Arda Fanfiction

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Das Eis der Wintersonne

von Feael Silmarien

Kurzgeschichte

"Also hast du es dir immer noch nicht anders überlegt?" Der Blick des Fürsten von Ithilien war düster.

Die noch düsterere, schwarzhaarige Gestalt vor ihm blieb kalt. "Meine Entscheidung steht fest."

Stille. Lange, nachdenkliche Stille, erfüllt von der ewigen Winterkälte des Fürstensohnes in seinem gepolsterten Rollstuhl.

"Ich verstehe es einfach nicht", seufzte die Fürstin Éowyn. "Du mochtest sie doch... Du hast sie dir selbst ausgesucht! Und jetzt kannst du sie plötzlich nicht mehr leiden."

"Ich kann Dummheit einfach nicht ab", antwortete Elboron monoton und emotionslos.

"Ich hatte noch nie den Eindruck, dass sie dumm ist. Ich finde sie sehr nett."

"Du musst mit ihr ja auch nicht den ganzen Tag zubringen."

"Aber -"

"Wenn Elboron sie so entschlossen nicht mehr haben will, können wir nichts mehr dagegen tun", unterbrach Faramir seine Gemahlin und etwas Wissendes schwankte in seinem Ton mit. "Hauptsache, er bereut seine Entscheidung nicht, wenn es bereits zu spät ist."

"Das habe ich nicht vor", brummte Elboron unbeirrt.

Faramir hob nur misstrauisch eine Augenbraue.

"Nun denn", sagte er schließlich. "Ich werde sie nach Minas Tirith zurückschicken. Aber erst, wenn sie wieder gesund ist. Seit heute Morgen hat sie nämlich ein fürchterliches Fieber."

"Wenn sie sich ständig im Schnee herumwälzt, geht es ja nicht anders."

Mit diesen Worten drehte Elboron seinen Rollstuhl geübt zur Tür und rollte hinaus auf den dunklen Korridor. Nach dem von Kerzen und Kaminfeuer hell erleuchteten Raum kam es ihm hier fast so dunkel vor wie bei Nacht, obwohl es erst später Nachmittag war. Er mochte diese Dunkelheit ebenso sehr wie er sie hasste. Sie war sein Zuhause, in ihr fühlte er sich geborgen und geschützt vor dem so gefürchteten Licht der Sonne. Und doch... Hier war er allein, ganz einsam und allein, vollkommen sich selbst und seinen gelähmten Beinen überlassen. Seiner Furcht, seinem Hass, seinem Schmerz.

Es war nun fünf Jahre her. Seit fünf Jahren hatte er keinen einzigen Schritt mehr getan. Seine Beine existierten nur noch nutzlos vor sich hin und dass er nicht sein ganzes Leben im Bett verbringen musste, hatte er dem klugen Tischler der Emyn Arnen zu verdanken, der ihm kurz nach jenem Unfall den ersten - inzwischen kaputten - Rollstuhl zusammengezimmert hatte. Im Laufe der Jahre hatte der Tischler seine Konstruktion immer weiter perfektioniert und schon seit drei Jahren konnte sich Elboron dank der großen Hinterräder, die er mit seinen Armen antrieb, selbstständig fortbewegen.

Diesen bis jetzt perfektesten Rollstuhl hasste und fürchtete Elboron wie seine Lähmung, denn er gab allen außer ihm selbst die dumme Illusion, er könne noch ein halbwegs vollwertiges Leben führen. - Was für ein grässlicher, zynischer Witz! Sie alle hatten gut reden, sie konnten ja noch gehen, laufen, springen, reiten, treppensteigen, exerzieren, auf unebenen Wegen spazieren... Der Verlust dieser Bewegungsfreiheit erschien ihnen nicht so schlimm, man könne ja damit leben. - Schon mal darüber nachgedacht, was die Fähigkeit zu gehen für eine Gabe ist? Ohne sie konnte man ja nur essen, schlafen und ab und zu etwas lesen oder schreiben. War das denn ein vollwertiges Leben? Eingeschlossen in einem Gemäuer, in dem du dich nur auf dem Erdgeschoss frei bewegen kannst? Wäre es nicht besser, menschlicher...

Die Bewegungen seiner Arme, die seinem Rollstuhl eine ohnehin schon verhältnismäßig hohe Geschwindigkeit verliehen, wurden energischer.

Wäre es nicht menschlicher, ihn einfach sterben zu lassen?

Welchen Sinn hatte sein Leben? Wem nützte es? Konnte man es überhaupt noch als Leben bezeichnen?

Seine Bewegungsfreiheit war durch die Lähmung so sehr eingeschränkt, dass für ihn die meisten Möglichkeiten, sich das Leben zu nehmen, überhaupt nicht in Frage kamen: Um sich zu erhängen, musste er aufstehen, um sich irgendwo hinabzustürzen, musste er einen erhöhten Ort selbstständig erreichen können, um sich zu ertränken, brauchte er ein tiefes Gewässer, zu dem er erst hinkommen musste. Übrig blieben zwei Möglichkeiten: sich erstechen oder die Schlagadern öffnen. Doch zu beidem hatte er bis jetzt nicht den Mut gehabt und er hasste sich dafür.

Er hatte eine andere Methode, Selbstmord zu begehen. Eine langsamere, tückischere... Aber am Ende führte sie immerhin zum Tod.

Er winkte einen vorbeilaufenden Diener zu sich: "Hast du es in meine Gemächer gebracht, Ardamir?"

Der Mann erstarrte mitten im Schritt und ein wenig Farbe wich aus seinem Gesicht.

"Verzeiht, Herr, aber Euer Vater..."

"Der schon wieder!", kreischte der Fürstensohn und schmetterte Ardamir vor Wut einen Schlag in die Magengrube. "Warum muss er sich immer einmischen? Das ist meine Angelegenheit! Und ich bin kein kleines Kind mehr!"

Nur mit Mühe unterdrückte er seine Zornestränen und rollte so schnell wie er nur konnte weiter, den sich vor Schmerz krümmenden Diener hinter sich lassend. Da er hauptsächlich auf seine Arme angewiesen war, waren sie mit den Jahren als Ausgleich für die gelähmten Beine sehr stark geworden und seine Schläge waren meist nicht so leicht zu verkraften.

