Seine Hände waren wesentlich rauer als die eines Elben, obwohl sie für einen Zwerg ausgesprochen weich und glatt sein mussten. Aber sie waren schwach; es handelte sich eher um einen Unwillen seiner Finger als um freiwilliges Loslassen des Bogens.
Tauriels Herz konnte nicht anders, als sich zusammenzukrampfen beim Anblick dieser zerkratzten, bleichen, verängstigten und offensichtlich ausgehungerten Truppe, mit Ästen und Spinnweben in den Haaren und Bärten, kaum in der Lage aufrecht zu stehen. Sie mochten haarige, stinkende Zwerge sein, aber wann immer die Dunkelheit über Mittelerde hereingebrochen war, hatte ihr Volk immer auf der richtigen Seite gestanden. Sie waren arrogant, hässlich und unausstehlich, aber im Grunde ein gutes Volk. Das wusste jeder Elb, und Elben neigten durchaus zu Mitleid, wenn es nicht gerade um Orks, Warge oder Trolle ging.
In den Gesichtern der anderen Wachen sah sie dieselben Gedanken, dieselbe Erschütterung über den jämmerlichen Zustand der Zwerge, die sogar glücklich zu sein schienen, in Gefangenschaft zu geraten. Doch Tauriel und ihre Untergebenen gaben alles, um eine steinerne Miene zu bewahren. Es war nicht Sinn der Sache, dass die Zwerge sich bei ihnen allzu wohl fühlten.
Gierig fiel Kíli über das Brot und die Eier her. Nach einer gefühlten Ewigkeit voller Hunger, Angst und Spinnen konnte er sich nichts Schöneres vorstellen als diese Zelle mit weichem Stroh und ausreichend Essen und Wasser.
"Sieh zu, dass du dich nicht verschluckst, Zwerg", grummelte die Anführerin der Wache, und kleine Fältchen kräuselten sich um ihre Nasenflügel, als würde ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase steigen.
Kíli verpasste ihr einen müden, aber dennoch drohenden Blick.
"Kümmere dich um deine eigenen Probleme, spitzohriges Mannsweib!"
Die Wächterin schien von seiner Antwort nicht gerade begeistert zu sein. Mit großen Schritten durchquerte sie die Zelle, beugte sich über ihn und packte ihn sehr unsanft an den Haaren: "Hast du vergessen, was der König gesagt hat, du halbe Portion? Lerne gefälligst Manieren! Oder sollen wir dir vielleicht doch die Mahlzeiten kürzen?"
Kíli schwieg. Elben! Diese Wächterin! Er hasste es, nichts erwidern zu können. Diese große Elbin, die über ihm aufragte, und es fast zu genießen schien, ihm seine Machtlosigkeit vors Gesicht zu halten. Verdammte spitzohrige Brut!
Nein, Zwerge waren ganz bestimmt kein gutes Volk! Eine Reihe von Kriegen trennte das Volk Elbereths vom Volk Belegols. Es gab genug Gründe, die Zwerge zu verabscheuen. Man hätte sie töten können, aber nein, man hatte sie verschont, man hatte ihnen zu essen und zu trinken gegeben, man behandelte sie so gut, wie man es sich mit Gefangenen überhaupt erlauben konnte, und sie warfen einem unschöne Wörter an den Kopf!
Als Haupt der Wache war Tauriel ja einiges gewohnt, aber nachdem sie von jedem der bisher sieben Zwerge, die sie zusammen mit den Gefängniswärtern anlässlich des Mittagessens aufgesucht hatte, beleidigt wurde, hatte sie allmählich sehr, sehr schlechte Laune. Kein Wunder also, dass sie beim letzten, dem mit den Stoppeln statt richtigem Bart, die Beherrschung verloren hatte. O diese verdammten, widerlichen, ungezogenen, eingebildeten, dummen, undankbaren Wichte!
Die Fackel knisterte hinter seinem Rücken. Kíli hatte sich mit dem Gesicht zur Wand gedreht und musste jetzt, gesättigt und nach einigen Stunden Schlaf, an die anderen denken. Waren sie hier in der Nähe? Konnte er vielleicht durch die Wand irgendwie Kontakt aufnehmen? War der Hobbit entkommen?
Und Thorin! Wo war Thorin?
Ein kalter Schauer lief Kíli über den Rücken, als er an seinen im Wald verschollenen Onkel dachte. Lebte er überhaupt noch? Hatten die Spinnen ihn aufgefressen? Kämpfte er gerade gegen irgendwelche Bestien? Kíli konnte sich kaum an seinen Vater erinnern. Dieser war bei einem Mineneinsturz ums Leben gekommen, als Fíli und er noch ganz klein waren. Schon bald hatten die Brüder ihren Onkel als Vaterersatz auserkoren und waren ihm überallhin gefolgt, um ihn bei seiner Arbeit zu stören.
Kíli biss die Zähne zusammen, um nicht loszuweinen, und setzte sich auf. Wer weiß, vielleicht war Fíli in der Nähe, in einer Nachbarzelle, vielleicht konnte er gegen die Wände klopfen, vielleicht würde man es auf der anderen Seite hören, vielleicht würde er seinen Bruder finden.
