Mehrere Pferdewagen standen vor dem großen Gebäude im sechsten Festungsring. Kräftige Männer trugen schwere Möbelstücke aus dem Haus und verluden sie auf die Pferdewagen. Neugierige Bürger aus Minas Tirith hatten sich auf der Straße zusammengeschart und sahen dabei zu. Bei dem Gebäude handelte es sich um das alte Truchsessenhaus. Dort hatte die Statthalterfamilie seit vielen Jahrhunderten gelebt. Aber jetzt gab es wieder einen König in Gondor und der Truchseß war nicht mehr dazu gezwungen, in der Stadt selbst zu residieren. Faramir war schon immer ein Naturmensch gewesen, der gerne im Grünen lebte. Es gab aber auch das Gerücht, dass seine frischvermählte Gattin Éowyn das Stadtleben nicht besonders liebte, denn sie war solch große, düstere steinerne Gebäude nicht gewohnt und fühlte sich angeblich eingeengt.
Éowyn selbst half beim Umzug tatkräftig mit. Sie trug ein einfaches Kleid mit einem ledernen Überwurf. Dieses Gewand hatte sie damals bei der Reise nach Helms Klamm getragen, denn es war sehr praktisch und robust. Ihre langen, blonden Haare hatte sie an den Seiten nach hinten gesteckt. Mit hochrotem Gesicht schleppte sie gerade eine große Vase aus dem Haus, als Aragorn mit seinen Leibwächtern vorbeiritt. Die Schaulustigen, welche die Straße säumten, verneigten sich tief. Der König trug einfache, dunkle Kleidung, welche sehr an seine frühere Waldläuferkleidung erinnerte.
„Éowyn!“ rief er laut und glitt von Brégo herab.
Die junge Frau blieb stehen und stellte ächzend die Vase ab.
„Herr Aragorn“, sagte sie etwas verlegen und verneigte sich kurz.
„Ihr solltet nicht so schwer tragen“, mahnte der König leise. „Dafür gibt es Bedienstete.“
„Diese Vase ist zu wertvoll“, erwiderte Éowyn widerspenstig. „Sie ist viele hundert Jahre alt und stammt noch aus der Zeit von Truchseß Pelendur. Die kann man nicht einfach einem Diener überlassen.“
Während sich Aragorn und Éowyn leise unterhielten, steckten die Menschen auf den Straßen die Köpfe zusammen und tuschelten. Als der König das merkte, hielt er inne und drehte sich zu den Leuten um. Er wusste genau, was die Schaulustigen tratschten: sie hatten ihm und der Schildmaid von Anfang an ein Verhältnis angedichtet. Eine geschwätzige Magd aus den Häusern der Heilung war die Ursache allen Übels gewesen, denn sie hatte damals ein Gespräch zwischen Éomer und Aragorn belauscht, in welchem es um Éowyns unglückliche Liebe gegangen war.
Die Leute verstummten, als der König sie zürnend ansah.
„Geht Euerem Tagewerk nach!“ mahnte er sie. „Dies hier ist nur ein Umzug. Ihr steht den Knechten im Wege herum.“
Langsam begann sich die Menschentraube am Straßenrand aufzulösen. Viele von ihnen wirkten beschämt.
„Laßt uns ins Haus gehen“, sagte Aragorn lächelnd zu Éowyn.
Er hob die schwere Vase mit Leichtigkeit hoch und gab sie einem Knecht, der sie auf einen der Wagen verlud.
„Seid vorsichtig damit!“ mahnte er den Knecht noch.
Die Schildmaid war derweil in das Haus zurückgegangen. Sie holte einen Krug, worin sich Wasser. das mit Wein vermischt war, befand und schenkte Aragorn einen Becher davon ein.
„Ihr seid bestimmt durstig“, meinte sie etwas nervös.
Ja, sie war richtig durcheinander, denn Aragorn hatte sie bisher noch nie in diesem Haus besucht, außer zu offiziellen Anlässen. Mit zitternden Händen überreichte sie dem König den Becher. Fast hätte sie in ihrer Ungeschicktheit noch etwas verschüttet. Sie fluchte innerlich über sich selbst. Warum benahm sie sich in Aragorns Anwesenheit immer noch wie ein dummes, kleines Mädchen?
Aragorn merkte Éowyns Nervosität und er begann durch die fast leergeräumten Gemächer zu schreiten.
„Ihr könnt bald nach Ithilien losreiten“, meinte er anerkennend. „Es ist alles verstaut. Wo steckt eigentlich Faramir?“
„Er ist bereits in Emyn Arnen“, erklärte Éowyn etwas gelassener. „Er überwacht dort die Einrichtung des neuen Hauses.“
„Das ist aber eine leichte Aufgabe, die er sich da herausgesucht hat“, bemerkte Aragorn und nahm einen tiefen Schluck von dem Wasser-Wein-Gemisch. „Besser, Ihr wärt dort.“
Éowyn bemerkte den leisen Tadel an Faramir, den der König damit aussprach.
„Ich bin sicher, Faramir wird auch seine liebe Not mit den Knechten dort haben“, sagte sie kühl.
„Verzeiht, das sollte keine Kritik an Euerem Gemahl sein“, erwiderte der König rasch, der Éowyns Stimmungsumschwung bemerkte.
Ein Knecht kam jetzt ins Haus geeilt.
„Es ist gerade Besuch für Frau Éowyn eingetroffen“, meldete er aufgeregt.
Die Schildmaid ging erstaunt nach draußen, und Aragorn folgte ihr neugierig.
Vor dem Haus stand eine Gruppe Reiter. Es waren zwei Männer, drei Frauen und einige Kinder. Éowyn erkannte die Kinder sofort: es waren Freda und Éothain, welche damals die Kunde vom Angriff auf die Westfold nach Edoras gebracht hatten. Die Kinder lächelten, als sie die Fürstin erkannten. Éowyn wandte sich an Morwen, die Mutter der beiden.
„Ich freue mich, Euch wiederzusehen“, sagte sie erstaunt. „Ihr habt einen weiten Weg auf Euch genommen.“
Morwen stieg jetzt ab vom Pferd und kniete vor Éowyn nieder. Dann ergriff sie die Hand der Schildmaid und drückte inbrünstig einen Kuss darauf.
„Herrin, Ihr seid unsere letzte Hoffnung“, sagte sie verzweifelt.
Die Schildmaid zog irritiert ihre Hand zurück. Sie wusste nicht, was Morwen damit meinte.
„Ihr seid zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt gekommen“, erklärte Aragorn jetzt. „Die Fürstin von Ithilien ist gerade dabei, diese Stadt zu verlassen und ihren neuen Wohnsitz in den Emyn Arnen einzunehmen.“
Morwen blickte ihn verwirrt an. Anscheinend konnte sie mit Begriffen wie „Ithilien“ und „Emyn Arnen“ wenig anfangen.
„Wir sind hier fast fertig“, meinte Éowyn nun mit einem verzerrten Lächeln. „Reist mit nach Emyn Arnen und seid Gäste in meinem neuen Zuhause.“
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Morwen zögernd. „Ich weiß nicht, wie weit dieses Emyn...Arnan, oder wie das heißt, entfernt liegt. Wir wollten in erster Linie zu Euch, Herrin.“
Die Schildmaid war nun neugierig geworden und fragte sich im Stillen, was in Rohan los war.