Dieser Gedanke verschaffte ihm ein bisschen Genugtuung. Der Schlag gegen Ardamir war immerhin ein kleiner Beginn des Racheaktes, den er gegen seinen Vater für das eben auferlegte Alkoholverbot vollführen wollte. Er überlegte ernsthaft, ob dieser Racheakt nicht vielleicht im Öffnen der Adern bestehen sollte...

Er erreichte sein verhasstes Lieblingsfenster, von dem aus er meist das lebendige Treiben draußen beobachtete. Es wurde Abend und zärtlich weiße Schneeflocken wirbelten fröhlich vor einem immer mehr zunehmenden Schwarzblau. Doch in seinen Erinnerungen war es taghell, der frisch gefallene Schnee glitzerte munter in der Wintersonne und Níniel lieferte sich mit den Mägden des Hauses eine Schneeballschlacht. Die Mädchen lachten, kicherten und kreischten wie kleine Kinder und purzelten glücklich durch das sonnige Weiß.

"Ich kann Dummheit nicht ab", wiederholte er leise, wandte sich ab und rollte den unbeleuchteten Korridor wieder zurück.

Eine andere Erinnerung kam hoch, eine viel ältere. Die Erinnerung an Blut, ganz, ganz viele Tropfen auf strahlend weißem Schnee, die rot aufblühten und leuchteten wie Rubine. Der Schmerz in seinem gesamten Körper und die Panik, als er feststellte, dass er seine Beine nicht mehr bewegen konnte.

Als Kind hatte er das Klettern geliebt. Es deutete sich bei ihm sogar ein Talent dafür an. Es gab keinen Baum um das Anwesen herum, dessen Spitze er nicht schon mal erreicht hätte. Eines Winters, da war er elf Jahre alt gewesen, hatte er beschlossen, den Schwierigkeitsgrad ein wenig zu heben und alle Bäume, die er im Sommer mit Leichtigkeit meisterte, zu erklettern. Es war ausgerechnet der dritte, sein Lieblingsbaum, bei dem sein Fuß nur knapp unter der Spitze auf einem verschneiten Ast ausrutschte. Der Baum war sehr hoch gewesen und der Fall pure Angst. Brechende Äste, kleine Zweige, die ihm das Gesicht zerkratzten, heftiges Aufschlagen auf dicke Äste und schließlich der Aufprall auf die verschneiten Wurzeln. Darauf mehrere Brüche, eine Lähmung und die geringe Aussicht aufs Überleben. Doch zu seinem jetzigen Verdruß hatte der Heiler, der eigens für diese Aufgabe aus Minas Tirith angereist war, ihn durchgekriegt und nur seine Lähmung nicht heilen können.

Seitdem war der inzwischen siebzehnjährige Elboron ein Krüppel, hilflos wie ein altersschwaches Weib und in so gut wie allem, was er tat, auf fremde Hilfe angewiesen. Neid blühte ihn ihm, Neid auf alle, die ihre Beine gebrauchen konnten. Neid und abgrundtiefer Hass. Denn keiner von jenen Glücklichen war fähig, sein Leid zu spüren und ihm wirklich beizustehen. In dieser Hinsicht waren sie alle hässliche Krüppel.

Zwei Jahre war es nun her, dass Níniel an den fürstlichen Hof seines Vaters gekommen war. Elboron hatte die Fürsorge seines alten Kindermädchens satt gehabt und seinen Vater überredet, einen Ersatz zu finden. Jemanden, der ihm im Alltag half und seinen Rollstuhl bei Spaziergängen schob. Eine Handvoll freiwilliger Frauen war aus Minas Tirith gekommen, von denen die meisten vom Alter her locker seine Urgroßmütter hätten sein können. Er hatte sich für Níniel entschieden, die jüngste unter den Freiwilligen, nur ein halbes Jahr älter als er. Es war ihm ganz egal gewesen, dass sie nicht besonders kräftig war. - Die alten Frauen waren es ja auch nicht. Und die kräftigen Leute hatten eh alle andere Interessen als einen Krüppel durch die Gegend zu schieben.

Nun würde Níniel fortgehen. Fortgehen, weil er, der sie ausgewählt hatte, sie nicht mehr sehen wollte. Nicht mehr sehen konnte!

"Ich kann Dummheit nicht ab", zischte er erneut, als ein tiefer Schmerz in ihm hochstieg.


Es war ein klarer Tag. Die Sonne ließ den Schnee zauberhaft leuchten, doch nicht hell genug, um Níniels glückliches Lächeln zu überstrahlen, als sie ihn durch das Tor des Anwesens hinausschob.

"Wie schön!", rief sie begeistert. "So, als ob das Wetter mitfeiern würde!"

Elboron, der in seinem glänzend schwarzen Pelzmantel wie eine düstere Wolke schlechter Laune dahockte, brummte nur etwas Unverständliches in sich hinein.

"Denn wisst Ihr, was heute für ein Tag ist?"

"Was?", knurrte er desinteressiert.

Sie hielt den Rollstuhl an, tänzelte herum, baute sich vor ihm feierlich auf und verkündete: "Heute vor genau zwei Jahren haben wir uns das erste Mal getroffen und Ihr habt mich als Eure Pflegerin auserwählt!"

"Aha", murrte er unberührt.

"Nicht immer so düster!", rief sie munter und wagte es, mit ihrer Hand sein Kinn zu berühren und sein bleiches Gesicht nach oben zu drücken. "Das ist schlecht für die Gesundheit! Wie wäre es mit einem Lächeln? Schaut doch, das Wetter ist so schön! Seht, der Schnee, die Sonne, all das Licht und der weiße Wald! Wie ein Märchen!"

"Ich hasse Märchen. Sie sind reiner Unsinn für dumme, kleine Kinder."

"Aber Kind sein ist doch toll! Kinder sind glücklich!"

"Kinder sind dämlich."

"Ihr seid doch auch einmal Kind gewesen!", meinte sie schulterzuckend, ging um seinen Rollstuhl herum und schob ihn weiter.

