Arda Fanfiction

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Nordlicht

von Calamîr

Eine Reise vom Tod zum Leben

Es war eine dunkle und kalte Winternacht, als ein einsamer Reiter auf einem dünnen und alten Pferd die Tore nach Imladris durschritt. Der Reiter war in zerschlissene Mäntel gekleidet, viel geflickt und von der Sonne ausgeblichen. Man brachte das Pferd in die Ställe, gab ihm Heu, Hafer und Wasser und führte den müden Wanderer in das heimelige Haus. Es war ein Elb und sein Name war Olostamo. Sein Haar war schwarz und zerzaust, von Flechtungen und Holzperlen geziert und das Blau seiner Augen war so tief, dass sie fast schwarz erschienen. Sein Gesicht war von harten Reisen, Trauer und tiefem Schmerz gezeichnet, doch im Stillen überwog ein tiefer Frieden. Er war ausgezehrt von der Reise, müde und erschöpft, sodass er sich beim Gehen auf einen hölzernen Stab stützte. Wenige wussten von ihm und dass er einstmals hier gelebt hatte. Das meiste war bloß, dass er in vielen Kriegen an ihrer Seite gekämpft hatte, aber nach den Kämpfen mit Angmar nicht zurückkehrt war.
Auf seinen Wunsch hinführte man Olostamo in die Halle der Geschichten, wo man ihm Speise und Trank her brachte.
„Herr Olostamo“, sprach eine junge Elbin, „wir haben ein Zimmer aufbereiten lassen und Euch frische Kleidung bereitgelegt.“
„Habt Dank“, erwiderte er und sein Lächeln war sowohl traurig und erschöpft als auch von einem großen und tiefen Frieden erfüllt, „doch ich bin nur auf der Durchreise, ich werde keine weiteren Kleider mehr brauchen.“
Nachdem er fertig gegessen hatte, war bereits eine kleine Schar von Elben in der Halle der Geschichten versammelt. Wenige kannten ihn, denn lang lagen die Kämpfe um Angmar zurück.
Olostamo lächelte im Stillen. Endlich war er angekommen. Er wusste, was man hier in der Halle der Geschichten von ihm erwartete. Er sah es in ihren Augen und spürte es in ihren Herzen. Und zu nichts anderem war er selbst nach Imladris gekommen. Nur wegen diesem einen Grund. Und es linderte etwas den Schmerz in seinem Herzen, dass so viele zum Zuhören gekommen waren.
So begann er zu erzählen:
„Es wissen nur noch wenige von euch, doch einst war ich dabei, als dieses Heim im Zweiten Zeitalter gegründet wurde und an meiner Seite war meine Zwillingsschwester Arveldis. Wir waren in den letzten Jahren Beleriands geboren worden und man lehrte uns das Kriegerhandwerk, denn Morgoth war stark und bedrohlich. Nach seinem Sturz und dem Untergang unserer Heimat lebten wir unter Gil-Galad in Lindon und wir glaubten, wir hatten Frieden. Doch dann kam der Krieg über Eregion und erneut mussten wir zu den Waffen greifen. Meine Schwester und ich waren im Gefolge Elronds, als er auszog, um Eregion beizustehen. Wir flohen mit den Überlebenden nach dem Fall des Reiches und halfen hier bei der Gründung von Imladris. Auch in den folgenden Jahren lag das Schwert nahezu täglich in unseren Händen und alle Kriege aufzuzählen, in denen Arveldis und ich kämpften, würde trübe Wolken vor den hellen Mond ziehen und die Sterne verdunkeln. Es geschah schließlich in den Kämpfen um Angmar, dass meine Schwester und ich getrennt wurden. Da überkam mich eine schreckliche Leere und Angst, denn ich hatte noch nie ohne Arveldis an meiner Seite gekämpft. Ich war zu stark auf sie angewiesen und so war ich unaufmerksam gegenüber dem Feind und wurde schwer verletzt. Lange, Wochen oder Monate mögen es gewesen sein, in denen ich auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod wandelte. Doch ich klammerte mich verbissen an das Leben, denn ich hatte Angst, schreckliche Angst. Ich wandte mich ab und hielt mir die Ohren zu, wenn ich Mandos neben mir spürte. Dann wurde mir kalt und ich wünschte mir nichts sehnlicher als Arveldis an meiner Seite, denn nur mit ihr fühlte ich mich ganz und heil. Ohne sie war ich nicht ich, kein ganzer Elb. Doch sie kam nicht und ich besaß nicht die Kraft, nach ihr zu fragen.
