Arda Fanfiction

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Geradewegs ins Verderben

von Heru n’ nertë

Kapitel 1

"Nein! Nein! Tut uns nicht weh! Nicht mehr! Nein ..."
Klagend und herzerweichend drangen diese Worte aus der Dunkelheit eines modrigen Verlieses irgendwo in den Tiefen eines gewaltigen Turmes. Das Wesen, welches sie wimmerte, hockte auf dem kalten, glitschigen Boden und sein dürrer Oberkörper schaukelte hin und her wie ein dünnes Schilfrohr im Wind. Das Geschöpf schluchzte und murmelte und dann begann es auf seinen zerschundenen Fingerknöcheln zu kauen – immer heftiger und immer wütender, bis Blut hervortrat, durch das zerbrechliche Knochen schimmerten.

"Nein! Nicht mehr ... Lasst uns in Ruhe!"
Mit einem schrillen Aufheulen biss sich die Kreatur in den Arm, riss mit scharfen Zähnen ein Stück bleiches Fleisch heraus und spie es auf den Boden. Sofort raschelte es in einer Ecke und ein großer und unförmiger Schatten huschte hervor, packte den Fleischklumpen und verschwand ebenso schnell wieder im Dämmerlicht des Kerkers. Es gab ein unheimliches Gekreische und Gequietsche, sogar kehliges Knurren war zu vernehmen, als sich die großen Ratten, die in den Verliesen des Turmes hausten, um den unerwarteten, jedoch sehr willkommenen Leckerbissen zu streiten begannen. Aber die Unruhe dauerte nicht lange an und dann war das leise Schmatzen vieler Mäuler zu vernehmen, die sich am Fleische eines Unglücklichen und Verlorenen labten.

"Sollen sie es doch essen. Sollen sie uns essen! Dann sind wir frei!" murrte das elende Bündel auf dem modrigen Boden und kauerte sich zusammen, die dürren Arme schützend um einen ebenso dürren Leib geschlungen, der nun mit Blut besudelt wurde.
Es kümmerte das Wesen nicht. So viele Male schon war Blut über seinen armseligen Körper geflossen, aus ungezählten Wunden; manche tief und schmerzhaft über das Maß hinaus, manche nur feine Schnitte, aber mit Messern zugefügt, die rostig und schmutzig waren, so dass die Wunden zu eitern begannen, und jede für sich Leid bedeutete, für Tage oder gar Wochen ...

Das Geschöpf glitt langsam in einen unruhigen Schlaf hinüber. Es wünschte sich nichts sehnlicher als einen schönen Traum, in dem es wieder Zuhause war, in seiner vertrauten Umgebung, ohne Angst und Qualen, allein und frei.
Frei! Wie süß dieses Wort klang, und wie bitter es war, zu wissen, dass es keine Freiheit mehr gab. Die schmalen Schultern der Kreatur erbebten und leise begann sie zu weinen – ein seltsamer Laut, denn es war lange her, dass Tränen das hässliche Gesicht des Wesens benetzt hatten. Wieder würde es keinen Traum geben, nur die schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit.
Die Gedanken der Kreatur schweiften zurück in eine gar nicht allzu ferne Vergangenheit, sie sah sich selbst in bitterer Erkenntnis in ihr Verderben eilen ...

~*~

Tiefschwarze Nacht herrschte, als sich ein Schatten gebeugt und taumelnd durch karges Land fortbewegte, das sich meilenweit auftat und niemals enden wollte. Kein Mond leuchtete und auch keine Sterne, denn seit Jahren schon verdunkelten Wolken und schwarzer Rauch den Himmel über dem Gebiet am Schattengebirge, welches auf die große Ebene von Gorgoroth hinausführte.
Nur das Leuchten des Orodruin erhellte die Nacht und warf einen Schein wie von Blut über das ganze Land Mordor.
Die Luft roch bitter und über alles hatte sich ein feiner gelber Staub gelegt, der nach Schwefel stank und der in Mund, Augen und Nase kroch, so dass jeder Atemzug schmerzte und das Sehen zur Qual wurde. Das kleine Lebewesen, denn ein solches war der gedrungene Schatten, murmelte vor sich hin – ein zufälliger Lauscher hätte Worte wie "Mein Schatzzz" vernommen –, während es lautlos über scharfe Felsen schlich, immer auf der Hut, wenn auch nicht wissend wovor.