"Ja, ich bin einmal Kind gewesen und das ist der Preis dafür!" Er schlug mit der Faust auf die Armlehne.

"Elboron ist ein sehr ungewöhnlicher Mensch", seufzte Níniel, ohne dass ihre unerschütterlich gute Laune abnahm. "Nichts und niemand vermag es, sein Gemüt zu erheitern. Aber trotzdem ist er liebenswürdig."

Der Fürstensohn hielt es für besser, darauf überhaupt nicht zu reagieren. Es war kein Geheimnis, dass sie an ihm schon vom ersten Augenblick an einen Narren gefressen hatte. Sie hatte es niemals verborgen, es war überhaupt nicht ihre Art. Sie zeigte und sagte alles, was sie gerade dachte, ihre Gefühle strahlten nur so aus ihr heraus und es waren meist schöne Gefühle. Sie war niemals ärgerlich oder beleidigt, auf seine gelegentlichen Schimpftiraden reagierte sie mit einem ehrlichen, strahlenden Lächeln, als ob sie nicht verstehen würde, was er sagte, und wurde höchstens traurig darüber, dass es ihm nicht gut ging. Sie war eine kleine, fröhliche Sonne, die so hell leuchtete, dass keine Wolke sie verdecken konnte.

Manchmal fragte sich Elboron, was es für Narren von Eltern gewesen waren, die ihr den Namen Níniel, Tränenmädchen, verpasst hatten. Denn sie war ein stets heiteres Lichtwesen und wenn sie mal weinte, dann vor Trauer oder vor Glück. Sie war ein Sonnenkind, dessen Lächeln nie verblasste, das genaue Gegenteil von ihm.

"Bist du gerne hier in den Emyn Arnen?", fragte er plötzlich leise.

Ein fröhlicher "Ja!"-Ruf war die sofortige Antwort.

Er blickte nachdenklich in Richtung des Anwesens, zu den steinerden Burgmauern, den verschneiten, zuckerweißen Türmchen und Häuserdächern, den Bannern und dem geschäftigen Strom von Fußgängern und Karren. Das Fürstenhaus in den Emyn Arnen war in den Jahren nach dem Ringkrieg zu einem kleinen befestigten Dorf geworden mit eigenen Bauern, Jägern und Handwerkern. Bis auf den regen Verkehr mit Minas Tirith war es ein friedlicher, etwas verschlafener Ort, wo die Zeit nur langsam und sanft dahinrieselte wie die glitzernden kleinen Sternchen, die zarten Schneeflocken, die die Emyn Arnen und die bewaldeten Hügel um das Anwesen herum in einen stillen, weißen Traum tauchten.

Er hasste diesen Traum, diese leichte Schönheit, dieses drückende Gefängnis. Diese Illusion, dieses Trugbild, das mit seiner weißen Zärtlichkeit das schwarze Leid bedeckte.

"Wieso?", murmelte er, ohne seinen Blick von den verschneiten Zinnen abzuwenden.

"Weil es so schön ist!", zwitscherte Níniel mit einer hellen, entzückten Stimme. "Viel schöner als das steinerne Minas Tirith! Die Menschen hier sind so freundlich und der Wald und die Hügel so sanft! Ich mag besonders den Winter! Ich liebe es, wenn alles so herrlich weiß strahlt. Dann ist alles so anders, wie eine ganz, ganz andere Welt, eine sanfte, schöne und freundliche Welt, ein süßer Schlaf, ein stiller Traum. Und außerdem kann man sich im Winter auf den Frühling freuen, wo alles so frisch und lebendig erwacht und erblüht, und alles ist voll zauberhafter Düfte. Bald ist dann auch der fröhliche Sommer, dann der bunte Herbst und schließlich wieder der friedliche, weiße Winter. Ich freue mich schon auf den nächsten! Wenn ich abends am Kaminfeuer sitze und die Schneeflocken beobachte, dann denke ich schon daran, wie schön der nächste Winter sein wird, und hoffe, dass noch mehr Schnee fällt!"

Elboron schaute bedrückt zum Himmel. "Nicht alles ist so schön. Im Winter gibt es Schneestürme, im Frühling Überschwemmungen, im Sommer Trockenheit und im Herbst peitschenden Regen. Deine Sichtweise ist ganz schön eingeschränkt."

"Elborons auch", erwiderte ihr Stimmchen. "Warum erlaubt sich Elboron nicht, Schönheit zu sehen? Wo es ihn doch so traurig macht?"

"Weil das alles nur Einbildung ist."

"Elboron ist keine Einbildung."

"Was hat das jetzt mit mir zu tun?!", fuhr er zornig hoch. Níniel konnte manchmal auf wirklich verrückte Gedanken kommen.

"Elboron ist sehr schön. Nur leider sieht er selbst das nicht."

Ein gereiztes Knurren. "Und du willst behaupten, es zu sehen, ja?"

"Natürlich sehe ich es!" Sie brach beinahe in glückliches Lachen aus. "Elboron ist sehr schüchtern und versteckt sich in seinem schwarzen Pelzmantel. Aber in Wirklichkeit ist er ein sehr freundlicher Mensch, der den Winter und die Sonne und den Frühling, den Sommer und den Herbst genauso sehr mag wie ich."

Darauf konnte er nur den Kopf schütteln. "Deine Einbildungskraft ist erstaunlich."

Sie gluckste nur vergnügt und sie verfielen wieder in Schweigen, während verschneite, grüne Tannen an ihnen vorbeizogen, zwischen denen weißgezierte Laubbäume schlummerten und auf den Frühling warteten. Weiße Wellen säumten den ausgetretenen Pfad, manchmal besetzt mit kleinen Spuren von Vögeln und anderen Tieren, gelegentlich gab es auch größere Abdrücke von Wolfspfoten. Auch im Winter herrschte hier Leben, leise und unsichtbar, aber es war da, es war der Lauf der Zeit.

