Arda Fanfiction

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Wenn der Schnee schmilzt

von Feael Silmarien

Den Schnee schätzen

Hassversuch.


Fílis Schlafgemach war voll mit Dingen, die ihm sein Onkel geschenkt hatte. Sein verehrter, verfluchter Onkel. Hochmütig und vorwurfsvoll blickten die königlichen Geschenke ihn an, die glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit, als er noch ganz ungeniert auf Thorins Schoß herumgeklettert war. Dafür, dass die Erziehung in der Linie Durins normalerweise sehr streng ausfiel, war Thorin ein außergewöhnlich liebevoller Onkel, auch wenn man es ihm gar nicht zutraute, wenn man nicht zufällig seine Schwester oder einer seiner heißgeliebten Neffen war.

"Als wir Kinder waren, hat Thorin niemals mit Frerin oder mir gespielt", hatte Dís, Fílis Mutter, sich einmal erinnert. "Er war immer so stolz, wollte immer erwachsen wirken und hatte keine Zeit für uns jüngere Geschwister. Er war noch so jung, und doch genau wie Vater: eine entfernte, fremde Gestalt, die wir verehrten, und es erfüllte uns mit Stolz, wenn er uns nur die wenigste Beachtung schenkte. Damals war noch vieles anders ... Unseren Vater bekamen wir kaum zu Gesicht, unsere Mutter manchmal. Und Thorin war eben der Erbe. Viel zu wichtig, um sich mit uns Nachgeborenen zu beschäftigen."

"So ist Onkel Thorin aber gar nicht!", hatte der damals noch sehr kleine Kíli beinahe beleidigt gerufen, das kleine bronzene Pony, das Thorin für ihn angefertigt hatte, an sich gedrückt.

Dís hatte geseufzt. "Ja, er ist jetzt ganz anders, wenn auch nur euch gegenüber. Er veränderte sich erst hier in den Ered Luin. Ich weiß noch, wie er dich, Fíli, kurz nach deiner Geburt in die Arme genommen hatte und in Tränen ausgebrochen war."

Fíli hatte große Augen gemacht: "Aber Onkel Thorin weint nicht!"

"Damals tat er es. Und wisst ihr, warum?"

"Warum?"

"Er hat stets versucht, der stolze Erbe zu sein. Doch dann verloren wir Großvater, dann Vater. Unsere Mutter wurde krank vor Leid und starb. Es waren sehr schwere Jahre damals, nach dem Fall des Erebor. Euer Onkel erlitt viele Verluste. Er verlor auch seinen Bruder, von dem er nie gedacht hatte, dass er ihn verlieren könnte. Er hatte ihn nie geschätzt. Bis Frerin einmal nicht mehr da war. Bis Thorin die Liebe spürte, die er nie gezeigt, nie ausgelebt hatte."

Große, aufmerksame Augen seitens der beiden Söhne.

"Schätzt, was ihr habt. Denn wenn ihr es verliert und bereut, wird es zu spät sein."

"Werden wir machen, Mama!"

"Dann zieht euch eure Mützen an, wenn ihr nachher zum See geht. Auch die Gesundheit will geschätzt werden! Fíli, du denkst daran und passt auf, dass dein Bruder seine Mütze nicht vergisst, ja?"

Mit Geschichten über Thorin hatte Dís ihre Söhne von allem überzeugen und zu allem überreden können, und das obwohl die Geschichten für die Kinder damals zu kompliziert gewesen waren. Erst Jahre später hatte Fíli angefangen, sie zu verstehen. Und erst jetzt, am letzten Tag, begriff er sie wirklich, als ihm so kurz vor dem Aufbruch bewusst wurde, warum alle ihm unaufhörlich viel Glück wünschten, warum seine Mutter so viel weinte, dass die zunächst sehr abenteuerlich anmutende Reise zum Erebor sehr lang und gefährlich war und er sie vielleicht nicht überleben würde. Dass es vielleicht der letzte Tag war, an dem er die Ered Luin, seine Mutter und all die anderen sah. Dass er Kadlin vielleicht nie wiedersehen würde.

