Endlich kam ein Bote aus Gondor, der dem König einen versiegelten Brief überreichte. Aufgeregt las Éomer den Brief, dann ließ er nach Roderic rufen.
„Céorlred, pack deine Sachen! Wir reiten nach Dol Amroth! Frau Lothíriel möchte mir persönlich auf mein Werben antworten. Außerdem möchte sie den mächtigen Krieger sehen, der ihre drei Kämpen niedergerungen hat.“
„Wie ich Euch sagte: alles wird gut, Herr. Nur mit dem mächtigen Krieger werde ich Eure Angebetete wohl enttäuschen müssen. Ich wachse einfach nicht mehr.“
König Éomer wurde immer aufgeregter, je länger die Reisevorbereitungen dauerten. Ständig packte er seine Taschen und Truhen neu, packte alles wieder aus und anderes ein und dann begann das Ganze von vorne. Schließlich machte selbst der langmütigste Diener einen großen Bogen um die königlichen Gemächer, worauf Roderic wieder einmal zum König gerufen wurde. Endlich hatte Éomer sich entschieden, was er nun alles mitnehmen wollte, da machte Roderic eine Anmerkung.
„Habt Ihr eigentlich an ein Gastgeschenk gedacht?“
Éomer wurde bleich. „Nein, jetzt wo du es sagst, habe ich nicht. Du meine Güte, was mache ich denn jetzt? Und was soll ich mitbringen?“
„Wie wäre es mit dem, wofür Rohan bekannt ist? Einem edlen Ross für eine edle Dame?“
„Ja, das wäre das Beste, denke ich. Céorlred, suche du ein angemessenes Ross für eine edle Dame aus. Der Stallmeister soll dir dabei behilflich sein. Eile dich!“
Roderic hatte länger in den Ställen und Gestüten von Edoras zu tun als ihm lieb war, und jeder einzelne der Rohirrim, die er um Hilfe bat hatte eine andere Meinung dazu, welches Ross denn für die Angebetete des Königs das Angemessenste sein würde. Schließlich entschied er sich für einen kräftig gebauten Rappen. Das Tier hatte ein ruhiges Gemüt, war gelehrig und machte einen aufgeweckten Eindruck.
„Eine gute Wahl“ bestätigte Éomer. „Und um einen bequemen Sattel und angemessenes Zaumzeug hast du dich auch gekümmert. Na, wenigstens auf einen kann ich mich verlassen. Morgen früh brechen wir auf. Du wirst heute Nacht im Palast ruhen. Ich hoffe, du hast deine Sachen gepackt?“
„Ja, Herr. Von mir aus könnte es sofort losgehen.“
„Ganz so schnell will ich dann doch nicht aufbrechen“ lachte Éomer. „Hier kann wohl noch einer die Abreise nicht abwarten. Gehe nun zur Ruhe, und stehe morgen früh nicht zu spät auf!“
Am nächsten Morgen standen die Reiter, die den König nach Dol Amroth begleiten sollten schon früh auf dem Hof vor der Goldenen Halle bereit. Wer noch fehlte war König Éomer. Roderic ließ für die Reiter noch einen kleinen Imbiss kommen.
„Wer weiß, wann wir heute loskommen“ grinste er. „Soviel zu „stehe nicht zu spät auf“ und so weiter. Wenigstens bekommen wir keine knurrenden Mägen beim Warten.“
„Wie habt Ihr das in den letzten Tagen überhaupt ausgehalten, Céorlred? Ständig hat der König Euch ja hierhin und dorthin geschickt.“
„Es war schon anstrengend, Wulfhere. Aber unser König ist nun mal über beide Ohren verliebt, da ist er wie er ist. Mich wundert nur, wo er bleibt. Ob einer nachsehen sollte?“
„Das ist dann aber Eure Sache, Céorlred. Ich bleibe lieber in Deckung.“
Roderic saß kopfschüttelnd wieder ab und ging zu den königlichen Gemächern. Von drinnen war lautes Schnarchen zu hören. Der Hobbit faßte sich ein Herz und öffnete leise die Tür. Dann zog er die schweren Vorhänge zurück. Helles Tageslicht flutete den Raum.
„Was ist denn?“ fragte ein sehr verschlafener König Éomer.
„Spät am Morgen ist es, und wollten wir heute nicht früh aufbrechen? Alle Reiter sind bereit und warten nur auf Euch!“
„Oh Mist!“ rief Éomer und sprang aus dem Bett. „Stimmt ja! So ein Ärger: erst konnte ich nicht einschlafen und dann verschlafe ich auch noch!“
Roderic half seinem König beim raschen Ankleiden und Rüsten, und keine Viertelstunde später stürmte Éomer die Treppe hinunter.
„Alles abmarschbereit? Können wir aufbrechen?“
„Wir schon“ entgegnete Roderic. „Ihr galoppiert aber nicht drauflos ohne wenigstens einen Happen gegessen zu haben.“ Er reichte seinem König ein belegtes Brot.
„So, dann aber los“ meinte ein kauender Éomer. Feixend setzten sich seine Reiter in Bewegung. Rasch hatten sie Edoras hinter sich gelassen und schlugen den Weg ins Gebirge ein. Sie hatten vor, das Weiße Gebirge über die hohen Gebirgspässe zu überqueren, die Rohan von den südlichen Provinzen von Gondor trennten und dann entlang der Küste nach Dol Amroth zu reiten. Wenn das Wetter mitspielte sollten sie in einer Woche am Ziel sein.