Sie waren inzwischen auf dem Rückweg, als er plötzlich befahl anzuhalten. Dann kehrte er dem Anwesen den Rücken und betrachtete von dem Hügel aus den mit Schnee gepuderten Wald, diesen stillen Winterschlaf, dieses Märchen am Rande des Schattengebirges. Ithilien trotzte der dunklen Nachbarschaft, und erstrahlte zu jeder Jahreszeit in all seiner Schönheit. Ihm war diese Schönheit immer nur für wenige Stunden vergönnt, für die Stunden der Spaziergänge, und jedes Mal, wenn sie hinaustraten, schmerzte in ihm der fürchterliche Gedanke, dass diese Freiheit nur eine Illusion war, dass sie ein Ende hatte, dass er in die Düsternis seiner Gemächer zurückkehren würde. Es grauste ihm jedes Mal vor diesen Spaziergängen.

"Sollen wir noch ein wenig länger hier bleiben?", fragte Níniel. "Ich glaube, Ihr mögt die Landschaft."

Er funkelte sie böse an und drehte seinen Rollstuhl sofort in Richtung Burgmauern. "Wie kommst du eigentlich immer auf solch dumme Ideen?"

"O nein, Elboron möchte bleiben!"

"Will er nicht!"

"Will er doch!"

Bei diesen Worten klatschte ein gut gezielter Schneeball gegen seine rechte Wange, begleitet von einem hellen Lachen.

"Das war die Strafe fürs Lügen!", erklärte sie sie ihm grinsend, als sie auf ihn zuhopste wie ein kleines Kind, das einen Spatz nachahmt. Ihre hellbraunen Zöpfchen wirbelten dabei fröhlich durch die Luft und sie strahlte glücklicher als je zuvor. Sie war überhaupt keine Schönheit, klein und mager und mit ihren riesigen Augen im eher kantigen und jungenhaften Gesicht. Sie war ein halbes Jahr älter als er, sah aber mindestens vier Jahre jünger aus, verstärkt durch ihren kindlichen Charakter.

Doch diese Kindlichkeit, die alle Bewohner der Emyn Arnen zu erweichen vermochte, hatte auf Elboron eine schmerzliche Wirkung.

"Für wen hältst du dich eigentlich?", zischte er boshaft. "Genug! Mir reicht's!"

Und mit vor Zorn aufflammender Kraft setzte er die Räder seines Rollstuhls selbstständig in Bewegung und arbeitete auf das Tor zu. Doch weit kam er nicht, denn der Weg stieg hier ziemlich steil an, jedenfalls viel zu steil für ihn. Seine Kräfte verließen ihn und er krallte seine Finger entschlossen und verzweifelt in die Räder, um nicht nach hinten zu rollen. Ein Fehler: Überwältigt von der Schwerkraft, rollte sein Stuhl zwar nicht, aber er kippte, kippte nach hinten, schlitterte und purzelte nach unten. Níniel schrie entsetzt auf.

Elboron landete im tiefen Schnee, nicht weit von seinem Rollstuhl, hilflos auf der Erde liegend. Wutschnaubend stemmte er sich mit den Armen hoch, zitterte, fluchte und unterdrückte seine Tränen. Hilflos auf andere angewiesen wie ein altersschwaches Weib. Er hasste sein Leben, er hasste seine Beine und in erster Linie hasste er sich selbst.

"Elboron!", rief Níniel ängstlich, als sie herbeigerannt kam. "Elboron!" Sie fiel neben ihm auf die Knie. "Elboron! Seid Ihr verletzt?"

Keuchend und zähneknirschend hob er den Kopf und enthüllte seine wutverzerrte Grimasse.

"Entlassen!" Seine Stimme war leise, hasserfüllt und dämonisch. "Auf der Stelle entlassen!"

Sie erstarrte wie vereist und blickte ihn unverwandt an, den Mund ganz leicht geöffnet, als wollte sie beten, dass es nicht wahr war, was sie da hörte. Das einzige, was sich an ihr rührte, waren die Tränen, die sich in ihren übergroßen braunen Augen sammelten. Dann begann ihr Kinn ganz leicht zu zittern, dann heftiger, dann schniefte sie und die Tränen rannen unaufhaltsam über ihre Wangen.

"Hör auf zu flennen, du dumme Gans!" Es machte ihn fast wahnsinnig. "Sofort!"

Doch sie starrte ihn nur weiterhin flehentlich an und weinte.


"Ich kann Dummheit nicht ab", wiederholte er immer wieder. "Ich kann Dummheit nicht ab. Ich kann Dummheit nicht ab. Ich hasse sie!"

Mit einem Mal fand er sich in dem inzwischen komplett dunklen Korridor wieder, ganz allein in der Schwärze.

"Ich hasse sie!"

Er beschloss, sich für den Rest des Tages in seinen Gemächern einzuschließen. Vielleicht würde er in seinen Räumlichkeiten sogar so lange bleiben, bis sie fort war. Er konnte sie nicht mehr sehen, er konnte ihre Fröhlichkeit nicht mehr sehen, ihre Liebe zu ihm, die so dumm, so sinnlos war, so unlogisch und unerklärlich, dass es nur die Liebe einer Närrin sein konnte.

"Ich kann Dummheit nicht ab."

Er kannte das Erdgeschoss des Anwesens gut genug, um sich in vollkommener Finsternis ganz problemlos zurechtzufinden, und es dauerte nicht lange, bis er mit unverändert düsterer Miene in sein Zimmer rollte. Doch sein Gesicht verzerrte sich noch mehr, als er sah, dass dort eine andere Gestalt auf ihn wartete. Die große, kräftige, schlanke Gestalt von Bergil, dem Hauptmann der Weißen Schar von Ithilien, der Leibgarde Faramirs.

Nach vielen Jahren treuen Dienstes war Beregond, Bergils Vater und erster Hauptmann, alt geworden, doch er hätte noch länger dienen können, wäre seine Frau nicht gestorben. Bedrückt über ihren Tod, hatte er dem Fürsten Bergil als seinen Nachfolger vorgeschlagen und war für einige Zeit nach Pen-arduin, ein Dorf an den westlichen Hängen der Emyn Arnen, gezogen, um dort seinen jüngeren Sohn Borlas und seine Familie zu besuchen und sich an seinen Enkelkindern zu erfreuen. Seitdem führte der dreißigjährige Bergil Faramirs Leibwache an und dieser Aufstieg gefiel Elboron ganz und gar nicht. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war Bergil für ihn ein Vorbild gewesen, dem er immer hinterhergedackelt war, ganz gleich, dass Bergil nur ein unadeliger Soldat war. Seit dem Unfall jedoch hatte sich das Verhältnis ins Gegenteil gewandt: Bergil bezeichnete Elboron offen als zickige Göre und mied seine Anwesenheit, was Elboron nur recht war, denn er fand, dass Bergil auf äußerst dreiste Weise seine Befugnisse überschritt.