Der Krieg in Angmar ging vorbei und noch immer lag ich verletzt im Zelt, geschwächt und entkräftet.
„Wo ist meine Schwester“, fragte ich, „wo ist Arveldis?“ Meine Stimme zitterte, es war kaum mehr als ein Flüstern, ein Raunen des Windes.
Sie sahen mich traurig an.
„Arveldis fiel bei den Nordhöhen“, sagte ein Heiler, „es tut uns leid.“
Ich weigerte mich, dies zu glauben, ich weinte und rief nach ihr, schrie ihren Namen und jeder Schlag meines Herzens war eine Qual. Solange bis meine Schwäche mich einholte und ich in tiefe, traumlose Nächte fiel.
„Komm, wir bringen dich nach Imladris, dort wirst du Heilung für deinen Geist finden“, sagten sie zu mir.
„Für meinen Geist? Wie wollt ihr den Schmerz meiner Seele heilen, wenn selbst die Wunden meines Leibes euer Können übersteigen?“
Darauf schwiegen sie und ich wandte mich ab. Niemand hielt mich auf, als ich mich von dem Heer trennte und zu den Nordhöhen ritt. Außer mit Arveldis hatte ich nie enge Freundschaften geschlossen, denn wir waren alles, was wir brauchten. Ich zog fort, nur mit meinem Ross und meinem Schwert. Ich hatte meine einstige Stärke verloren und konnte nicht lange laufen, geschweige denn in Rüstung kämpfen und im langen Gefecht ein Schwert schwingen. Aber die Überzeugung, dass Arveldis lebte, trieb mich voran. Sie musste irgendwo dort in den öden Landen der Nordhöhen sein, irgendwo dort musste sie hin geflohen sein und sich vor Angmars Truppen versteckt haben. Sie war von mir getrennt worden, sie musste geflohen sein, denn niemals wäre sie woanders als an meiner Seite gestorben. Und ich mit ihr.
Das Land, in welches ich kam, war rau, kalt und es blies ein ewiger Wind, welcher gradewegs aus dem eisigen Forochel kam. Lange streifte ich dort umher, schlief unter Wurzeln und Felsvorhängen, hielt mich von den wilden Menschen, welche dort lebten, fern und aß das, was die Natur mir gab. Ich litt Hunger und Kälte, Angst und Schmerzen. Schmerzen des Leibes und der Seele. Ich suchte und ging an allen Orten, gleich wie gefährlich sie waren, denn kein Wagnis und keine Gefahr schien mir so groß, wie ohne Arveldis zu leben. Ich ging an tiefen Schluchten entlang, in deren Gründen schwarzes Wasser tobte und mit seinem Geschrei über den Tod die ganze Luft erfüllte. Ich durchquerte sumpfige Moore, in denen jeder Schritt der letzte sein konnte. An Berghängen, wo ich wanderte, konnten Lawinen losbrechen und dann gab es dort Wölfe, Bären und anderes Getier, welches keinen Namen hat und von anderen Händen als denen der Valar geschaffen wurde. Hinter jeder Hügelkuppe lauerte der Tod, hinter jeder Ecke, in jedem Schatten, in jeder Beere, die ich aß.
Mit dem Voranschreiten der Zeit lernte ich, mich dort allmählich zurechtzufinden. Die richtigen Wege zu erkennen und mich sicherer zu bewegen. Meine Verletzungen schränkten mich weiter ein und grade im Winter gab es gelegentlich Tage, an denen ich so schwach war, dass ich mich kaum mehr rühren konnte. An solchen Morgen, an denen selbst der Kraftaufwand die Hand zu heben, zu groß wurde, legte sich mein treues Pferd neben mich und teilte die Wärme seines Körpers mit mir. Es war das erste Mal, dass ich einen richtigen Freund gefunden hatte. Ich gab ihm den Namen Tinwe, den Funken. Denn sein Fell war von einem tiefen, dunklen Rot, in welches sich wilde weiße Tupfen und Flecken mischten.