Plötzlich kam ihm dieses Gemach, in dem er sein ganzes Leben lang geschlafen, gespielt, studiert, gearbeitet und geträumt hatte, so warm und lieb vor wie die Umarmung seiner Mutter in den fernen Tagen seiner Kindheit, wenn er sich wieder das Knie aufgeschlagen hatte. Mit einem Mal sah er all die Erinnerungen, sah in jedem Gegenstand sein Spiegelbild. Und neben seinem Spiegelbild die Gestalt Kadlins, wie sie zusammen auf dem Boden saßen und mit kleinen Steinen spielten, wie sie Schmuck und Helme für ihre kleinen Zwergenfiguren bastelten, wie sie sich im Bett aneinander kuschelten und sich Abenteuergeschichten über Mithril und Diamanten erzählten, wie sie über ihre Hauslehrer lästerten, wie sie sich ihre Geheimnisse anvertrauten, wie sie ihm von Thorin vorschwärmte.

Fílis Blick fiel auf den Streithammer, den Thorin ihm zur Volljährigkeit geschenkt hatte. Seufzend legte er sich die Hände an die Stirn und vergrub die Finger in den Haaren. Das war einfach zu absurd. So sehr er es auch wollte - er konnte seinen Onkel nicht hassen.



Inzest.


Sein Ausdruck musste wohl ziemlich finster sein; zumindest schloss Fíli das aus den besorgten Blicken, die alle ihm zuwarfen, und Astas Frage, ob alles in Ordnung sei.

"Der Junge wird seine große Liebe lange nicht wiedersehen", antwortete die Köchin. "Da kannst du nicht erwarten, dass er vor Freude strahlt, wenn er sich verabschieden geht."

"Aber es ist doch eher unüblich, einer Frau mit einem so käsigen Gesicht seine Liebe zu gestehen!", erwiderte Asta, das altehrwürdige Kindermädchen, das nicht nur Fíli und seinen Bruder aufgezogen hatte, sondern die gesamte Linie Durins seit Thráin II.

Fíli beeilte sich, die Küche - und überhaupt den Wohnflügel der königlichen Familie - zu verlassen. Grummelnd knabberte er an dem Brötchen, das er der Schale auf dem Küchentisch entwendet hatte, während er durch die unterirdischen Gassen schritt. Für wirklich jeden Zwerg in Thorins Hallen, egal ob Mann oder Frau, jung oder alt, stand fest, dass er und Kadlin ein Paar wären, und das schon so lange wie er zurückdenken konnte. Dís und Yrse, Kadlins Mutter, waren enge Freundinnen, und ein sonderbarer Zufall hatte es so gewollt, dass sie ihre Kinder am selben Tag zur Welt gebracht hatten. Fíli und Kadlin waren den größten Teil ihrer Kindheit über zusammen gewesen, hatten zusammen das Krabbeln und später das Laufen gelernt, das Sprechen und das Lesen, und ihre Mütter hatten schon damals ihr liebstes Gesprächsthema gefunden, nämlich die Frage, wie ihre gemeinsamen Enkel heißen sollten.

Aber selbst wenn man die Sache mit Thorin wegließ, war das alles doch eine ziemlich heikle Sache. Fíli erinnerte sich noch, wie schwierig es gewesen war, Kadlin den Schnuller abzugewöhnen, wie sie immerzu einen gefordert hatte, wie sie zusammen gebadet und aufs Töpfchen gebracht wurden. Auch später hatten Fíli und Kadlin sämtliche Höhen und Tiefen im Leben des jeweils anderen miterlebt. Fíli kannte sämtliche Ängste Kadlins, wusste, wie sehr sie ihre Base um deren Puppe beneidet hatte, wie sie später in ihre Kissen weinte, weil sie ihren Bart zu dünn fand, und er wusste noch heute immer genau, wann sie ihre Blutungen hatte. Gleichzeitig war es ihm nur zu bewusst, dass Kadlin ihn nicht weniger gut kannte. Wäre eine Verbindung mit ihr da nicht schon irgendwie ... inzestuös?