"Was habt Ihr hier zu suchen?", knurrte der Fürstensohn, als er seinen Erzfeind erblickte. "Wollt Ihr mich schon wieder erziehen?"

"Das hättet Ihr bitter nötig", schnaubte der Hauptmann mit einem schiefen Grinsen.

Elboron funkelte ihn zur Antwort böse an. "Doch bedauerlicherweise ist es nicht Eure Zuständigkeit."

"Früher dachtet Ihr darüber anders", erinnerte ihn Bergil an die verhasste Vergangenheit. "Da wolltet Ihr noch, dass ich Euch dies und das beibringe und dann dieses und jenes... Ich hätte schon damals merken sollen, wie egozentrisch Ihr seid. Seit dem Unfall vergeht kaum ein Tag, an dem Ihr nicht in Eurem maßlosen Selbstmitleid versinkt, nicht herumnörgelt und allen die Laune verderbt! Nicht einmal Euren Vater verschont Ihr!"

"Dann stellt Euch doch an meiner Stelle vor!", schrie Elboron aufgebracht. "Wärt Ihr denn viel anders als ich?"

Bergil blickte ihm direkt in die Augen. "Ich wünschte tatsächlich, ich wäre an Eurer Stelle."

"Du weißt ja nicht, wie das ist, du dahergelaufener -"

"Seid still!", donnerte der Hauptmann. "Natürlich weiß ich nicht, wie es ist, seine Beine nicht bewegen zu können! Aber dafür habt Ihr etwas viel Wertvolleres, etwas, das sich viele wünschen und nie bekommen! Und ihr tretet es mit Füßen!"

Elboron schwieg, niedergeschmettert von der Wucht seiner Worte.

"Ich spreche von Níniel", fuhr Bergil fort. "Wegen ihr bin ich hier. Gestern habt Ihr sie aus dem Dienst entlassen. Was hat sie verbrochen? - Gar nichts. Sie liebt Euch, das ist alles. Sie liebt Euch, obwohl sie keinen Grund dazu hat, ganz gleich, ob Ihr diese Liebe erwidert oder nicht. Viele wünschen es sich. Viele mögen und lieben Níniel, würden sie gerne heiraten, aber aus unerklärlichen Gründen liebt sie Euch und hat für alle anderen nur Freundschaft übrig. Und Ihr - Ihr tretet das mit Füßen! Kein Wunder, dass sie heute Morgen so krank aufgewacht ist. Sie war gestern schon ganz schwach."

Doch zu seiner Verwunderung brach Elboron in Lachen aus: "Ihr liebt sie? Ihr wollt sie heiraten? Dieses kleine Kind?"

"Sie ist erwachsener und weiser als wir alle zusammengenommen", erwiderte Bergil düster. "Sie ist alterslos. Selbst in achtzig Jahren wird sie noch so sein."

Der Fürstensohn hob verächtlich eine Augenbraue. "Mir scheint, als wärt Ihr mit Eurem Kopf nicht ganz befreundet, ebenso wie sie."

"Es ist eine Verschwendung", zischelte Bergil. "Eine fürchterliche Verschwendung, dass sie Euch liebt! Wer braucht Euch? Ihr fallt uns allen nur zur Last. Sie ist die einzige, die Euch so akzeptiert, wie Ihr seid. Und in dieser Hinsicht mögt Ihr recht haben: Das ist ganz schön verrückt von ihr. Aber nicht dumm." Er hielt kurz inne und wandte sich zur Tür. "Bevor ich gehe, möchte ich noch ein letztes Mal Lehrer sein und Euch eine Prophezeiung machen: Mit ihrer Entlassung habt Ihr Euch selbst verdammt, Ihr werdet einsamer sein als je zuvor und es wird niemanden mehr geben, der Euch braucht. Ihr werdet täglich mitansehen, wie die anderen unter Eurer Last zusammenbrechen, Euer Selbsthass wird wachsen und Euch verzehren, bis Ihr eines Tages einsam und allein, tot und mit aufgeschnittenen Adern in irgendeiner schmutzigen, dunklen Ecke gefunden werdet. Es werden nicht allzu viele Menschen über Euren Tod betrübt sein." Mit diesen Worten ging er hinaus und ließ Elboron allein im Halbdunkel des Kaminfeuers zurück.

Der Fürstensohn starrte ihm hinterher, mit dem Blick die geschlossene Tür durchbohrend.

"Glaubst du, ich weiß das gar nicht?", zischte er leise. "Was, wenn ich es mir sogar wünsche? - Ich hasse mich. Ich hasse mich abgrundtief!"

Seine Finger krallten sich in die samtüberzogenen Armlehnen seines Rollstuhls und er merkte zunächst selbst nicht, wie er zu schluchzen begann.

"Ich hasse mich! Deswegen, Níniel... Ich bin es nicht wert..."

Er wusste, was Níniel den anderen, Bergil vorneweg, bedeutete, er wusste es, er kannte es nur allzu gut.

"Ich bin es nicht wert."

Das war es. Nur eine Närrin wie Níniel konnte auf die Idee kommen, sich in ihn zu verlieben. Nur ein Wesen, das von Liebe so erfüllt war wie Níniel, konnte ihn lieben. Diese Liebe war unendlich, viel zu unendlich für einen normalen Menschen. Níniel war unendlich. Níniel war eine Närrin, weil sie keine war.

Wut stieg in ihm hoch, Wut auf sich selbst. Er wischte sich zornig die Tränen aus den Augen und der Blick, den er immer noch auf die Tür gerichtet hielt, wurde entschlossen. Dann, plötzlich, stürmte er los, so schnell wie er nur konnte, rollte durch die Korridore und fluchte über seine eigene Dummheit.

