwas. Stattdessen zwang er sich zu einem schmalen Lächeln und meinte: „Das gleiche könnte ich Euch auch raten.“

Der Alte verzog das Gesicht ein wenig und rückte das Bündel zurecht. 

„Was glaubt Ihr was ich hier mache? Meine Frau wollte unbedingt einen Baum haben, obwohl die eh schon schwer zu bekommen sind. Ich habe ihr noch gesagt, dass die Möglichkeiten kurz vor dem Fest gering sind.“ Er klopfte auf den Jutesack und ein Anflug von Stolz blitzte in seinen hellgrauen Augen. „Zum Glück kenne ich ein paar Wege, um noch einen zu ergattern. Nicht der größte und nicht der schönste, aber immerhin eine echte Frosttanne.“

Seine Freude war in der Tat nicht unbegründet. Rund um Esgaroth gab es nur wenige Haine, in denen die immergrünen Bäume gut genug gediehen um halbwegs ordentliche Größen zu erreichen. Nach Norden hin, wo sich der Einsame Berg befand, war der Boden so karg, dass höchstens Kiefern und vereinzelte Fichten überdauerten. Und im Westen erstreckte sich zwar über viele Meilen der Düsterwald, doch kein Bewohner der Seestadt würde es wagen sich auch nur an einem einzelnen Schössling  zu vergreifen, geschweige denn etliche Bäume gleichzeitig zu fällen. Zu viele Geschichten kursierten über den Wald und seine elbischen Bewohner, die diesen Frevel an ihrer Heimat niemals ungestraft dulden würden. 

Es hatte Zeiten gegeben, in denen hatte auch Bard jedes Jahr einen kleinen Baum mit nach Hause gebracht, den sie zusammen mit den Kindern schmückten – Äpfel und Nüsse als Gaben für ein ertragreiches Jahr und bunte Bänder und Schleifen für persönliche Wünsche. Er erinnerte sich daran, wie sehr die Augen der Jüngsten geleuchtet hatten, wie fröhlich das Lachen klang, dass an diesem Tag durch das Haus wehte. Diese Jahre waren längst verblasst und selbst wenn er gewollt hätte wäre es ihm kaum möglich gewesen, jetzt noch das Geld für eine Tanne aufzubringen. 

Und dennoch… nun, wo er mit Peridur darüber sprach verspürte er zum ersten Mal seit langer Zeit den Wunsch, die Fröhlichkeit  erneut aufleben zu lassen und seinen Kindern wieder ein echtes Julfest zu bescheren.

„Bard?“, durchbrach die Stimme des Zöllners seine Gedanken und holten ihn wieder auf den Marktplatz zurück. „Ist alles in Ordnung? Ihr seht so nachdenklich aus.“

„Ja, ja, alles bestens“, erwiderte Bard. „Wenn Ihr möchtet begleite ich Euch ein Stück. Das da sieht schwer aus.“ 

Er deutete auf das Bündel, das der Ältere ihm nur zu gerne überreichte.

Seite an Seite setzten sie ihren Weg fort. Peridur berichtete weiter über die noch ausstehenden Vorbereitungen und Bard hörte ihm mit halbem Ohr zu, nickte gelegentlich und grübelte bereits wieder darüber, wie er es anstellen sollte mit ein paar wenigen Kupferstücken ein Julfest auszurichten. 

Seine Gedanken kreisten noch um die Frage, als sich wie aus dem Nichts eine Hand auf seine Schulter legte und ihn zurückhielt.

„Stopp, nicht weiter! Kommt hier drunter, alle beide!“

Obwohl die Worte gezischt waren, erkannte er die Sprecherin sofort und zögerte nicht, den Befehlen Folge zu leisten und rasch unter das Vordach des Verkaufszeltes zu schlüpfen. Peridur folgte ihm gezwungenermaßen, da der Kahnführer immer noch dessen Bündel bei sich trug.

Eine Sekunde später fanden sie sich zwischen Stoffballen aller Größen und Farben wieder, deren Besitzerin nun rasch nachfolgte.