Abgesehen von einem Schneeschauer auf einem der Pässe hatten sie gutes Reisewetter, und sie kamen bald in Gondor an. In der Ferne war ein blauer Schimmer zu sehen: das Meer. Éomer trieb seine Reiter (wie immer) zur Eile an, und (wie immer) ritten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Bald tat sich vor ihnen eine große, steinerne Stadt auf einem hohen Felssporn im Meer auf.
„So, das ist das Ziel unserer Reise: Dol Amroth“ sagte Éomer. „Denkt daran, ihr begleitet den König von Rohan. Viele Gondorer werden auf euch herabsehen, aber lasst euch davon nicht reizen. Wir haben einen guten Eindruck zu machen, Leute!“
Grinsend gaben die Reiter ihren Rössern die Sporen, und sie näherten sich dem großen Stadttor. Wachen versperrten ihnen den Weg und sprachen sie an.
„Kündigt Herrn Imrahil die Ankunft von König Éomer von Rohan nebst Gefolge an. Ich, Céorlred von Rohan spreche.“
„Wir haben Euch erwartet. Ein Bote wird Herrn Imrahil über Eure Ankunft in Kenntnis setzen. Begebt Euch derweil in das Wachhaus hier, wo Euch eine kleine Stärkung erwartet.“
Die Rohirrim saßen ab, und Roderic blickte sich neugierig um. Dol Amroth war auf einer Halbinsel im Meer errichtet worden, und sie waren über den einzigen Zugang vom Land gekommen. Die Stadt musste leicht zu verteidigen sein, fand er. Fast alle Gebäude waren aus Stein errichtet worden, so dass es Feinden schwerfallen würde, die Stadt in Brand zu schießen. Zum Meer hin trennten hohe Mauern die Stadt von der Steilküste, und nur an einer Stelle hatten die Erbauer einen kleinen Hafen eingerichtet. Dieser konnte allerdings durch ein stählernes Fallgitter vom Meer getrennt werden, so dass eine Invasion auf diesem Weg so gut wie unmöglich war. Überdies bewachten starke Garnisonen die Stadt, und überall waren wohlgerüstete Krieger zu sehen. Roderic fragte sich, ob die Kämpen, gegen die er im Zweikampf antreten musste wirklich die besten Krieger der Stadt gewesen waren, oder ob ihn eine erneute Prüfung erwartete.
Boten kamen von Prinz Imrahil, und die Rohirrim wurden in den großen Palast geleitet, wo der Prinz und Lothíriel auf sie warteten. Sie gingen zu Fuß, denn in den engen, düsteren Gassen waren keine Pferde erlaubt. Im Palast angekommen wurden sie sogleich zu Imrahil vorgelassen.
„Willkommen, König Éomer von Rohan! Selten haben wir derart hohen und ehrenhaften Besuch in unseren Hallen! Sprecht, was führt Eure erlesene Schar zu uns?“
„Habt Dank für Euer Willkommen! Ich möchte um die Hand Eurer Tochter anhalten, Lothíriel, der Rose Gondors!“
Ein Raunen ging durch die Umstehenden. Selten hatte ein Gast so direkt ausgesprochen, weswegen er eine weite Reise auf sich genommen hatte. Eine junge Dame erhob sich.
„Lange habt Ihr gesäumt, König Éomer von Rohan! Es ist fürwahr einige Zeit vergangen, seit ich Euch zum ersten Mal sah. Und man sagt mir, Ihr habt Eure Aufgaben erfüllt. Oder vielmehr sind sie von Eurem besten Krieger erfüllt worden.“
Éomer wurde rot bis über beide Ohren, sagte aber nichts. So fuhr Lothíriel fort. „Ich habe Euch zur Aufgabe gegeben, diesen besten Eurer Krieger mitzubringen. Wo ist er?“
Roderic trat vor. „Ich hatte die Herausforderung Eurer dreier Abgesandten angenommen, Herrin.“
„Ein perian. Nun, wenn ich den Erzählungen meines Vaters Glauben schenken darf, dann ist das wohl nicht so abwegig. Auch die Herren Peregrin und Meriadoc haben sich ihren Ruhm redlich verdient. Wie ist Euer Name?“
„Roderic, Roderic Bolger, aber in Rohan werde ich Céorlred genannt.“
„Höre denn, Roderic, dass es hier im Publikum manche Leute gibt, die Eure Taten anzweifeln würden. Wärest du denn zu einem weiteren Zweikampf bereit?“
„Wenn Ihr das wünscht, Herrin, dann soll es so sein.“
„Nun denn. Tretet gegen Schwertmeister Thalion an. Er hat fast alle Wachen hier ausgebildet und einige berühmte Krieger Gondors mit dazu. Eure Künste möchte ich mit eigenen Augen sehen.“
Sie traten vor die Halle, wo Diener einen Kampfplatz auf dem Hof abgesteckt hatten. Der Schwertmeister schien sich Zeit zu lassen, auf den Hof zu kommen. Schließlich kam er: es war derjenige, der Roderic in Edoras so unfreundlich angegangen hatte.
Nach einem kurzen Schwertgruß gingen die beiden Kontrahenten unverzüglich zur Sache. Sie kämpften zwar mit stunpfen Übungsschwertern, schenkten sich aber nichts. Roderic kannte noch immer die Schwächen seines Gegners, und jede Linksdrehung wurde mit einem Schlag auf die rechte Seite gekontert. Eine Viertelstunde lang ging der Kampf, dann hob Fürst Imrahil die Hand.