Zusammen entdeckten wir auch erstmals die große Schönheit, welche in den rauen Bergen und Tälern der Nordhöhen lag. Seen gibt es dort, tief, ruhig und so klar, dass sich das gesamte Himmelszelt in ihnen spiegelt, ohne dass man einen Unterschied bemerkt. Die Ufer sind meist steinig, große verwitterte Felsen, von Flechten und Heidekraut überwuchert. Hier und da auch von Heidelbeeren, Krähenbeeren und anderen, die mir bis dahin unbekannt waren. Es gab Wälder, die Bäume dort, hauptsächlich Kiefern, sind deutlich kleiner als hier und wachsen dort auf moosigen Böden, welche zwischen ihren Stämmen von wildem Unterholz bedeckt sind. Niedrige, mit Stacheln bewährte Sträucher größtenteils, und weiter von den großen verwitterten Felsen durchsetzt. Diese Wälder waren für Tinwe und mich nur schwer zu passieren, denn es gab kaum Wege dort und jene, die es gab, waren von den wilden Menschen angelegt worden, welche weder Elb, Zwerg, noch andere Menschen leiden können. Daher nutzten wir sie nicht und wenn doch, höchst ungern und mit großer Vorsicht.
Wir fanden Ebenen, in denen der Wind tanzte und das Heidegras in den Farben von Amethysten und Rosenquarz blühte. Dort sahen wir Herden von wilden Pferden ziehen, große, schöne Tiere mit stolzen Köpfen und dem Wind unter den Hufen. In anderen Tälern sahen wir Gruppen von gigantischen Ochsen mit furchterregenden Hörnern. Wir beobachteten einmal, wie sie im Zorn einen Bären zerrissen, als dieser versuchte, eines ihrer Kälber zu reißen. Denn so groß ihr Zorn auch war, wenn sich jemand an ihre Liebsten wagte, so groß war auch das Herz, welches donnernd in ihrer Brust schlug.
Einmal verbrachten Tinwe und ich einen Winter bei ihnen, denn sie haben ein dickes, goldbraunes Fell, mit welchem sie mich an Tagen der Schwäche wärmten, und wir halfen ihnen im Gegenzug gute Futtergründe zu finden oder schlugen ihnen, wenn das Eis noch nicht zu dick war, Löcher in die zugefrorenen Flüsse und Seen, damit sie bequemer trinken konnten. Es dauerte lange, bis wir ihr Vertrauen hatten, doch ab da zählten wir zu ihrer Herde und das erste Mal seit vielen Jahren konnte ich in Ruhe und Sicherheit schlafen.
Im Sommer zogen wir weiter, entdeckten die Schönheit der wilden Flüsse, welche mit großer Kraft nach der Schneeschmelze in ihren Betten rauschten, mit einer Macht, die so manches Heer übertraf. Wir erklommen Berge, standen auf ihren Gipfel und bestaunten das ungezähmte Land zu unseren Füßen. So schön in seiner unberührten Wildheit.
Zum Winter hin gingen wir wieder zu den Ochsen und sie erinnerten sich noch an uns. Sie leckten mir mit ihren rauen Zungen die Hände und knabberten liebevoll an meiner Kleidung.

Ihr werdet es bemerkt haben. Mit der Zeit verschwand Arveldis aus meinen vordersten Gedanken und der Platz in meinem Herzen wuchs von all der Schönheit, die es in sich schloss. Ich erkannte, dass die Stärke, die ich zusammen mit Arveldis gespürt hatte, mich blind gegenüber allen und allem anderen gemacht hatte. Nur mit ihr, so dachte ich, könnte ich ganz sein. Ganz ich sein. Ich sein. Doch das stimmte nicht. Und als ich mir dessen bewusst wurde, begann ich langsam ihren Tod zu akzeptieren. Sie war nicht weg, sie war nur woanders. Und das nicht für immer.
Ich hatte mich in das Land verliebt, mit all seiner Wildheit und allen Gefahren. Ich erkannte, dass es nicht der Tod ist, welcher hinter jeder Ecke und in jedem Stein oder im wilden Sturzbach lauert, sondern das Leben. Das Leben ist es, welches einem Schmerzen zufügt und nimmt. Zum Lachen und Weinen bringt. Der Tod kommt nur, um einem vom Leben zu erlösen, wenn dieses zu weit geht. Nicht der Tod ist grausam, sondern das Leben. Und zugleich doch schöner als alles, was der Tod zu bieten hat.