Fíli gefiel diese Ausrede mit dem Inzest. Das klang viel ... verantwortungsvoller und erwachsener als Furcht.

"Das verstehst du nicht", pflegte er seinen Bruder anzufauchen, wenn Kíli sich mal wieder einen Spaß daraus machte, das Thema Kadlin mit "Warum heiratest du sie nicht einfach?" zu kommentieren, wohl wissend, dass es Fílis wunder Punkt war.

"Traust du dich nicht, es ihr zu sagen?", stichelte Kíli erbarmungslos.

"Nein, ich schätze einfach nur, was ich habe." Fíli gab sich größte Mühe, sich wieder zu beruhigen und ganz selbstbewusst und beherrscht zu klingen, wie es sich für ihn als Vorbild für diesen frechen Bengel gehörte.

"Pffft! Und was ist es?"

Fíli bedachte seinen kleinen Bruder mit einem frostigen Blick von oben nach unten und sprach majestätisch und feierlich, sorgfältig dem Vorbild Thorins folgend: "Freundschaft."

Kíli verdrehte nur die Augen: "Ich sehe schon, es ist hoffnungslos."

Und gewissermaßen hatte er recht, fand Fíli. Man verliebte sich nicht in seine besten Freundinnen. Man verliebte sich nicht in jene, mit denen man zusammen aufgewachsen war. Man verliebte sich nicht in jene, mit denen man so viele schöne Jahre verbracht hatte. Denn Freundschaft - all die Jahre, der treue Zusammenhalt, das Vertrauen - starben mit der Liebe. Sie starben, wenn er für sie nicht mehr war als ein Bruder. Sie starben, wenn seine Gefühle an ihrer Liebe zu Thorin zerbrachen.



Schnitzel.


Kodran, Sohn des Kar, war der älteste Bruder von Kadlin und in Abwesenheit seines Vaters der Herr im Haus. Er wurde nie müde, seiner Mutter beizupflichten, wenn sie mal wieder erwähnte, wie gut Fílis blonde Haare zur traditionellen Goldhaarigkeit der Linie Kolls, der Kar und seine Kinder angehörten, passte. Als wahrer Kenner der Stammbäume sämtlicher Adelsfamilien beharrte er außerdem auf der Ansicht, dass Fílis Blond und das der Koll-Dynastie sogar den gleichen Ursprung hätten. Immerhin waren die Koll-Erben ein Seitenzweig der Linie Durins, und Kadlin war tatsächlich Fílis Base fünften Grades.

Während Kar die Minenarbeiten koordinierte, kümmerte sich Kodran, ein aufstrebender Hauptmann der Wache, um das Wohlergehen seiner jüngeren Geschwister, und eins seiner Ziele war es, seine einzige Schwester unter die Haube zu bringen. Natürlich konnte er sie zu nichts zwingen, aber wenn Kadlin Fíli, den Thronerben, heiratete, würde dies auch den anderen Geschwistern neue Möglichkeiten eröffnen. Dieser Sachverhalt reichte ihm an sich vollkommen, um Fíli zu mögen, aber der Königsneffe hatte durchaus das Gefühl, dass Kodran ihn auch jenseits allen Vorteilsdenkens gut leiden konnte. Immerhin kannte er Fíli schon seit dessen Geburt und hatte so manches Mal die Verantwortung für ihn tragen müssen.

Es war daher nicht verwunderlich, dass er Fíli mit einem nahezu brüderlichen Lächeln begrüßte, als der Jüngere die Hallen Kolls betrat.

"Du willst dich von Kadlin verabschieden, schätze ich?", fragte er und legte dem Schwager seiner Träume die Hand auf die Schulter.

"Ja, wir wollten zum See", sagte Fíli etwas heiser.

"Sonderlich vorfreudig wirkst du allerdings nicht. Gedenkst du ernsthaft, mit diesem sauren Gesicht meiner Schwester gegenüberzutreten?"