Die Tür von Níniels Kammer sprang fast aus den Angeln, als er sie mit aller Kraft aufstieß und in den Raum raste. Eine ältere Magd, die am Bett des Mädchens saß, stieß vor Schreck einen Schrei aus und hielt sich die Hand auf die Brust.

"Also schön", knurrte Elboron, als er mit seinen Rädern Níniels Bett rammte. Sie öffnete langsam die Augen, ganz schwach und verschwitzt unter einer dicken Schicht von Decken, erkannte ihn und lächelte kraftlos, aber glücklich.

Er starrte sie lange an, mit den Tränen kämpfend, bis er schließlich mit leiser und belegter Stimme hervorbrachte: "Du kannst bleiben."


ENDE


Interpretationsvorschlag

Für interessierte Leser habe ich hier zusammengestellt, was ich mir beim Schreiben dieser Kurzgeschichte gedacht habe. Und nochmal zur Verdeutlichung: was ICH mir dabei gedacht habe. Was davon rübergekommen ist und wie das Ficlet sich noch interpretieren lässt - es gibt nie eine richtige Lösung, alle Gedankengänge sind richtig, sofern sie logisch und begründet sind. Es gibt nur das Ficlet, wie es hier existiert, nicht mehr, nicht weniger.


I. Elborons Innenleben mit besonderer Berücksichtigung seiner Beziehung zu Níniel


[Éowyn:] "Du mochtest sie doch... Du hast sie dir selbst ausgesucht! Und jetzt kannst du sie plötzlich nicht mehr leiden."

> Seine eigene Mutter, die ihn kennen sollte, meint, er hätte sie früher gemocht (und dieser ersten These widerspricht er übrigens auch nicht wirklich). Auch behauptet sie, er könne sie plötzlich nicht mehr leiden. Also geht es ihm möglicherweise nicht um ihren "dummen" Charakter, wenn er ständig wiederholt, dass er sie nicht leiden kann, sonst hätte er sie ja von Anfang an gehasst.


"Hauptsache, er bereut seine Entscheidung nicht, wenn es bereits zu spät ist."

"Das habe ich nicht vor", brummte Elboron unbeirrt.

Faramir hob nur misstrauisch eine Augenbraue.

> Faramir, sein Vater, ist von Elborons Hass auf Níniel nicht überzeugt.


verhasstes Lieblingsfenster

> Was Liebe und Hass betrifft, ist Elboron in manchen Dingen mit sich selbst nicht ganz einig. -> Kontrast und Widerspruch in seinem Inneren, den ich auch durch die vielen Kontraste in Naturbeschreibungen, etc. zu verstärken versucht habe.


Er erreichte sein verhasstes Lieblingsfenster, von dem aus er meist das lebendige Treiben draußen beobachtete. Es wurde Abend und zärtlich weiße Schneeflocken wirbelten fröhlich vor einem immer mehr zunehmenden Schwarzblau. Doch in seinen Erinnerungen war es taghell, der frisch gefallene Schnee glitzerte munter in der Wintersonne und Níniel lieferte sich mit den Mägden des Hauses eine Schneeballschlacht. Die Mädchen lachten, kicherten und kreischten wie kleine Kinder und purzelten glücklich durch das sonnige Weiß.

> Kontrast und gleich darauf ein durch Adjektive wie "lebendig", "zärtlich", "fröhlich", "taghell" und "glücklich" doch recht positives Bild in der Erinnerung. Ein positives Bild von Níniel.


"Ich kann Dummheit nicht ab", wiederholte er leise, wandte sich ab und rollte den unbeleuchteten Korridor wieder zurück.

Eine andere Erinnerung kam hoch, eine viel ältere. Die Erinnerung an Blut, ganz, ganz viele Tropfen auf strahlend weißem Schnee, die rot aufblühten und leuchteten wie Rubine. Der Schmerz in seinem gesamten Körper und die Panik, als er feststellte, dass er seine Beine nicht mehr bewegen konnte.

> Von einer Zeile auf die andere eine komplette, radikale 180°-Drehung. Mit "Ich kann Dummheit nicht ab" blockt Elboron die positive Erinnerung nahezu ab und ersetzt sie möglicherweise eher unbewusst durch eine negative, er denkt an seine Lähmung dann auch die gesamte Story über und im Grunde eigentlich an kaum etwas anderes. Also auf mich zumindest wirkt solches Verhalten eher krampfhaft und daher vielleicht etwas unnatürlich. Krank aber auf jeden Fall.


Seitdem war der inzwischen siebzehnjährige Elboron ein Krüppel, hilflos wie ein altersschwaches Weib und in so gut wie allem, was er tat, auf fremde Hilfe angewiesen.

> Als "altersschwaches Weib" bezeichnet sich Elboron in der Geschichte mehrmals, hier noch zusätzlich als Krüppel, was auch nicht gerade ein nettes Wort ist. Bedenken wir mal, dass Elboron erst 17 Jahre alt und männlich ist. Mit "altersschwaches Weib" verleugnet er also sowohl sein Alter als auch sein Geschlecht. Besonders auf Letzteres möchte ich hinweisen. Vor allem in einer mittelalterhaften Welt einen jungen Mann (oder jemanden auf dem Weg dahin) als Weib zu bezeichnen ist doch ganz schön heftig. Und das tut er sich selbst gegenüber.


Fortgehen, weil er, der sie ausgewählt hatte, sie nicht mehr sehen wollte. Nicht mehr sehen konnte!

> Ich betone besonders "nicht mehr". Wie oben bereits erwähnt, scheint es früher anders gewesen zu sein.


"Bist du gerne hier in den Emyn Arnen?", fragte er plötzlich leise.