Das erkannte ich im Besonderen, als Tinwe und ich nun einige Jahre schon mit den großen Ochsen im Einklang gelebt hatten. Ich hatte ihnen allen Namen gegeben und wenn Tinwe und ich nach dem Sommer wieder zu ihnen trafen, galoppierten sie uns auf der weiten Ebene entgegen, denn ihre feinen Nüstern kannten unseren Geruch inzwischen nur allzu gut. Ja, es war beängstigend, die ganze Herde dieser riesigen Tiere mit ihren gewaltigen Hörnern auf sich zu galoppieren zu sehen. Ihre Hufe schlugen mit so viel Macht auf den Boden, dass die Erde bebte und der Donner von den Bergen widerhallte. Doch noch größer war die Freude, die sie dabei umgab.
Es war am Ende eines Winters, wo wir wieder Probleme mit den Wölfen bekamen. Ich schützte die Ochsen so gut es ging, doch war ich durch meine alten Verletzungen zu geschwächt, um lange genug das Schwert zu schwingen. Die Wölfe rissen ein Kalb und die Herde trauerte lange. Ich wusste, dass sie dies unter sich tun wollten und so zogen Tinwe und ich trotz der frühen Jahreszeit tagsüber schon fort und kamen nur zur Nacht wieder.
Wir ritten dabei einmal durch eines der kleinen Kiefernwälder über einen Wildpfad, als wir ein leises Winseln hörten. Tinwe blähte die Nüstern und tänzelte unruhig. Daran erkannte ich, dass das Geräusch von einem Raubtier herrühren musste, dessen Geruch ihn nervös machte. Doch war es zu leise und zu jämmerlich, als dass ich es einem bestimmten Tier zuordnen konnte. So stieg ich ab und schlich mich leise zu dem Gebüsch, wo es herrührte. Ich erschrak. Dort lag ein kleiner Wolfswelpe mit schneeweißem Fell. Doch ihm fehlte ein Vorderbein. Ihr Rudel hatte die Kleine verstoßen, da sie wegen ihres Geburtsfehlers nur eine Last für das Rudel darstellte. Ich nahm sie auf, brachte sie zu den Ochsen und zog sie mit deren Milch groß.
Sie wurde sehr groß, größer noch wie die Wölfe alter Zeit. Ich gab ihr den Namen Êlhuan und sie war zahm und liebte die Ochsen, Tinwe und mich. Die Ochsen jedoch wurden immer unruhiger, je größer sie wurde und so beschloss ich schweren Herzens, die Herde zu verlassen. Ich verabschiedete mich von jedem einzelnen und dankte besonders der Leitkuh, welche uns damals aufnahm und jener Kuh, mit deren Milch ich Êlhuan hatte großziehen können.
Es war nun Sommer und Êlhuan war ein junger und aufgeweckter Welpe und trotz dessen, dass sie nur drei Beine hatte, war sie wunderschön und reich an Lebensmut. Zu dritt zogen wir durch die Täler und über die Berge, beobachteten die wilden Pferde in den weiten Ebenen, lagen in der Heide und beobachteten Sterne, Wolken und die Vögel über uns. Tinwe jedoch wurde mit der Zeit sehr alt, und ich ritt ihn nicht mehr und er konnte sich in kalten Nächten nicht mehr zu mir legen, auch wenn Êlhuan dies jetzt tat. Es war gegen Herbst, als wir wieder eine der wilden Pferdeherden entdeckten, wie sie still und friedlich auf der Ebene grasten. Ich sah das Funkeln in den Augen meines alten Freundes, als er sie so sah und ich wusste, wie ich ihm eine letzte Freude machen konnte. Zusammen gingen wir langsam auf die Herde zu, Êlhuan hatte ich angewiesen, dicht hinter mir zu gehen. Die Pferde scheuten erst und tänzelten unruhig, doch sie liefen nicht weg. Als uns nur noch wenige Meter trennten, blieben wir stehen. Ich streichelte ein letztes Mal über die ergrauten Nüstern meines geliebten Freundes und umarmte ihn. Er rieb den Kopf an meinem Rücken und dann ging er zu den wilden Pferden, die ihn sogleich in ihre Mitte nahmen.