„Ich habe genug gesehen. König Éomer hat wohl mehr als genug fähige Krieger, um meine Tochter zu beschützen. Beendet den Kampf!“
„Ich sage, wann der Kampf zu Ende ist!“ rief Thalion und führte einen Streich gegen Roderic.
Dieser parierte ihn, und der Gegenhieb traf den Schwertmeister auf dem Handrücken. Dieser öffnete ob des Schlages die Hand und das Schwert fiel klirrend zu Boden.
„Euer Herr hat den Kampf beendet“ sagte Roderic trocken. „So ist er es jetzt denn auch.“
„Ihr seid nicht einmal außer Atem, Roderic? Ich sehe, Ihr habt mit Eurem besten Krieger nicht übertrieben, Éomer“ sagte Lothíriel. „Thalion weigert sich standhaft, Frauen an Waffen auszubilden. Wenn der beste Krieger Rohans an meiner Statt gegen ihn kämpfen will, dann gehe ich gerne in das Land der Pferdeherren.“
Roderic verbeugte sich. „Es wird mir eine Ehre sein, Herrn Thalion noch einmal Benimm, Gehorsam gegenüber seinem Herrn und höfliche Umgangsformen beizubringen.“
„Das wird nicht notwendig sein“ sagte Imrahil. „Ich habe genug gesehen. Und ich gehe doch recht in der Annahme, dass meine Tochter eine Schildmaid werden kann, wenn sie es will?“
„Das kann sie, sobald sie in Rohan ist“ sagte Éomer. „Und das verspreche ich: sie wird die besten Ausbilder meines Reiches haben. Und noch so einiges dazu.“
Sie gingen in die Große Halle zurück, wo zu Ehren der Rohirrim ein Festmahl angerichtet worden war. Éomer (und Roderic) hatte seine Prüfung bestanden, und überglücklich saß er neben Lothíriel und himmelte sie an.
„Seht nur, unserem König geht es gut“ grinste Wulfhere. „Gut, dass er in der Auswahl seines Kämpen so ein glückliches Händchen bewiesen hat.“ Er knuffte Roderic in die Seite.
„Sieht ja ganz gut aus“ meinte dieser. „Nur einen sehe ich hier nicht: wo ist Thalion? Leckt er Wunden oder sinnt er auf Rache? Beides könnte einem Sorgen machen.“
Es stellte sich heraus, dass Roderic den Schwertmeister härter rangenommen hatte als er zunächst gedacht hatte. Thalion hatte etliche blaue Flecken vom Zweikampf davongetragen, und er konnte nicht mehr gerade sitzen. So brachte er den Abend bei den Heilern von Dol Amroth zu, und auch in den folgenden Tagen wurde er kaum gesehen.
Das Festmahl war vorüber, und Prinz Imrahil hatte die Tafel aufgehoben. Die Gäste rückten dichter um das Feuer zusammen. In der Steinhalle wurde es zum Abend rascher kühl als sie es von Meduseld gewohnt waren.
König Éomer sprach von dem Dunlandfeldzug und der Rolle, die Roderic darin gespielt hatte, und Imrahil erzählte von der Geschichte Gondors. Dann berichtete Lothíriel davon, wie sie Éomer zum ersten Mal gesehen hatte.
„Nach dem Ende des Großen Ringkrieges kamen wir alle nach Minas Tirith. Dort feierten wir den Sieg und wohnten der Krönung König Elessars bei. Ich stand nicht weit von meinem Vater entfernt, und neben ihm erblickte ich König Éomer. Es war eine fröhliche Feier, und wir kamen ins Gespräch. Na ja, und in mir erwuchs das Interesse.“
„Ja, aber dann war da noch etwas.“
„Oh ja. Dieser törichte Thalion nahm mich beiseite und fragte mich, was ich denn an diesen ungehobelten Gesellen aus dem Norden finden würde. So nannte er damals die Rohirrim, und das nach allem, was sie für Gondor getan hatten. Ich fand heraus, dass Thalion ein Auge auf mich geworfen hatte. Ich aber nicht auf ihn, und er wollte sich mit Gewalt nehmen, wovon er glaubte, dass es ihm zustünde. Dass es nicht so weit kam habe ich König Éomer zu verdanken.“
„Ja, auch ich habe gegen Thalion gekämpft. Und sehr knapp gesiegt. Manche sagen heute noch, das sei nur gewesen, weil ich ihn des Abends und ohne Rüstung erwischt hatte. Und Thalion war bis vor kurzem wohl noch der Meinung, selbst der beste Krieger Rohans könne ihn nicht besiegen.“
„Deswegen war ich durchaus erfreut, als ich von Eurem ersten Sieg in Edoras hörte, Roderic. Und ich bin mehr als erfreut, dass Ihr das hier und heute nochmals wiederholt habt. Ich möchte eine Schildmaid werden, aber vor allem, um mich selbst gegen diesen Unmenschen zur Wehr setzen zu können.“
„Was du Thalion vorwirfst ist nicht wenig, meine Tochter“ sagte Imrahil. „Er wird sich in einem Zweikampf erwehren wollen. Solltest du nicht einen Kämpfer bestimmen, der an deiner Statt antritt? Was ist mit Herrn Céorlred?“
„Nein, ich will das selbst mit ihm klären. Wenn jemand an meiner Statt gegen ihn antritt, dann wird er nie Ruhe geben. Und ich hoffe doch, dass in Edoras mein Wunsch gewährt wird?“
„Das wird er“ sagte Éomer. „Und bis du soweit bist wird jeder meiner Krieger dich vertreten. Übrigens habe ich noch etwas für dich. Lasst uns zu den Ställen gehen!“
Mit klopfendem Herzen gingen Éomer und Lothíriel zu den Ställen. Roderic folgte ihnen in geziemendem Abstand. Er war zwar nicht dazugerufen worden, aber er wollte eingreifen können, sollte irgendwas schiefgehen. Und sollte Lothíriel das Pferd nicht gefallen, dann würde er jede Verantwortung dafür übernehmen.