„Hilda“, begrüßte Bard die Tuchhändlerin mit einem Nicken. „Was ist los?“

„Wächter“, informierte Hilda Bianca die beiden Männer knapp und warf einen Blick über die Schulter. „Wenigstens ein Dutzend, die quer über den Markt kommen und einen ziemlichen Lärm veranstalten. Angeführt werden sie von unserem Freund Alfrid.“

Nun verstand Bard ihre Reaktion und war froh, dass sie ihn vorgewarnt hatte. Vor den Gardisten der Stadtwache fürchtete er sich nicht, aber er wusste, dass der Bürgermeister der Seestadt seit geraumer Zeit ein Auge auf ihn hatte. Dabei musste er sich vor allem vor Alfrid, dem schmierigen Lakaien und Sekretär des Stadtoberen, in Acht nehmen. Der kleine, frettchengesichtige Mann schien in Bard so etwas wie seinen persönlichen Erzfeind zu sehen und ließ keine Gelegenheit aus, das Verhalten des Kahnführers auf den kleinsten Fehltritt hin zu beobachten. 

Der von Hilda angekündigte Tumult ließ nicht lange auf sich warten. Kaum eine Minute verging, ehe die ersten Lanzen- und befiederten Helmspitzen auftauchten. Stimmen wurden laut; Marktbesucher wurden zur Seite gestoßen, um Platz für den Trupp zu schaffen. Alfrid konnte er nicht sehen, dafür aber umso besser hören. 

„Aus dem Weg! Macht Platz im Namen des Bürgermeisters!“

„Was geschieht da?“, raunte Peridur und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Auch Bard linste zwischen den Stoffballen hindurch und sah, dass die Gardisten etwas in ihrer Mitte trugen. Er sah dunkles Grün zwischen den weinroten Roben aufblitzen und erkannte zu seinem Erstaunen, dass es sich dabei um einen Nadelbaum handelte. 

„Eine Tanne, und was für ein Prachtexemplar“, bestätigte Peridur seine Vermutung gleich darauf. „Bestimmt drei Meter lang, wenn ich das richtig erkennen kann.“

„Eine Frosttanne für den Marktplatz?“, mutmaßte Hilda angesichts der Größe, doch der alternde Zöllner schüttelte das ergraute Haupt.

„Für das Rathaus, vermute ich eher. Es werden schon seit Jahren keine Bäume mehr für die Bürger aufgestellt. Zu teuer für die schmale Stadtkasse.“

„Anscheinend aber nicht für seine privaten Räumlichkeiten“, erwiderte Bard leise. Seine Hände, die auf einem Ballen blauer bestickter Seide lagen, schlossen sich zu Fäusten und er verfolgte mit finsterem Blick den Zug, der sich über den Marktplatz bewegte und alsbald in Richtung Rathaus verschwand.

Kaum waren die Uniformierten außer Sichtweite, drückte er Peridur sein Bündel in die Hände und schlüpfte aus dem Zelt.

„Bard! Wo wollt Ihr so schnell hin?“, rief ihm dieser nach, verwundert über den abrupten Aufbruch des Kahnführers.

„Zu den Docks!“, antwortete dieser, hob die Hand zum Gruß und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Menge. Hilda und Peridur blieben zurück und sahen ihm mit großer Verwunderung nach.

„Was sollte das denn nun?“, murmelte Peridur vor sich hin, während er sein Hab und Gut aufnahm und erneut auf seine gebeugten Schultern beförderte. Hilda ließ den Blick vom Platz zu dem Jutesack schweifen und fragte einer plötzlichen Eingebung folgend: „Was ist da drin?“

„Ebenfalls eine Tanne für das Julfest“, erwiderte Peridur, nicht verstehend was sie damit genau sagen wollte. Auf dem Gesicht der Händlerin breitete sich jedoch ein verstehendes Lächeln aus.

„Ich wette, Ihr habt vorhin darüber gesprochen“, schlussfolgerte sie und der Zöllner bestätigte mit einem Nicken. 

„In der Tat, aber ich verstehe nicht, was das mit Bards Verhalten zu tun habe haben soll.“

„Er ist ein einfacher Kahnführer und hat drei Kinder zu versorgen. Was glaubt Ihr, wieviel fällt da wohl ab? Bestimmt nicht genug, um ein ordentliches Julfest zu feiern.“ Aus Hildas Tonfall sprach ganz der der Geschäftsfrau, die versuchte die finanzielle Situation eines Kunden abzuschätzen. 

Peridur runzelte nachdenklich die Stirn, nicht ganz sicher was er von der  Vermutung der Händlerin halten sollte.