Ich weinte und lies den Tränen freien Lauf. Ich freute mich für ihn so sehr, doch trauerte ich auch, denn ich wusste, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Êlhuan und ich saßen zusammen im Heidegras, sie lehnte sich tröstend an mich und legte ihren Kopf in meinen Schoß. Im Abendrot, welches als rotgoldener Schein in das Tal einfiel, sah ich Tinwe fortziehen, dem Licht entgegen.
Die Jahre darauf wurden wieder schwerer als zuvor. Ich wusste, dass ich mit Êlhuan nicht zu den Ochsen konnte und die Winter waren schrecklich kalt. Wir fanden in einem Berg eine kleine Höhle, in der einstmals ein Bär gelebt haben musste. Dort richteten wir uns ein Winterquartier ein und kehrten zur kalten Jahreszeit, wenn der erste Schnee kam, immer dorthin zurück. Êlhuan spendete mir mit ihrem dichten weißen Pelz viel Wärme und sie half mir bei der Nahrungssuche. Ich stellte Fallen auf, denn sie konnte mit ihrem einen Bein kein Fleisch für sich jagen. An den Abenden lagen wir dann gemeinsam in der Höhle, an einem kleinen, knisternden Feuer. Ich massierte ihre Muskeln, denn aufgrund dessen, dass ihr ein Bein fehlte, war das andere zu stark belastet und verspannt. An jenen Morgen an denen ich zu schwach war, um mich zu bewegen, spürte ich, wie sie mit mir litt. Sie ging nicht raus, sondern blieb die ganze Zeit bei und wärmte mich mit ihrem großen weißen Leib. Sie leckte mir das Gesicht, schob ihren Kopf unter meinen Arm und drückte sich an meine Brust. Aber ihre bloße Anwesenheit war schon die größte Hilfe, die sie mir geben konnte. Tinwe und die Ochsen hatten mir zwar mehr Wärme geben können, doch Êlhuan spendete mir mehr Trost als sie alle zusammen. Sie kannte mein Leid und verstand es. Ich erkannte, wie wertvoll das war.
Mit ihr zusammen konnte ich nun auch neue und andere Wege gehen als mit Tinwe. Orte, an denen Hufe keinen Halt fanden. Wir entdeckten Täler und Schluchten, in denen die Heide lila blühte, kleine Birkenwäldchen standen und das Wasser vieler Flüsse lustig über die Felsen sprang, hinein in einen der großen klaren Seen.
Es geschah in einem Winter, der Frost war früh gekommen und die steinigen Ufer der Seen und Flüsse waren vereist, als ich an einem hohen felsigen Hang auf dem Eis ausrutschte und stürzte. Ich fiel tief und ich kenne den Ort nicht, an dem ich aufschlug. Ich sah nur, wie sich ein Schleier löste, fein wie in Glas gefasster Silberstaub, hinter dem ein helles Licht schien. Eine Gestalt tat sich heraus, groß und wunderbar anzusehen.
„Komm, mein Kind, sieh‘ mich an.“, sprach Mandos und allein der Klang seiner Stimme schenkte mir Wärme und milderte den tiefen Schmerz meines Körpers. „Nimm meine Hand und ich bringe dich heim.“
Und hinter ihm sah ich einen Schemen auftauchen. Langsam und immer weiter klärte er sich auf zu Arveldis Gestalt. Sie lächelte.
„Komm mein Bruder, ich warte auf dich. Beende deinen Schmerz und deine Not.“
Die Liebe zu meiner Schwester war unendlich groß und sie jetzt und hier zu sehen, verstärkte den Drang mehr denn je zu ihr zugehen. Doch in dem Moment erinnerte ich mich an Êlhuan. Meine treue Freundin, welche ohne mich nicht überleben konnte. Und mit ihr kamen die Erinnerungen an die Seen, wenn sich der Sternenhimmel in ihnen spiegelte, die wilden Pferde, wie sie über die blühende Heide sprangen.
Ich sah Mandos und meine Schwester an. Ja, es war verlockend, all den Schmerz hinter sich zulassen und das Verlorene wieder in die Arme zu schließen, doch im Leben wurde ich gebraucht und im Leben wollte ich noch bleiben, denn dort war ich glücklich.
Mandos ging und der Schleier senkte sich wieder und verhüllte das ferne Segenreich.