„Da schau mal, der große Schwarze, das ist deiner!“
Lothíriel machte erst große Augen, dann fiel sie Éomer um den Hals. „Ein wundervolles Tier! So eines habe ich mir gewünscht! Danke!“
„Bedank dich bei meinem lieben Céorlred. Der hat ihn für dich ausgesucht. Das kannst du gleich hier machen, dann ist er uns nicht vergeblich gefolgt“ meinte Éomer augenzwinkernd.
„Das Sattelzeug hier gehört auch dazu. Ich habe einen der besten Sättel aus der Zeugmeisterei geholt. Den zu bekommen hat mich einige Überredung gekostet, aber Herr Éomer wird mir das Fehlen einiger Metflaschen sicher nachsehen.“
„Ach ja?“ lachte Éomer. „Wie wäre es mit einem kleinen Ritt zu nächtlicher Stunde? Du kannst dich ja mal als Stallbursche nützlich machen, Céorlred. Sattle ihn auf, und mein Pferd auch gleich. Wir werden nicht lange unterwegs sein.“
Éomer und Lothíriel ritten nicht weit, nur vom Stadttor bis zur Straßenkreuzung und wieder zurück. Insgesamt waren sie nicht mal eine Meile unterwegs, aber Lothíriel war überglücklich, als sie wieder bei den Ställen waren. Sie plante schon größere Ausritte in die nähere (und weitere) Umgebung von Dol Amroth. Prinz Imrahil meinte, irgendwann würde wohl selbst König Éomer des vielen Reitens überdrüssig werden.
„Nun, das glaube ich kaum“ lachte Roderic. „Viele Rohirrim lernen zuerst Reiten und dann Laufen, und ich habe gehört, dass es bei Herrn Éomer nicht anders war. Und dann fühlt er sich in der Gegenwart von Frau Lothíriel sehr wohl, wie man sehen kann. Ich fürchte nur, ihn irgendwann an seine Pflichten als König erinnern zu müssen.“
Die beiden waren tatsächlich in den folgenden Tagen viel im Umland von Dol Amroth unterwegs, und die Rohirrim fühlten sich ein wenig überflüssig. König Éomer meinte, auf ihre Begleitung verzichten zu können, was ihre Tage langweilig werden ließ. Roderic bestand wenigstens darauf, dass sie sich täglich im Gebrauch ihrer Waffen übten. Vor dem Stadttor ließ er eine Zielscheibe aufstellen, auf die die Reiter vom Pferd aus schossen. In der Kunst des berittenen Schießens wurden sie rasch besser, und Roderic suchte nach neuen Herausforderungen. Bald standen Zielscheiben an diversen Hindernissen, Wassergräben, Hecken und was sich sonst noch so in der Landschaft in einen Reitparcours einbauen ließ. Die Reiter waren so in ihre Übungen vertieft, dass sie die beiden königlichen Zuschauer nicht bemerkten.
„Sagt mal, ist euch langweilig oder was treibt ihr da im Namen aller guten Geister?“ rief Éomer. „Bis einer von euch in den Graben fällt und nass wird! Was macht ihr da?“
„Wir üben berittenes Bogenschießen“ entgegnete Roderic trocken. „Wir haben nur die Anforderungen ein wenig hochgesetzt. Vielleicht müssen wir ja mal fliehende Feinde über Stock und Stein verfolgen. Außerdem ist es ein guter Zeitvertreib.“
„Kaum läßt man seine Mannen mal alleine, schon haben sie nur Unsinn im Sinn. Na, dann zeig mal, mein bester Céorlred, was du auf diesem Parcours machst.“
Roderic tat wie ihm geheißen wurde, und er trieb sein Pferd zu gestrecktem Galopp an. Trotz der Hindernisse saß jeder Schuss, und Ross und Reiter waren noch nicht mal außer Atem, als der Ritt beendet war.
„Na, Herr? Auch mal?“
„Vergiss es! Im Gegensatz zu euch hatte ich Schöneres zu tun! Was gibt es Schöneres, als die herrliche Gegend hier in Begleitung einer schönen Dame zu genießen?“
„Na, dieses Glück haben wir nicht, Herr Éomer. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als in dieser herrlichen Gegend hier unsere Übungen zu machen.“
„Ich glaube, ihr braucht ein bißchen mehr sinnvolle Beschäftigung. Ich lasse euch am besten von Herrn Imrahil zu Wachdiensten einteilen. Oder noch besser: wir unternehmen einen mehrtägigen Ausritt. Da vergehen euch die Flausen.“
„Wir könnten ja nach Rohan reiten“ schlug Lothíriel vor. „Jetzt wo du mir den Hof machst, mein liebster Éomer, könntest du mir ruhig mal meine zukünftige Heimat zeigen. Komm, wir gehen gleich zu meinem Vater und sagen ihm Bescheid.“
Éomer war zu überrumpelt um zu widersprechen, und die beiden verschwanden in der Stadt. Kopfschüttelnd sah Herefára ihnen nach.