„Was macht Euch da so sicher?“, hakte er nach und bekam ein leises Schnauben zu hören.

„Intuition. Und die Tatsache, dass ich diesen Blick nur zu gut kenne – wenn jemand etwas sieht, dass er haben möchte und sich nicht leisten kann“, erklärte sie rundheraus, ehe auch sie die Stirn gedankenvoll furchte. „Sagt, hat Bard Euch schon einmal einen Gefallen getan, ohne eine Gegenleistung dafür zu fordern?“

„Einen? Etliche trifft es wohl besser“, entgegnete Peridur, dem langsam aufging auf was die Frau hinaus wollte. „Und eine Gegenleistung wollte er noch nie. Euch?“

„Sicher. Und ich wette, es gibt noch etliche mehr, denen es genauso geht“, erwiderte sie. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus. „Peridur, ich glaube, ich habe da eine Idee…“

***

Es dämmerte bereits, als Bard den letzten Knoten in das Halteseil der kleinen Bark knüpfte, noch einmal probehalber daran zog und befand, dass das Boot sicher genug vertäut war. Er richtete sich auf, drückte den schmerzenden Rücken durch, nahm den Beutel auf der neben ihm auf den Planken stand und machte sich langsam auf den Weg zu dem kleinen Häuschen, dass er zusammen mit Sigrid, Bain und Tilda bewohnte. Der Wind frischte vom Wasser her kommend auf, trieb die ersten, winzigen Schneeflocken vor sich her und ließ ihn frösteln. Mit einer Hand zog er den Fellkragen seines Mantels ein wenig höher und stieß einen Seufzer aus, der als weiße Wolke vor seinen Lippen sichtbar wurde ehe er verging. 

Mit müden Schritten stapfte er durch die verlassenen Straßen und Gassen Esgaroths. Das geschäftige Treiben des Tages war verstummt und alles was ihn begleitete waren die Stille und die Lichter, die in den unzähligen Bleiglasfenstern der Häuser glommen. Dahinter saßen Freunde und Verwandte zusammen und feierten den Beginn der Zeitenwende, der das Ende der dunklen Tage verkündete. Auch er würde zu seiner kleinen Familie zurückkehren und er würde es immerhin nicht mit völlig leeren Händen tun. In seinem Beutel befanden sich ein wenig Reisig, das sie über den Kamin hängen konnten, einige Meter gefärbtes Krappband, Maronen, eine Handvoll Nüsse und ein Laib süßes Gewürzbrot. Der Geldbeutel an seinem Gürtel war bis auf zwei Kupferstücke leer, doch das war es ihm diesmal wert. Die ausstehende Summe für den Warentransport zur Flussmündung würde er gleich morgen bei dem Händler einfordern der ihm den Auftrag erteilt hatte, egal ob es diesem passte oder nicht.

Bards bescheidene Zufriedenheit hielt an, bis er die Stiegen zu seiner Haustür erklommen hatte und abrupt stehen blieb, weil ihm etwas den Weg versperrte. Im ersten Moment glaubte er, er habe sich im Aufgang geirrt, doch die vertraute Fassade mit der leicht schief hängenden Tür ließ keine Zweifel aufkommen, dass er richtig war. 

An dem hölzernen Türblatt lehnte ein Baum. Nicht irgendeiner, sondern ein Nadelbaum, gerade einmal hüfthoch und nicht sonderlich dicht, aber eindeutig eine Frosttanne. Ihre dunkelgrünen Nadeln schimmerten wächsern und er nahm den Duft von Harz wahr, als er einen weiteren Schritt darauf zu wagte. Darunter fanden sich mehrere Kisten, Körbe und Säcke, welche die Türschwelle nahezu begruben und an die kleine Zettel geheftet waren. Vorsichtig zupfte er eines der Papierstücke ab und versuchte, die kleinen Zeichen im schwindenden Licht zu entziffern. 

Für die geflickten Netze. Darek

Das war im letzten Sommer gewesen und er erinnerte sich noch gut daran. Darek waren bei einem Zusammenstoß mit zwei Betrunkenen drei Finger gebrochen worden und Bard hatte versprochen sich darum zu kümmern, dass seine Arbeit nicht liegen blieb. Ein Blick in den Beutel förderte nun einige saftige, glänzende Äpfel zum Vorschein. 