Wie ich nun erwachte, fand ich mich in einem harten Bett in einem kleinen Raum wieder. Ich war zu schwach, um richtig zu denken oder zu sehen, doch ich wusste gewiss, dass Êlhuan bei mir war. Es vergingen viele Wochen, in denen ich nur daliegen konnte, zu schwach und entkräftet, um irgendetwas anderes zu tun. Als mein Geist sich so weit wieder geklärt hatte, erkannte ich, dass mich die wilden Menschen wohl gefunden und aufgenommen hatten. Sie kümmerten sich mich und ich wusste, dass ohne sie Mandos mich schon lange zu sich geholt hätte. Wie ich Woche um Woche dalag und mich langsam Stück für Stück erholte, lehrten mich die Menschen des wilden Volkes ihre Sprache. Sie erzählten, dass Êlhuan sie zu mir geführt und sie mich daher aufgenommen und gepflegt hatten. Das beeindruckte mich sehr, denn sie waren herzensgute und liebe Menschen, entgegen allen Erzählungen, die ich bisher gehört hatte.
Nachdem es mir langsam wieder besser ging, löste sich auch gelegentlich meine treue Êlhuan, welche seit meinem Sturz nicht von meiner Seite gewichen war, von mir und half den Menschen draußen als Wachhund. Wir blieben den restlichen Winter, das ganze Frühjahr, Sommer und Herbst bis wieder tief in den Winter hinein, wo ich mich endlich weitestgehend von dem Sturz erholt hatte. Meine Kräfte waren durch die neuen Verletzungen weiter stark vermindert worden und ich war so schwach, dass ich ein Geist hätte sein können. Ich begann langsam bei einfachen Arbeiten im Haus zu helfen, wofür mir die Familie sehr dankbar war. Im folgenden Frühjahr und Sommer übernahmen Êlhuan und ich die Wacht über die kleine Schafherde und so kam es, dass wir fünf Jahre bei der Familie lebten. Es war eine frohe Zeit, denn das erste Mal seit vielen Jahren war ich wieder unter Leuten, mit denen ich reden konnte. Auch Êlhuan gefiel es sehr, denn sie musste weniger laufen, was ihrem Bein guttat. An langen und kalten Winterabenden saßen wir im Haus gemeinsam am Feuer, ich erzählte ihnen von den großen goldfelligen Ochsen und wie Tinwe und ich bei ihnen gelebt hatten, so wie von vielen schönen Orten, zu denen wir gereist waren. Da staunten die Menschen, denn die großen Ochsen waren in ihren Sitten heilige, unantastbare Wesen, welche sie für die Großen ihrer Ahnen hielten. Ihrerseits erzählten sie mir viele Geschichten, welche man in ihrem Volk von Generation zu Generation weitergab. Auch ich wurde in Staunen versetzt und mir wurde bewusst, wie wenig wir über sie wussten und wie falsch wir sie verstanden. Oft dankte ich den Valar für diese Erfahrung.
Nach fünf Jahren jedoch erkannte ich, dass Êlhuan und ich weitermussten. Wir Elben sind nicht wie Menschen und als ich merkte, dass ich deswegen anzuecken begann, entschied ich mich zu gehen, um unser aller Erinnerung schön und rein zu halten. Ich dankte der Familie für ihre Großzügigkeit, Gastfreundschaft und allem, was sie für Êlhuan und mich getan hatten und auch sie waren sehr traurig über unseren Abschied. Sie verstanden es damals nicht ganz, aber hätte ich etwas länger gewartet, wäre unser Abschied womöglich anders verlaufen. Vielleicht sind sie sich dessen mit der Zeit bewusst geworden und verstehen es nun. Ich kann es nicht sagen, denn wir sahen sie niemals wieder.
Êlhuan und ich zogen nun noch viele Jahre, langsamer und entspannter als zuvor, durch die Täler und über die Berge der Nordhöhen. Tief unten im Tal sah ich einmal noch die Ochsenherde, bei der ich so viele Winter verbracht hatte, doch wagte ich es nicht, zu ihnen zu gehen.