„Na, da kommt unser König wohl bald unter die Haube“ meinte er. „Auf jeden Fall hat sie die Hosen an, würde ich sagen. Und wir kommen bald wieder in unsere Heimat.“
„Das sehe ich genauso“ sagte Roderic. „Ich weiß nur nicht, ob sie schon einmal im Weißen Gebirge unterwegs gewesen ist. Das ist etwas anderes als so ein kurzer Ausritt. Wir sollten vielleicht ein paar Dinge besorgen, die unsere beiden Turteltauben mit Sicherheit vergessen. Ich denke da an Winterkleidung und vielleicht noch ein paar zusätzliche Rationen.“
Keine zwei Tage später waren die Reiter wieder auf dem Weg nach Rohan. Auf den Gebirgspässen fiel immer noch Schnee, und natürlich hatten zwei ganz bestimmte Liebende nicht daran gedacht, warme Winterkleidung einzupacken.
„Wer denkt denn im Frühsommer an sowas“ knurrte Éomer, als Roderic den beiden die schweren Wollmäntel reichte, die sie in Dol Amroth besorgt hatten.
„Ich habe hier oben einmal gefroren und brauche das kein weiteres Mal“ meinte der Hobbit.
„Wenn ich dich nicht hätte. Dann hätten wir eine kalte Nacht.“
Bald hatten sie die eisigen Höhen hinter sich gelassen, und auf dem Paßweg konnten sie auf ein weites, grünes Land blicken, die Ebenen von Rohan. Ein kleiner, heller Punkt zeigte den Reitern das Ziel ihrer Reise: die Goldene Halle Meduseld. Noch hatten sie einen Tag auf den Gebirgswegen vor sich, aber Edoras rückte stetig näher.
Die Ankunft König Éomers und seiner zukünftigen Gemahlin wurde mit einem Freudenfest gefeiert, das bis tief in die Nacht dauerte. Lothíriel genoss es, der bewunderte Mittelpunkt der Feier zu sein. Éomer freute sich darüber, dass seine Brautwerbung erfolgreich war. Und Roderic war froh, wieder in Edoras zu sein. Was ihm jetzt noch gefehlt hatte war der Herr des Bocklands, aber Merry war noch immer in Minas Tirith unterwegs. Ein Bote würde sich auf den Weg machen, um die frohe Kunde zu König Elessar zu überbringen und dieser Bote war ein Hobbit, und einen gewissen Gefangenen würde er ebenfalls zu überbringen haben.
Roderic ritt mit einer Abordnung nach Gondor, die größer war als gewöhnlich in jenen Tagen. Immerhin geleitete er den gefangenen Brenin, der im Süden den Prozess gemacht bekommen sollte. Dazu kamen noch einige Edelleute, die in Gondor diverse Angelegenheiten zu erledigen hatten. Zusammen mit den Wachen machte das eine Gruppe von fünfzig Reitern, die unter seinem Kommando standen.
Sie waren von König Éomer und seiner Verlobten mit freundlichen Worten verabschiedet worden, und nun ritten sie auf der Nordstraße nach Gondor. Die Straße führte bis zu den Stadttoren von Mundburg, und sie waren in sicheren Landen unterwegs. Roderic Céorlred war aber vom König ermahnt worden, sich in Gondor der Gemeinsamen Sprache zu bedienen. Immerhin sprach er in Rohan fast nur noch Rohirrisch. „Merry wird kein Wort verstehen, wenn du deine Gewohnheiten nicht änderst“ hatte König Éomer gelacht. Roderic selbst war erstaunt, wie schnell er die Sprache gelernt hatte. Er hatte gefürchtet, sich damit bedeutend schwerer zu tun.
Der Ritt nach Gondor war ereignislos verlaufen. Nach einigen Tagen hatte die Straße einen Schwenk nach Süden gemacht, und die Weißen Berge schwangen nun zurück. In der Ferne sahen sie einen großen Fluss, von dem Roderic vermutete, dass es sich um den Anduin handelte. Von Zeit zu Zeit gab es Wachposten an der Straße, bei denen sie sich meldeten und wo sie für die Nacht rasten konnten. Der Hobbit vermutete, dass von dort Nachricht über ihre Ankunft geschickt wurden.
Nach zwei Wochen nicht allzu hastigen Reitens konnte Roderic endlich Mundburg sehen. Die Weiße Stadt war auf einem Berg errichtet und aus diesem Berg herausgehauen worden, und ein hoher Felssporn zeigte nach Osten auf ein weites Flusstal. Auf diesem Felssporn stand auf der rückwärtigen Seite ein großer Palast und ein hoher Turm. Dort residierte Aragorn Telcontar, Elessar der Elbenstein, der Hohe König von Gondor und Arnor.
Die Reiter eilten sich nun, den letzten Teil ihrer Reise hinter sich zu bringen, und an den Stadttoren des ersten Stadtringes standen viele gut gerüstete Krieger, die das Wahrzeichen des Weißen Baumes auf ihrer Brust trugen. Mit einer Handbewegung gebot einer den Reitern zu halten.