Die zweite Nachricht lautete ähnlich, ebenso die darauffolgenden. Je mehr er davon las, desto klarer wurde ihm, was sich hier eigentlich abspielte. Es waren Dankesbekundungen für seine Hilfe, ein wenig Ausgleich für die Mühen, die er für andere geleistet hatte und für die er nicht willens war etwas zu verlangen, einfach weil er wusste, dass die Betroffenen ebenso wenig Reichtümer besaßen wie er selbst. Die einfachen Leute der Seestadt regelten ihre Probleme meistens miteinander und vergalten es mit Gegenleistungen, in diesem Fall allerdings auf eine Art und Weise, die er niemals erwartet hätte. Obwohl er kaum zur Sentimentalität neigte wuchsen mit jedem Wort Freude und Rührung über diese kleinen, aufrichtigen Gesten. 

Zu allerletzt suchte er die Botschaft an der Tanne und fand sie zwischen die Zweige gebunden. Er lachte leise auf, als ihm zwei wohlbekannte Namen ins Auge sprangen und er dankte Peridur im Stillen dafür, dass er seine Verbindungen nicht nur hatte spielen lassen, um seiner eigenen Familie eine Freude zu bereiten.

Noch immer lächelnd schulterte er das Bäumchen und stieß die Haustür auf. Sofort schlugen ihm behagliche Wärme und der verlockende Duft nach frischgebackenem Brot entgegen, der die freudige Stimme seiner jüngsten Tochter folgte.

„Vater ist da!“

Gleich darauf wurde er stürmisch von einem kleinen Wirbelwind aus bunten Röcken und fliegenden Zöpfen umarmt.

„Nicht so hastig, dein Vater ist ein alter Mann“, lachte Bard und strich ihr liebevoll über die zerzausten Haare.

„Gar nicht wahr“, wiedersprach Tilda sofort und zog die mehlbestäubte Nase kraus, „es gibt viel ältere als dich!“

„Wenn du das sagst, muss es ja wohl stimmen“, grinste er zurück und wischte ihr mit dem Daumen ein paar weiße Flecken aus dem Gesicht.

Tilda war so sehr in ihre Wiedersehensfreude vertieft, dass sie den Baum gar nicht bemerkte. Wohl aber Bain, der das Feuer im Kamin nachgeschürt hatte und nun zu ihnen rüberkam, um seinen Vater zu begrüßen. Die Augen des Jungen wurden groß, als er den schmalen Stamm über Bards Schulter bemerkte.

„Ist das etwa eine Frosttanne?“, fragte er und brachte Tilda damit augenblicklich zum Verstummen. 

Bard nickte feierlich. 

„Ich dachte es ist an der Zeit, dass wir wieder einmal richtig Jul feiern, meint ihr nicht?“, erwiderte er und tauschte einen langen Blick mit Sigrid, die bei dem Kochfeuer geblieben war und deren veilchenblaue Augen ebenso überrascht und erfreut glitzerten wie die ihrer jüngeren Geschwister. „Helft ihr beiden mir beim reintragen? Draußen vor der Tür steht noch mehr.“

Die Kinder machten sich mit Feuereifer daran, die unverhofften Gaben in die Wohnstube zu bringen und staunten darüber, welche Schätze sich unter ihnen befanden.

„Orangen! Schau mal Bain, die kommen von ganz weit weg aus dem Süden!“

Verzückt hielt Tilda ihrem Bruder eine faustgroße Frucht unter die Nase, die einen herrlichen Duft verströmte. Bain interessierte sich allerdings herzlich wenig dafür, immerhin hatte er in einem der Säcke soeben ein großes Stück Rauchfleisch entdeckt. Sigrid war bereits wieder dazu übergegangen an der Küchenzeile zu hantieren und rief die Jüngeren ab und an zur Ordnung, wenn sie es allzu gut mit ihrer Begeisterung meinten. Das Strahlen wich dabei jedoch keine Sekunde aus ihrer Miene.

Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Bard sie zum Schmücken des Baums rief, der seinen Platz inzwischen in der Ecke neben dem Kamin gefunden hatte und von mehreren dicken Holzscheiten aufrecht gehalten wurde. Bain und Tilda machten einen regelrechten Wettbewerb daraus, wer mehr Wunschbänder an die Zweige band. Wer tatsächlich gewann war am Ende nicht mehr festzustellen, doch es spielte letztendlich auch keine Rolle. 