Und wie die Jahre vergingen, so wurde auch Êlhuan alt. Sie hatte länger gelebt als jeder andere Wolf zuvor und trotz ihres fehlenden Vorderlaufes war mir nie ein fröhlicheres Tier wie sie begegnet. In ihren letzten Jahren gingen wir keine neuen Wege mehr, sondern suchten alte Lieblingsplätze auf. Orte, die wir einst noch mit Tinwe bereist hatten. Die Winter waren härter für uns und im stillen begann ich zu spüren, dass auch meine Zeit in Mittelerde sich dem Ende neigte. Eine Stimme in meinem Geist sprach vom Westen. Meine Kräfte hatten mich schon fast vollends verlassen, ich nutzte einen Stab, auf den ich mich stützen konnte. Mein Schwert hatte ich vor langer Zeit in einen tiefen See geworfen und versenkt.
So war es Winter, als ich eines Morgens in unserer kleinen Höhle aufwachte und Êlhuan neben mir weiterschlief. Ihre Lefzen waren leicht nach oben gezogen, sodass es den Anschein hatte, als würde sie in Friede lächeln. Sie hatte sich lang an meiner Seite ausgestreckt und ihren Kopf an den meinen geschmiegt. Ihr Körper spendete keine Wärme mehr, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, ihren großen Körper an einen unserer Lieblingsplätze zutragen, ein kleines Felsplateau nahe des Gipfels in der Seite der Bergwand. Dort hatte der Fels in seiner Wand einen kleinen Teller geschaffen, der Boden war sogar erdig und im Sommer von blühendem Heidekraut bedeckt. Mit bloßen Händen grub ich ihr ein Grab und pflanzte einen kleinen Setzling darauf. Ich fand ihn am Rande des kleinen Plateaus im Schatten, dort, wo er nicht überleben würde. Auf Êlhuans Grab sollte jedoch stets die Sonne scheinen.
Den Schmerz und die Trauer über ihren Tod zu beschreiben ist mir nicht möglich. Denn er war groß und tief. Doch im Stillen begann ich zu spüren, dass diese Trennung nicht ewig war. Êlhuan war mir auf unserem Weg vorausgegangen, nicht aber fort. Vielleicht hatte sie sogar Tinwe schon gefunden.
Ich verbrachte die Nacht an dem Grab meiner treuesten Freundin, ehe ich mich auf meine letzte Reise begab. Der Winter war kalt, der Wind stark und der Weg uneben und gefährlich. Mein kaputter Leib schmerzte bei jedem Schritt und oft war mir Mandos in Gedanken sehr nah. Doch noch hatte ich ein Ziel. Ich kaufte ein altes Pferd von einem dunklen Hof und es trug mich bis hier her.
Ich habe viel gelernt und viel erfahren. Wie wertvoll das Leben ist, auch wenn man wie meine treue Êlhuan nur drei Beine hat. Wie sehr man sich in dem, was man nicht kennt, irren kann, wie den wilden Menschen, welche Schönheit es an solch rauen und kargen Orten gibt wie den Nordhöhen. Dass jeder einzelne sein eigenes Selbst hat. Und noch so vieles mehr.“

Olostamo lächelte die Elben wieder an, so traurig und doch in einem tiefen Frieden ruhend. Langsam und jeden Schritt mit Bedacht setzend, ging er hinauf auf sein Zimmer und schloss die Tür. Er trat zum Fenster und ließ sich dort auf die Knie sinken, wenn sie nicht gar unter ihm nachgaben.
„Mandos mein Freund“, sprach er leise und zu dem Lächeln auf seinem Gesicht gesellte sich eine einzelne Träne. „Ich bin nun bereit. Lange bin ich auf dieser Welt gewandelt, doch erst in den letzten Jahren habe ich den wahren Wert des Lebens gefunden. Glücklich zu sein, mit dem was man ist und wie man ist. Und auch, dass man den Tod nicht zu fürchten braucht. Ich danke dir, dass ich dieses Wissen noch an andere weitergeben durfte. Doch jetzt ist mein Weg hier zu Ende. Ich bitte dich, mich auf dieser letzten Reise zu begleiten.“
Und aus den Schleiern, welche nun aus seinem Blickfeld wichen, trat Mandos hervor und reichte ihm lächelnd die Hand. „Mein Kind, gerne helfe ich dir auf diesem letzten Stück Weg. Viele sind in meinen Hallen, die dich erwarten und die dich ebenso sehnlichst vermissen wie du sie. Komm mein Kind, jetzt nimm meine Hand. Es ist gut.“
Olostamo griff nach der Hand des Valar und diese Bewegung war das letzte Mal, dass er Schmerzen verspürte.

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