Die Wände waren aus massivem Gestein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwelche Geräusche durchließen, war weniger als ein Nichts. Aber es würde Kíli ja nicht umbringen, wenn er es trotzdem versuchte. Er hatte eh nichts Besseres zu tun. Also klopfte er sich die Wand entlang, presste sein Ohr dagegen, klopfte stärker, hämmerte, rief Fílis Namen, rief nach den anderen Zwergen, rüttelte schließlich schreiend an der Tür. Doch keine Antwort kam.
Entkräftet sank er zu Boden. Er hatte es gewusst. Er hatte gewusst, dass es aussichtslos war. Er war ein Zwerg und konnte Mauern sehr genau einschätzen. Und dennoch. Die Enttäuschung dieser wahnsinnigen, dummen, noch so kleinen Hoffnung schmerzte: Er war allein.
Drei Tage, neununddreißig Beleidigungen! Jeder - aber auch wirklich jeder - verdammte Zwerg hielt es für unabdingbar, ihr jedes Mal, wenn sie seine Zelle betrat, Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Allmählich kam sie an ihre Grenzen. Sie dachte schlecht von ihrem König, und das hieß einiges!
Warum konnte Thranduil sie nicht einfach Kriegerin sein lassen? Sie führte die Wache des Düsterwaldes an, nicht die der Verließe! Warum zwang Thranduil sie zu diesem elenden Gefängniswärterdasein, für das sie eindeutig nicht geschaffen war? Sie war normalerweise keine Frau, die Ausdrücke wie "Kahlhaut", "Glatzenfratze" und "Salatfresser" auf sich sitzen ließ, aber wenn sie einen Hauch von Würde bewahren und ihre Gefangenen nicht misshandeln wollte, dann musste sie alle diese Dinge schlucken. Thranduil war ein abscheulicher Unelb, dass er ihr so etwas antat!
"Mein König, warum muss denn ausgerechnet ich das machen?", schrie sie und kämpfte, um vor lauter Ärger nicht loszuweinen.
"Weil du meine rechte Hand bist, Tauriel", erwiderte Thranduil kalt. "Ich habe es dir doch schon einmal erklärt: Sollte einer von ihnen anfangen zu reden, sollte jemand von ihnen erzählen wollen, was sie in meinem Wald zu suchen hatten, dann will ich, dass es meine rechte Hand ist, die es als Erste erfährt, wenn schon nicht ich selbst. Wer weiß, was für Geheimnisse sie haben! Wir können dem Geschlecht Durins nicht mehr trauen."
Tauriels Lippen zitterten, als sie verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort suchte. Sie brodelte. Sie konnte nicht mehr. Diese verfluchten Zwerge! Sie brodelte, wie sie noch nie gebrodelt hatte. Sich Tag für Tag dreizehnmal beschimpfen zu lassen war für eine stolze Kriegerin wie sie die reinste Folter.
"Betrachte es als Zeichen meines Vertrauens, Tauriel", ergänzte der König seine Rede und gab seiner "rechten Hand" damit den Rest. Diese Worte klangen wie Hohn in ihren Ohren. Ohne etwas zu sagen stürmte sie aus dem Thronsaal, um in ihrer Kammer der Wut freien Lauf lassen zu können.
Federn flogen umher, als sie wieder und wieder auf ihr Kopfkissen einschlug, und schließlich zerbrach sie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war einfach nur demütigend! Sie war eine Kriegerin, eine Anführerin, aber das bedeutete doch nicht, dass sie keine Gefühle hatte!
Gefühle ...
Tauriel hielt plötzlich inne. Die Zwerge mochten noch so rüpelhaft sein, aber sie waren doch auch Wesen mit Gefühlen. Sie könnten verstehen, nachvollziehen. Vielleicht ... Vielleicht war es möglich, sich noch ein ganz klein wenig zusammenzureißen, um mit ihnen zu reden. Um mit ihnen Frieden zu schließen, zumindest so weit dies überhaupt irgendwie möglich war. Sie mussten sich ihr ja nicht gleich freudig an den Hals werfen, wenn sie ihre Zelle betrat - das wäre ja sogar ein wenig zu viel des Guten. Aber vielleicht konnte sie sich mit ihnen wenigstens auf einen freundlicheren Umgangston einigen, wenn sie ihnen klar machte, dass die ganze Situation ihr ebenso unangenehm war wie ihnen.
- Im Laufe dieser FF tauchen immer wieder die Namen zweier Valar auf: Aule und Varda. Aule unter den Namen Mahal (sein Name bei den Zwergen) und Belegol (sein Name auf Sindarin); Varda unter ihrem Sindarin-Namen Elbereth Gilthoniel.
- Es mag euch aufgefallen sein, dass ich zwar nicht gerade den modernsten Slang verwende, aber auch nicht versuche, den Stil von Tolkien nachzuahmen. Was den Schreibstil für Tolkien-Fanfictions angeht, so halte ich das nämlich für eine sehr philosophische Frage, und mein persönliches Verständnis des Canons erlaubt (und fordert teilweise) eine etwas modernere Sprache.
- Da ich als Autorin nur schlecht beurteilen kann, ob diese FF die Ziele Glaubwürdigkeit und Canontreue erfüllt, bin ich sehr auf eure Meinung angewiesen. Über Reviews würde ich mich daher sehr freuen!