"Es muss so viel vorbereitet werden!", seufzte Fíli und zwang sich zu einem Lächeln. "Aber ich rechne damit, dass Kadlins Gesellschaft mich aufheitern wird. Wo ist sie eigentlich? Wir wollten aufbrechen, sobald ich da bin."

"Ach, du kennst doch die Frauen!", lachte Kodran zur Antwort. "Sie kann sich schon seit einer geschlagenen halben Stunde nicht entscheiden, was sie anziehen soll. Auf der einen Seite will sie etwas Blaues, weil das angeblich König Thorins Lieblingsfarbe ist und sie deswegen meint, nur noch Blau tragen zu müssen; aber auf der anderen Seite ist diese Farbe viel zu kostbar, um durch Tauschnee zu stapfen. Ein unlösbares Dilemma, wie du siehst, und ohne deine Hilfe wird sie wohl nicht auskommen. Also geh ruhig und bring ein wenig Vernunft in ihren Kopf."

Doch Fíli hatte die letzten Worte nicht wirklich gehört, sondern starrte nur vor sich hin. "Nur, weil das seine Lieblingsfarbe sein soll ...", grummelte er und biss sich auf die Lippe.

Es war nicht zu übersehen, dass dieser Kommentar Kodran amüsierte. Er lachte wieder und klopfte Fíli auf die Schulter.

"Eigentlich bist du da aber der Schuldige", meinte er. "Heirate sie endlich, dann ist sie diese Flausen los!"

Er dachte hoffentlich, dass Fíli das Farbendilemma meinte; zumindest wäre das dem Königsneffen recht gewesen. Nicht jeder brauchte zu wissen, welche Gefühle Kadlins Schwärmereien in ihm auslösten. Bevor also Kodran einen tieferen Sinn in seinem Gegrummel ausmachen konnte, beeilte sich Fíli, dem großbrüderlichen Ratschlag zu folgen, und begab sich zu Kadlins Gemächern.

Es war fast schon ironisch, dass in dieser zwergischen Gesellschaft, in der die Frauen gehütet wurden wie Augäpfel, niemand auf den Gedanken kam, dass es moralisch gesehen ziemlich anstößig war, wenn ein junger Mann einfach so in die Privatgemächer einer jungen Frau spazierte, ohne dass die beiden verheiratet wären. Das heißt: Bei jedem anderen jungen Mann und bei jeder anderen jungen Frau wäre sicherlich schon längst die ganze Stadt auf den Barrikaden gewesen - nur nicht bei Fíli und Kadlin. Im Gegenteil, dass die beiden sich gerne mal für Stunden zusammen einschlossen, schien in der öffentlichen Wahrnehmung das Natürlichste der Welt zu sein. Was nur ein weiteres Mal schmerzlich bestätigte, dass Fíli und Kadlin schon seit ihrer Geburt als Ehepaar galten.

Niemand schien die Wahrheit zu sehen. Fíli war ihr ganz allein ausgeliefert und musste zähneknirschend ertragen, wie der Rest der Welt vor seiner Nase mit einem Schnitzel wedelte, den er nicht haben konnte. Es war eine regelrechte Verschwörung gegen ihn ... Für die meisten seiner Freunde existierte er nur in Kombination mit Kadlin, Tante Skur, die Schwester seines Vaters, begrüßte ihn offenbar aus Prinzip nur noch mit den Worten: "Was? Ihr seid immer noch nicht verheiratet?", und selbst Thorin, der von solchen "weibischen" Angelegenheiten für gewöhnlich nichts wissen wollte, hatte einmal mit bemühter Beiläufigkeit angemerkt, dass Fíli ja sehr viel Zeit mit Kadlin verbrächte und dass sie aus einer sehr guten Familie stammte.

Aber Kadlin verehrte nun mal Thorin und nicht Fíli, und außerdem verliebte man sich nicht in jemanden, dem man jahrelang beim Aufs-Töpfchen-Gehen zugesehen hatte.

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