Genausowenig wusste es den Weg. Es war schon lange unterwegs, unzählige Nächte hatte es auf Wanderschaft verbracht, wenn der Mond sein Antlitz verbarg oder in den Stunden, wenn die sanft leuchtende Scheibe hinter dem Horizont verschwunden war. Anfangs war das Wesen einer Spur gefolgt, die so deutlich war, wie eine Spur nur sein konnte. Aber dann war etwas Seltsames geschehen. Ein Hauch hatte das Herz des Geschöpfes berührt, ebenso seine Seele, und es vom Weg abkommen lassen – und eine Richtung gezeigt, in die niemand von sich aus ging, wenn er zu den freien Völkern Mittelerdes gehörte und auch nur den winzigen Rest eines eigenen Willens besaß.
Gollum jedoch hatte keinen eigenen Willen mehr. Er büßte ihn ein, als ein kleiner und unscheinbarer Ring in sein Leben trat und es fortan beherrschte, zum Mittelpunkt seines Seins wurde, zum alles Verschlingenden. Der Ring stahl Gollum den Willen und die Seele. Aber er nahm nicht nur, er gab auch ein wenig zurück.
So schenkte er Gollum ein langes Leben.
Doch was ist ein Leben wert, wenn es dem Bösen verfällt?
Und wenn das Böse seine Diener so entlohnt, wie Gollum entlohnt werden sollte, als man ihn wenig später aufgriff -ein unerwarteter Eindringling, dem man die gebührende Aufmerksamkeit zu Teil werden ließ ...

~*~

In den dunklen Stunden, die er allein in seinem Kerker saß und seine Wunden leckte, wanderten Gollums Gedanken so oft es ging nach draußen, hinaus aus dem Turm und dem verfluchten Land, in Gegenden, die er kannte und die er vermisste. Selbst den beschwerlichen Weg an die Grenzen Mordors, durch Gefahren und Unbill hindurch, würde er immer und immer wieder gehen, wenn es sein musste – denn alles war besser, als hier gefangen zu sein.
Qualen wechselten sich ab mit Dunkelheit und Ruhe, nur um beim nächsten Mal noch schlimmer zu werden. Wenn Gollum gekonnt hätte, dann hätte er seinem Leben ein schnelles Ende bereitet, damit er seinen Peinigern entging, die ihn folterten und unnütze Fragen stellten, und die lachten, wenn er um Gnade winselte.

Aber Gollum fand nicht die Kraft und den Mut den letzten Schritt zu tun, und auch wenn beides vorhanden gewesen wäre, dann gab es da etwas, das stärker war als alle Verzweiflung und Schmerzen, und solange Gollum die Gewissheit hatte, das sein Schatz für ihn nicht verloren war, würde er weiterleben und nach seinem Besitz trachten. Er musste ihn wiederhaben, denn sonst fand sein gehetztes Gemüt keinen Frieden – er brauchte seinen Schatz, wie die Luft zum Atmen.

Sein ganzes Elend rührte daher, dass er seinen Schatz nicht mehr besaß.
Und Schuld daran war Beutlin – der kleine, hinterhältige Betrüger!
Gollum spie diesen Namen selbst in Gedanken nur voller Hass aus.
Wenn er Beutlin erst gefunden hatte, dann würde Beutlin all die Qualen erleiden, die nun ihm – Gollum – angetan wurden. Und er würde Beutlin finden, eines Tages, so wie man ihn an der Grenze des Verfluchten Landes gefunden hatte ...

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