Behutsam befestigte Sigrid zum Schluss noch einige Talglichter auf den dünnen Zweigen und steckte sie mit einem Span nacheinander an, bis der ganze Baum in goldenen Feuerschein getaucht war. Tilda, die auf dem Boden vor dem Kamin hockte, kommentierte den Anblick mit einem leisen: „Das ist wunderschön.“ Sie drehte sich halb zu ihrem Vater um und musterte ihn von unten herauf. „Glaubst du, Mutter kann das auch sehen?“ 

Bard, der es sich in dem Sessel bequem gemacht hatte und eben dabei war seine alte, abgegriffene Pfeife zu stopfen, hielt mitten in der Bewegung inne. Bain versetzte Tilda mit dem Ellbogen einen leichten Stoß in die Seite und sah sie vorwurfsvoll an, als habe sie ein Thema erwähnt das über das nicht gesprochen wurde, während Sigrid ihr gleichzeitig beschützend die Hand auf die Schulter legte. Die Stille, die daraufhin entstand, wurde von Sekunde zu Sekunde drückender, bis Bard schließlich aufblickte und jedes seiner Kinder fest ansah. Das Spiel der Flammen zauberte helle Lichtpunkte in seine dunklen Augen und das Lächeln auf seinen schmalen Lippen wurde ein wenig melancholisch. 

„Ich glaube ganz fest daran“, antwortete er schließlich. „Und jetzt Kopf hoch. Heute ist Julfest, da hätte sie bestimmt keine betrübten Gesichter gewollt.“

Er schnupperte vernehmlich. 

„Ich glaube, das Essen ist fertig. Wer ist wohl der schnellste beim Tischdecken, hm? Für den Sieger gibt es doppelten Nachtisch.“

Seine Worte waren noch nicht ganz verklungen, als die beiden Jüngsten auch schon aufgesprungen und zu dem wuchtigen Eichentisch hinüber geflitzt waren. Er selbst und Sigrid blieben noch einen Augenblick zurück, wobei die junge Frau ihn mit einem gedankenvollen Blick bedachte. 

„Du hast den beiden eine große Freude bereitet. Vielen Dank dafür.“

„Ich hoffe doch, ich konnte dich damit ebenfalls erfreuen.“

„Schon… aber wo kommen plötzlich all die Sachen her?“

Sie stellte die Frage ein wenig zögerlich und mit gesenkter Stimme, als befürchte sie die Antwort würde ihr nicht gefallen. Bard jedoch beruhigte sie, indem er die kurze Botschaft herauszog, die Hilda und Peridur in den Zweigen der Tanne hinterlassen hatten. 

„Nachbarschaftshilfe auf Seestadt-Art“, erläuterte er grinsend, erhob sich und streckte seiner Ältesten die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. 

„Und jetzt sollten wir uns beeilen. Sonst bekommen wir gar keinen Nachtisch mehr ab.“

***

Es wurde spät in der Nacht, ehe im Haus des Kahnführers allmählich Ruhe einkehrte. Die Kerzen waren herunter gebrannt, die Scheite im Kamin glühten nur noch ein wenig und spendeten gerade genug Licht um sich zurechtzufinden. Die Stimmen und das Gelächter waren verstummt und ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen gewichen. Lediglich Bard war noch wach, räumte leise die letzten Reste ihrer kleinen Feier weg und drehte dann noch einmal gewohnheitsgemäß eine Runde durch die beiden Räume, in denen sie schliefen. Behutsam zog er Bains Decke höher, ehe er zu den Mädchen hinüber schlich. Er hauchte Sigrid einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel, ehe er Tildas Decke zurechtzupfte und ihr behutsam über den Kopf strich. Gerade als er sich aufrichten wollte kam Bewegung in die kleine Gestalt und ein Paar helle Augen blinzelten ihn verschlafen an. 

„Vater?“

„Gleich hier neben dir. Schlaf jetzt, Tilda, es ist spät.“

„Das war ein schöner Abend. Danke“, murmelte sie und drehte sich auf die Seite. „Machen wir das nächstes Jahr wieder?“

Sie schlief bereits wieder, als er ihr leise antwortete.

„Ja. Das machen wir. Versprochen.“

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