> Elboron ist ein Ekel, das allen Bewohnern der Emyn Arnen das Leben schwer macht. Als er Níniel fragt, ob sie sich an dem Ort, wo er sein Unwesen treibt, gerne aufhält, ist seine Stimme leise. Und wieso fragt er überhaupt? Denkbar wären vielleicht folgende Möglichkeiten: er kann es nicht wirklich glauben, dass jemand seine Anwesenheit ertragen kann; Gewissensbisse (<- wäre ein Hinweis, dass in ihm doch etwas Gutes steckt, wie Níniel behauptet); er hasst sich selbst, will aber gesagt bekommen, dass er doch nicht so schlimm ist (vielleicht glaubt er auch tief in seinem Inneren, dass er kein schlechter Mensch ist, will es aber bestätigt haben, weil dieser Glaube an sich selbst so schwach ist)


[Níniel:] "Elboron ist sehr schüchtern und versteckt sich in seinem schwarzen Pelzmantel. Aber in Wirklichkeit ist er ein sehr freundlicher Mensch, der den Winter und die Sonne und den Frühling, den Sommer und den Herbst genauso sehr mag wie ich."

> Wenn man die eben aufgezählten Möglichkeiten annimmt, könnte das hier als Bestätigung gelten. Níniel sieht nur das Gute, also wird sie wohl auch das Gute in Elboron sehen, und sie ist überzeugt, dass er im Grunde ein guter Mensch ist und auch Gutes sehen kann. Er sei nur "sehr schüchtern". Oder etwas krasser Ausgedrückt: Er hat Selbstzweifel und verfügt über zu wenig Selbstbewusstsein, um seine gute Seite zu zeigen. Aus irgendeinem Grund hat er Angst. (Ich muss jetzt an ein Zitat von Meister Yoda aus dem fünften "Star Wars"-Film denken: "Aus Angst wird Hass." - Oder so ähnlich. Jedenfallst sehr weise Worte, finde ich. Im Übrigen... Als die größte Angst und die Ursache anderer Ängste wird meist die Angst vor dem Unbekannten genannt, vor etwas, das man nicht versteht. Elboron versteht in seinem Zustand nicht einmal sich selbst.)


Auch im Winter herrschte hier Leben, leise und unsichtbar, aber es war da, es war der Lauf der Zeit.

> "Leben, leise und unsichtbar, aber es war da" -> In Elboron steckt ein verborgener, heller Kern. "Lauf der Zeit" könnte man vielleicht als Andeutung verstehen, dass Elboron sich irgendwann bessern und lernen würde, seine gute Seite zu zeigen.


Ihm war diese Schönheit immer nur für wenige Stunden vergönnt, für die Stunden der Spaziergänge, und jedes Mal, wenn sie hinaustraten, schmerzte in ihm der fürchterliche Gedanke, dass diese Freiheit nur eine Illusion war, dass sie ein Ende hatte, dass er in die Düsternis seiner Gemächer zurückkehren würde. Es grauste ihm jedes Mal vor diesen Spaziergängen.

"Sollen wir noch ein wenig länger hier bleiben?", fragte Níniel. "Ich glaube, Ihr mögt die Landschaft."

Er funkelte sie böse an und drehte seinen Rollstuhl sofort in Richtung Burgmauern. "Wie kommst du eigentlich immer auf solch dumme Ideen?"

> Wie Níniel in einem oben erwähnten Zitat (Jahreszeiten) angedeutet hat, mag Elboron die winterliche Landschaft durchaus, nur will er das nicht gestehen. Wieder blockt er etwas Positives ab und schaltet auf "böse", nur wird hier ein Grund angedeutet: Er meint, dass er das, was er mag, nicht für immer haben kann und sich früher oder später davon trennen muss. Er glaubt einfach nicht an Glück, meint, dass alles in der Finsternis endet, und - ein Denken, das sich bei vielen Teenagern mehr oder weniger und verschiedenen Formen äußert - "wenn ich es nicht haben kann, dann will ich es auch gar nicht sehen, dann ist das doof und ich hasse es". Also Elboron ist schon ein wenig kindlich.


Hilflos auf andere angewiesen wie ein altersschwaches Weib. Er hasste sein Leben, er hasste seine Beine und in erster Linie hasste er sich selbst.

> Da haben wir wieder das altersschwache Weib, aber betonen möchte ich "in erster Linie". Vorneweg hasst er sich selbst und dann erst die Beine und sein Leben. Dass er an den Rollstuhl gekettet ist, ist also weniger das Problem. Sein Hauptproblem, aus dem auch die anderen Probleme sprießen, ist er selbst.


"Ich kann Dummheit nicht ab", wiederholte er immer wieder. "Ich kann Dummheit nicht ab. Ich kann Dummheit nicht ab. Ich hasse sie!"

Mit einem Mal fand er sich in dem inzwischen komplett dunklen Korridor wieder, ganz allein in der Schwärze.

"Ich hasse sie!"

> "Ich kann Dummheit nicht ab" wiederholt Elboron ständig. Ebenso wie er sich krampfhaft an seine Lähmung klammert, klammert er sich an diesen Satz und verstärkt ihn sogar mit "Ich hasse sie!". Wieso wiederholt er das so oft? Und in erster Linie für sich selbst? Wenn er tatsächlich überzeugt wäre, von dem, was er sagt, dann bräuchte er es sich nicht einzureden. Er hasst Níniel also gar nicht.


"Ich hasse mich! Deswegen, Níniel... Ich bin es nicht wert..."

Er wusste, was Níniel den anderen, Bergil vorneweg, bedeutete, er wusste es, er kannte es nur allzu gut.

"Ich bin es nicht wert."

> Repetitio: "Ich bin es nicht wert." Hier soll also betont werden, dass Elboron sich für etwas als unwürdig erachtet. Was ist er nicht wert? Seine Worte richtet er an Níniel, also sieht er sich als unwürdig für das, was sie ihm geben will: ihre Liebe. Und warum? Das "deswegen" steht vor "Ich hasse mich!". Elboron sieht sich als etwas Schlechtes, Böses und meint deswegen, er würde Níniels Liebe nicht verdienen; darüber hinaus sieht er sich ja auch nicht als männliches Geschöpf an... Außerdem weiß er, was sie den anderen, besonders Bergil, bedeutet. Und er weiß es nicht nur, er "[kennt] es nur allzu gut". Könnte man auf verschiedene Weise verstehen, aber wenn wir davon ausgehen, dass er sie früher mochte, dass er sich krampfhaft einredet, er würde sie hassen, dass er sich selbst widerspricht, könnte man annehmen, dass er sie wie die anderen bewundert und liebt. Nur glaubt er, sie nicht zu verdienen, und lehnt sie nach dem ihm eigenen Schema, das bei dem Punkt Winterlandschaft angedeutet wurde, ab: "Verdiene ich nicht, soll ich nicht bekommen, also weg damit."