„Wer reitet hier nach Minas Tirith?“
„Roderic Céorlred von Rohan. Ich bin von König Éomer entsandt worden, einen wichtigen Gefangenen zum Hohen König zu bringen und ihm diesem zu übergeben. Mit mir reisen Edelleute aus Rohan, deren Angelegenheiten sie ebenfalls nach Gondor führen.“
„Dann seid uns willkommen, Roderic Céorlred. Unsere Verbündeten aus Rohan sind uns stets willkommen. Doch mir scheint, Ihr seid nicht im schönen Rohan geboren.“
„Das seht Ihr richtig. Ich bin ein Hobbit in Diensten König Éomers. Und in seinem Auftrage reite ich.“
„Dann werde ich Euch sogleich vor den König bringen lassen, damit Ihr Euren Auftrag zu Ende führen könnt. Immerhin seid Ihr nicht der einzige perian in dieser Stadt, wie Ihr sehen werdet.“
Der Wächter winkte einen Krieger herbei, der Roderic und den Gefangenen zum König bringen sollte. Der Hobbit hatte Glück, denn König Elessar weilte gerade im ersten Ring der Stadt und sie mussten nicht allzu weit gehen. Nahe der Lampenmacher-Straße war ein großes Gebäude.
„Das ist das Alte Gästehaus. Hier spricht der König des häufigeren Recht. Er hat Kenntnis von Eurem Kommen. Ihr könnt also eintreten.“
Wachen öffneten die schweren Türflügel, und Roderic trat in das düstere Halbdunkel der dahinter liegenden Halle. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das Licht zu gewöhnen. Dann sah er, wie ein hochgewachsener Mann mit durchdringenden grauen Augen an der gegenüber liegenden Wand auf einem hohen Sitz saß. Gemessenen Schrittes trat der Hobbit auf den Thron zu und kniete nieder.
„Ein Hobbit in der Rüstung Rohans, und er heißt nicht Merry Brandybock“ lachte der Mann. „Das muss Roderic Céorlred sein, von dem mir Éomer so viel berichtet hat. Seid willkommen in Gondor und erhebt Euch. Man sagt, Ihr brächtet einen hohen Gefangenen?“
„Das ist richtig, Herr. Auf unserem letzten Feldzug in Dunland ist es uns gelungen, lheu Brenin gefangen zu nehmen. Es heißt, ihm werden schwere Vergehen zur Last gelegt. Hier ist er, auf dass über ihn gerichtet werden möge.“ Auf einen Wink Roderics wurde Brenin vor den König gebracht.
„Ihr habt kein Recht, mich gefangen zu halten und kein Recht, über mich zu richten“ knurrte Brenin. „Ich bin der rechtmäßige Herr über Dunland und fordere mein Recht, als freier Mann sofort dorthin zurückkehren zu können.“
„Eure Vergehen und Euer Verrat sind in Gondor wohler bekannt als Euch lieb sein dürfte“ erwiderte der Hohe König. „Wir werden über Euch richten und das Gericht wird entscheiden, was Ihr dürft und was nicht. Es wird bald zusammentreten und dann werdet Ihr Euch verteidigen können. Ihr habt noch Zeit, Euch darauf vorzubereiten, nutzt sie gut. Bringt ihn weg.“
Auf einen Wink Elessars wurde Brenin von zwei Wächtern weggeführt. „Ich sehe, die Kunde über Euch ist wahr“ sagte der König zu Roderic. „Ihr habt es tatsächlich geschafft, diesen Verräter dingfest zu machen. Man muss Euch in Rohan dafür ehren.“
„Das ist wahr, auch wenn es König Éomer manchmal übertreibt. Ich habe nicht mehr und nicht weniger als meine Pflicht getan und die mir übertragenen Aufgaben erledigt. Aber es stimmt, wenn man sagt, ich sei in die Dienste König Éomers getreten. Im Auenland kann man als Wächter nicht viel erleben, und als Wächter zählt man dort nicht viel, selbst wenn man dort sogar einmal ein Hauptmann war und Sarumans Halborks den Weg aus dem Auenland heraus gezeigt hat. Und nun diene ich Rohan, seine Verpflichtungen sind meine Verpflichtungen und seine Verbündeten sind meine Verbündeten.“ Er zog sein Schwert und legte es dem Hohen König zu Füßen. „Gebietet über mich, Herr.“
„Das tue ich und ich höre es gern.“ Er gab dem Hobbit das Schwert zurück. „Und ich höre, Ihr habt im Dunland Waffen der Haradrim erbeutet. Berichtet mir mehr davon. Habt Ihr dort auch Haradrim gesehen? Gibt es ein Bündnis? Was sagt Rohan über diese Bedrohung?“
„Es scheint ein Bündnis zu geben, auch wenn wir keine Haradrim in Dunland antreffen konnten. Die neue lheu von Dunland, Frau Nona hat uns aber zugesagt, nach solchen Feinden zu suchen und sie uns auszuliefern, falls welche angetroffen werden. Bislang sieht es aber so aus, als ob von den Haradrim nur Waffen und keine Leute nach Dunland gekommen sind. Insofern ist das ein Lichtblick.“
„Wir wissen nicht, ob die Haradrim von den Dunländern verstärkt worden sind“ erwiderte König Elessar. „Vor kurzem wurden wir am Hafen von Harlond und an den Übergängen des Poros von ihnen angegriffen. Unseren Streitkräften ist es gelungen, die Feinde zurückzuwerfen, sie konnten aber keine Gefangenen machen. Nun soll ein Erkundungstrupp so weit wie möglich nach Süden vorstoßen. Es wäre gut, wenn sich dem Trupp ein Krieger anschließen könnte, der gegen die Dunländer gekämpft hat und ihre Waffen erkennen kann.“