Das war es. Nur eine Närrin wie Níniel konnte auf die Idee kommen, sich in ihn zu verlieben. Nur ein Wesen, das von Liebe so erfüllt war wie Níniel, konnte ihn lieben. Diese Liebe war unendlich, viel zu unendlich für einen normalen Menschen. Níniel war unendlich. Níniel war eine Närrin, weil sie keine war.

> Mit "Ich bin es nicht wert." hat sich Elboron die Wahrheit selbst gestanden und nun dreht sich sein Bild von Níniel um 180°: Er gibt zu, dass Níniel keine Närrin ist, er bezeichnet sie als "unendlich", er stellt sie über andere Menschen. Vorher stellte Níniel für ihn eine Närrin dar, weil sie, indem sie ihn liebte, etwas tat, das er nicht verstehen konnte.


Wut stieg in ihm hoch, Wut auf sich selbst. Er wischte sich zornig die Tränen aus den Augen und der Blick, den er immer noch auf die Tür gerichtet hielt, wurde entschlossen. Dann, plötzlich, stürmte er los, so schnell wie er nur konnte, rollte durch die Korridore und fluchte über seine eigene Dummheit.

Die Tür von Níniels Kammer sprang fast aus den Angeln, als er sie mit aller Kraft aufstieß und in den Raum raste.

> Elboron ist wütend auf sich selbst. Die ganze Zeit über hatte er sich selbst belogen und das findet er jetzt "dumm". Nicht Níniel, sondern sich selbst. Sein Blick wird entschlossen und er stürmt los, er rast in ihr Zimmer, um ihr persönlich mitzuteilen, dass sie nicht zu gehen braucht. Persönlich. Das Anwesen ist voller Diener, er hätte sich nicht die Mühe machen müssen. Aber er tut es, weil er sie liebt.


Am Ende sagt er zwar nur "Du kannst bleiben.", aber bei seiner Selbstsucht und Arroganz kann man ja nicht erwarten, dass er das, was er sich selbst gestanden hat, auch anderen gegenüber gesteht, oder? Sein Selbstgeständnis ist nur der erste Schritt eines langen Heilungsprozesses, dessen Bestandteil es sein wird, seine Ängste überwinden und sich selbst lieben zu lernen, um nicht mehr länger unwürdig zu sein und sich selbst deswegen zu zerfleischen.


II. Die Rolle der Lähmung


Wie in I. bereits kurz angemerkt, ist nicht die Lähmung an sich das Problem, sondern sein Selbsthass. Auch sein stark ausgeprägter Egoismus drückt eine recht negative Meinung über sich selbst aus, denn eine zu starke Betonung des Ich ist ein Versuch, seine Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren.


Denn keiner von jenen Glücklichen war fähig, sein Leid zu spüren und ihm wirklich beizustehen.

> Wer sagt eigentlich, dass alle sein Leid spüren und ihm beistehen müssen? Sie können zwar laufen, aber vielleicht haben sie ja auch eigene ernsthafte Probleme. Die ganze Geschichte über verliert er kaum einen Gedanken darüber, dass auch andere Menschen Probleme haben können. Bergil stößt ihn zwar darauf, aber auch hier steht Elboron im Zentrum: als Ursache nämlich. Elboron geht es immer nur um sich selbst.


Und die kräftigen Leute hatten eh alle andere Interessen als einen Krüppel durch die Gegend zu schieben.

> Wieder. Als hätten alle, die laufen können, nur Spaß im Leben.


[Bergil:] "Da wolltet Ihr noch, dass ich Euch dies und das beibringe und dann dieses und jenes... Ich hätte schon damals merken sollen, wie egozentrisch Ihr seid."

> Hier weist Bergil darauf hin, dass Elboron nicht erst seit dem Unfall so ist, sondern auch schon früher ein ziemlicher Egozentriker war. Daher wäre er wohl auch ohne Rollstuhl zu einem Ekel geworden. Wie in I. erwähnt, klammert er sich an seine Lähmung eigentlich nur. Anscheinend gibt sie ihm eine Möglichkeit, seinen Egozentrismus so richtig auszuleben.


III. Elborons psychologische Diagnaose


Wahrscheinlich kaum zu übersehen: Depression.

In der Geschichte vorkommende Symptome:

- Einengung in Stimmung und Denken

- unmöglich zu trösten

- innere Unruhe

- übertriebene Sorge um die Zukunft ("will nicht, hasse, weil ich es nicht für immer haben kann")

- Hoffnungslosigkeit

- Minderwertigkeitsgefühle

- Selbstisolation

- sinnloses Gedankenkreisen ("Ich kann Dummheit nicht ab.", Lähmung)

- Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Aggression und Stimmungsschwankungen

- Beschuldigen von anderen Menschen und sich selbst

- Konsum von Alkohol (Versuch gescheitert)

- Selbstmordgedanken

- unzurechnungsfähig


IV. Intention


Nichts ist verloren, es gibt immer eine Hoffnung, aber den ersten Schritt kann man nur selbst tun (evtl. noch mit fremder Hilfe), indem man sich selbst eigesteht, dass man ein Problem hat, und dieses Problem auch genau benennt. Botschaft: Sei ehrlich zu dir selbst und betrachte die Dinge objektiv. Botschaft 2: Liebe siegt. ;)


ENDE


Übrigens noch eine kleine Anmerkung: Ich will mich durch dieses Geschreibsel nicht als überhochintelligent darstellen oder so. Wie gesagt, es gibt keine falschen Interpretationen. Das hier ist nur ein Vorschlag. Ich will niemandem Vorwürfe machen oder gar verlangen, dass jeder Leser etwas machen soll wie das hier. Nein. Es ist lediglich nur ein Vorschlag für Interessierte. Andere Interpretationen finde ich sehr interessant und ich habe durch die Reviews wirklich viel gelernt. Vielen Dank euch allen!

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