„Ich werde gehen, wenn das Euer Wunsch ist“ sagte Roderic Céorlred ernst. „Mein König Éomer wünscht ebenfalls gesicherte Erkenntnisse über ein mögliches Bündnis zwischen den Haradrim und Dunland. Damit habe ich den gleichen Weg wie Euer Erkundungstrupp.“
„Das freut mich zu hören. Nun, die Expedition soll in der nächsten Woche starten. Ihr hättet damit noch genug Gelegenheit, Euch auszuruhen und mit den Gewohnheiten unserer Truppen bekannt zu machen. Herr Meriadoc erwartet übrigens Euer Kommen. Er weilt in Ithilien auf dem Landgut von Faramir und Éowyn. Für morgen ist das ein angenehmer Ritt: ein schneller Reiter ist in drei Stunden da, und das Wetter soll so gut bleiben wie es ist. Ich werde Euch heute noch dem Hauptmann der Wache vorstellen. Herr Húrin wird den Trupp zusammenstellen. Aber das hat noch ein wenig Zeit. Diener werden Euch zu Eurer Unterkunft bringen.“
Roderic verneigte sich, und ein Diener führte ihn zu einem geräumigen Zimmer im Alten Gästehaus. Es war (vollkommen hobbituntypisch) im zweiten Stock des großen Steingebäudes gelegen, aber Roderic war damit zufrieden: er konnte auf den Torplatz sehen, auf dem immer ein geschäftiges Kommen und Gehen zu herrschen schien. Sein Pferd war bereits in den Ställen versorgt worden, aber der Hobbit wollte später nochmal nach ihm sehen. Éomer hatte ihn vorgewarnt, dass nicht jeder in Gondor gut mit Pferden umgehen konnte.
Noch bevor er überhaupt daran dachte, sich auf den Weg zu den Ställen zu machen klopfte es an der Tür. Ein Diener erschien, um ihn zu Herrn Húrin zu bringen. Der Wächter der Schlüssel und Hauptmann der Stadtwache residierte in der großen Torwache.
„Seid willkommen, Herr Céorlred von Rohan“ sagte Húrin. „Herr Elessar ließ mitteilen, dass Ihr bereit wäret, an der Expedition an die Südgrenze teilzunehmen?“
„Das bin ich, Herr. Ich habe gegen die Dunländer gefochten und von ihnen Waffen und Gegenstände erbeutet, die auf ein Bündnis mit den Haradrim schließen lassen. Mein Herr Éomer hat mich entsandt, diesen Dingen auf den Grund zu gehen.“
„Sehr gut. Wir haben Gerüchte und Beutestücke aus Rohan bekommen, aber bislang noch nichts weiter. Ich hoffte sehr, Ihr würdet mehr berichten können. Aber nicht jetzt und sofort. Ihr seid weit geritten und ein perian muss immer hungrig sein, heißt es.“
„Wenn Ihr die Herren Meriadoc und Peregrin meint: ja, die sind es“ lachte Roderic. „Ich bin aber durchaus daran gewöhnt, dass es bei den Rohirrim drei Mal am Tag zu essen gibt und das genügt eigentlich auch. Außerdem soll mein Ross nicht unnötig viel Gewicht zu tragen haben.“
„Das könnt Ihr gerne genau so meiner Stadtwache sagen“ lachte Húrin. „Ich sehe, Ihr seid eher Rohir denn Halbling. Aber vergebt mir, die Sonne neigt sich gen Westen und wir haben jetzt tatsächlich Essenszeit, und zu dieser Zeit versammeln wir uns und besprechen nach dem Essen die Angelegenheiten des Tages. Ihr könntet uns von Eurem Ritt nach Dunland berichten. Ihr werdet sehen, wir haben noch immer mehr Fragen als Antworten.“
Roderic nahm die Einladung gerne an, und nach dem Stillen Gedenken wurde ein (sowohl für auenländische als auch für rohirrische Verhältnisse) reichhaltiges Abendessen aufgetischt. Es gab kalte Braten, würziges Brot, gekochte Möhren und dazu eine reichhaltige Schale mit Obst. Nach einer halben Stunde, die nicht durch unnötiges Gerede unterbrochen wurde hob Húrin die Tafel auf und die Runde rückte näher zusammen. Diener brachten Wein, und Húrin erhob sein Glas.
„Ein Hoch auf unsere Verbündeten, die Rohirrim! Möge es ihren Rössern auf immer gut ergehen!“
Auch Céorlred erhob sich. „Ein Hoch auf Gondor, dem Verbündeten Rohans! Mögen seine Lande auf immer gedeihen!“
Nach dem Bekräftigen des Bündnisses tranken alle auf ihr Wohl, und Húrin ergriff erneut das Wort. „Ihr Herren von Gondor, heute haben wir einen besonderen Reiter von Rohan zu Gast. Roderic Céorlred kommt aus dem Land der Halblinge im fernen Norden und ist König Éomer dienstbar. In den Diensten der Rohirrim ist er weit ins Dunland geritten und hat Neuigkeiten für uns.“
Damit ergriff Céorlred das Wort. „Fürwahr, ich bin mit dem Heer der Rohirrim nach Dunland gezogen, und dies haben wir mitgebracht.“ Er deutete auf die ausgestellten haradrischen Waffen. Dann erzählte er, wie er diese Waffen erbeutet hatte. Lange berichtete er noch von den anschließenden Taten, und mit dem Bericht über Brenins Gefangennahme und dem Verbringen des abgesetzten lheu zu König Elessar endete er.
„Zweifellos eine aufschlussreiche Geschichte“ sagte Húrin. „Nun, Ihr seht, weswegen wir die Südgrenze Gondors erkunden müssen. Die Südgrenze sage ich, obwohl es sinnvoll sein könnte, noch weiter südlich zu reiten. Aber das müssen die entscheiden, die so weit vorstoßen. Was sagt Ihr, Mablung?“
Ein nicht ganz so hoch gewachsener gondorischer Krieger in grüner Kleidung erhob sich. „Ich finde, was unser rohirrischer Freund erzählt hat ist mehr als aufschlussreich. Es ist uns Waldläufern von Ithilien eine Warnung. Wenn es die Haradrim tatsächlich geschafft haben, ohne unser Wissen bis nach Dunland vorzudringen, dann ist das bedenklich. Auf dem Landweg hätten sie einmal längs oder einmal quer durch Gondor gehen müssen. Das ist dank unserer Wachsamkeit aber ein Ding der Unmöglichkeit, das schwöre ich Euch bei allen guten Geistern. Und die Haradrim müssen Kontakt mit den Dunländern Brenins gehabt haben. Anders können diese Waffen nicht nach Dunland gelangt sein. Und sie sind zu neu um aus dem letzten Krieg zu stammen.“
„Mein König Éomer vermutet, dass die Haradrim das Dunland auf dem Seeweg erreicht haben“ warf Céorlred ein. „An den Mündungen des Isen haben die Dunländer einen Hafen gebaut, heißt es. Über diesen können Haradrim leicht den Westen Mittelerdes erreichen, ohne dass Rohan oder Gondor davon etwas mitbekommen.“
„Wir werden unsere Seemacht ausbauen müssen“ sagte Húrin. „Aber das soll nicht unsere Sorge sein. Céorlred, Ihr habt soeben Mablung kennen gelernt. Er wird den Erkundungstrupp an die Südgrenze anführen.“
Roderic stand auf und verbeugte sich. „Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihr der Mablung seid, der den Letzten Kriegszug vor das Schwarze Tor brachte? Herr Peregrin pflegte uns des Abends davon zu erzählen.“
„Ganz recht, der bin ich. Ich dachte nur nicht, dass sich diese Geschichte bis in das ferne Land der Halblinge herumgesprochen hatte. Aber die Ehre ist ganz meinerseits: mit dem Céorlred reiten zu dürfen, der den obersten Dunländer ganz alleine besiegt hatte.“
„Na, ganz so war es dann doch nicht“ murmelte Roderic und lief rot an. „Ohne die Hilfe von vielen würden wir nicht in dieser Runde zusammensitzen.“
„So spricht ein richtiger Held“ lachte Mablung. „Die Kunde von Euren Taten hat hier in Minas Tirith schon die Runde gemacht. Es gibt sogar schon Gerüchte von einem Heer der Halblinge, das kommt um uns im Kampf gegen die Haradrim zu helfen. Ich glaube da zwar genau so wenig wie alle anderen hier daran, aber die Menschen hier lieben Heldengeschichten. Und manche neigen dazu, so etwas etwas blumiger zu erzählen als es sich tatsächlich zugetragen hat.“
„Nun, das passiert mir in meiner Heimat sicher nicht“ lächelte Roderic. „Im Auenland gelten Krieger nicht allzu viel. Dafür zählt der reich gedeckte Tisch und diejenigen, die dafür sorgen.“
Sie saßen noch lange in der gemütlichen Runde am Feuer und erzählten sich Geschichten von vergangenen Taten. Roderic Céorlred erweckte einiges Interesse, als er von der Befreiung des Auenlands und der Rolle, die den Herren Meriadoc und Peregrin darin zugefallen war berichtete. Doch hatte Roderic sich schon vorher der Wache des Bocklands angeschlossen, und als Krieger, Wächter und Hauptmann hatte er noch mehr erlebt.
In Gondor waren nach dem Großen Sieg die Tage zunächst friedlich gewesen. Die Haradrim hatten Gesandtschaften entsendet, die dem neuen König huldigten und Verträge mit ihm schlossen. Selbst die Corsaren hatten sich ruhig verhalten, und sie steckten viele Energien in den Wiederaufbau der Lande im Osten. Die Menschen hatten in jener Zeit die Hoffnung genossen, jetzt in einem Zeitalter des langen Friedens zu leben. Aber seit einiger Zeit machten die Corsaren von Umbar wieder Ärger, und die Haradrim griffen die Südgrenze Gondors an. Sie hatten die geschlossenen Verträge für null und nichtig erklärt und Ansprüche auf weite Teile des südlichen Gondors erhoben. Es war klar, dass König Elessar diesem Ansinnen nicht nachgeben würde, und so kam es zu offenen Feindseligkeiten. Auch in den fernen Landen im Osten herrschte Aufruhr, und Reisen zum fernen Seestadt und den Zwergen von Thal waren nicht mehr gefahrlos möglich. Die größte Gefahr drohte im Moment aber tatsächlich von Süden, und an den Küsten wagte sich kein Fischer mehr weiter als auf Sichtweite zum Ufer hinaus auf die See. Noch waren die Völker Mordors und von Rhûn friedlich, aber viele befürchteten, dass sich das bald ändern könnte.
Doch das alles waren Sorgen, die für den Moment weit entfernt waren, und Húrin beendete schließlich die Runde. Roderic würde am nächsten Morgen in Richtung Ithilien aufbrechen und auf Faramirs Landgut auf den Trupp warten.