Arda Fanfiction

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Ein minderer Verrat

von Jay of Lasgalen

Liebe wird bitter

„Aber Liebe wird durch den Verrat bitter.“ A.C. Swinburne


Nimm mich.

Ein glorreiches Gefühl der Macht wogte durch Elrohir bei dem Gedanken an das, was er erreichen konnte. Mit dem Ring konnte er alles tun – er konnte jeden Ork, der jemals hervorgebracht worden war, vom Antlitz Ardas tilgen; er konnte jede Spur ihres bösen Daseins auslöschen, so dass sie anderen niemals wieder Schaden zufügen konnten. Er könnte Sauron und auch alle seine Diener für immer bezwingen. Es gab Menschen, deren Herzen ebenfalls korrumpiert waren: Ostlinge, Südländer und Menschen von Rhûn und Harad. Da waren die Korsaren und selbst die Überreste der Schwarzen Numenórer. Er könnte sie ändern, sie bekehren und sie zum Licht zurückbringen – und wenn sie sich nicht ändern wollten, dann wäre es ein Leichtes, sie dazu zu zwingen.

Und was dann?

Eine leise, dünne Stimme sprach deutlich in seinem Geist. Wirst du all jene töten, die sich dir widersetzen? Jene, die diskutieren oder dir nicht zustimmen? Was wirst du als nächstes tun? Wo wird es enden?

Seine Hand noch immer zu Frodo hin ausgestreckt erstarrte Elrohir und der Moment der Klarheit durchbrach den Nebel in seinen Gedanken. Was tat er da?? Er zögerte und kämpfte gegen den verzweifelten Impuls, den Ring vom Hals des Hobbits zu reißen und ihn über die Klippe zu stoßen. Seine Hand ballte sich zur Faust und er erschauerte, angewidert und entsetzt von seinen mörderischen Gedanken.

Langsam fiel sein Arm herab und mit einem Aufkeuchen barg er seinen Kopf in den Händen. „Nein“, stöhnte er leise.

Frodo, offenbar ahnungslos, war ein Stückchen vorausgegangen und Elrohir hörte, wie er sich umwandte und rasch an seine Seite zurückkehrte. „Elrohir? Geht es Euch gut?“, fragte er und seine Stimme war voller Besorgnis. Die wirbelnden Bilder tanzten erneut durch Elrohirs Geist, als er um Kontrolle kämpfte: Aragorn, siegreich; Arwen, schön und unsterblich an seiner Seite. Als er der tödlichen Versuchung widerstand, änderten sich die Szenen langsam und er erkannte die Wahrheit – Elladan, Elrond, Aragorn, selbst Arwen – alle von seiner Hand getötet; Imladris in Ruinen; das Massenabschlachten jener, die ihm nicht folgen wollten.

Nimm mich! Die Stimme kam zurück in einem letzten verzweifelten Versuch, ihn zum Handeln zu verleiten. Doch jetzt wusste er, dass es ein Handeln war, das zu Mord und Wahnsinn und der Zerstörung all dessen führen würde, was er liebte und woran er glaubte. Nein, dachte er schlicht. Ich werde es nicht tun.

Er hob den Kopf und schüttelte ihn leicht, um den Nebel zu vertreiben, den das böse Flüstern des Rings zurückgelassen hatte. Frodo stand an seiner Seite und starrte ihn beunruhigt an, eine Hand auf seinen Arm gelegt. „Elrohir?“, fragte er wieder. „Ihr zittert. Was ist los? Möchtet Ihr, dass ich jemanden suche und um Hilfe bitte?“ Der Hobbit hatte eindeutig Angst; er war kurz davor, davon zu laufen – ob um zu fliehen oder um Hilfe zu suchen konnte Elrohir nicht sagen – aber seine natürliche Freundlichkeit siegte über seine Angst.

Elrohir empfand ein erneutes Aufwallen von Schuld – er verdiente diese Freundlichkeit nicht –, atmete tief durch und schüttelte den Kopf. „Vergebt mir, Frodo“, sagte er sanft. „Ich danke Euch für Eure Besorgnis. Ich habe mich für einen Moment etwas – unwohl gefühlt. Aber es ist vorbei. Macht Euch keine Gedanken, es ist nichts.“ Die Lüge schmeckte bitter auf seiner Zunge, doch er wusste, dass er die Wahrheit, zumindest für den Moment, verbergen musste.

Er bemerkte, dass seine Hand erneut nach Frodo langte und diesmal unternahm er nichts, um sie zurückzuhalten. Er berührte den Hobbit sanft an der Schulter und lächelte. „Ihr solltet gehen – es ist spät und es wird dunkel unter den Bäumen werden. Eilt Euch – und verweilt nirgends.“

Als er noch sprach, hörte er eine entfernte Stimme vom Pfad unter ihnen rufen. „Herr Frodo? Herr? Bist du noch dort oben?“

Elrohir wandte sich dankbar der Stimme zu. „Hört Ihr das? Es ist Sam, der nach Euch sucht. Ich denke, er ist gekommen, um Euch zu sagen, dass es annähernd Zeit für das Abendessen ist.“

Frodo blinzelte ihn unsicher an, als ob er aus einer Trance erwachte. „Sam?“ Er legte den Kopf schief, lauschte und lächelte dann. „Sam! Hier oben!“, rief er. Sie konnten Sam schnaufend und keuchend den Berg heraufkommen hören, lange bevor sie ihn sehen konnten, aber schon bald tauchte er aus den Schatten auf.

„Also so was!“, japste er. „Was machst du soweit hier oben, Frodo? Du solltest nicht einfach so davon wandern! Nicht einmal, wenn du Gesellschaft hast“, fügte er hinzu, als er Elrohir entdeckte.

„Das ist schon in Ordnung, Sam“, versicherte Frodo ihm. „Dies hier ist Elrohir, Elronds Sohn. Er würde nicht zulassen, dass mir etwas geschieht.“

Sam nickte ihm zu. „Danke, dass Ihr auf meinen Herrn Acht gegeben habt.“ Er wandte sich wieder an Frodo. „Nun, ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass es fast Zeit fürs Abendessen ist. Und da wir morgen Abend fort sein werden und ich schätze, dass wir für eine lange Zeit keine weitere vernünftige Mahlzeit bekommen, wirst du es nicht verpassen wollen!“

„Abendessen? Eine hervorragende Idee! Geh voran, Sam.“ Frodo sah über seine Schulter, noch immer besorgt. „Elrohir? Kommt Ihr mit uns?“

Elrohir schüttelte seinen Kopf. „Ich werde noch eine Weile hier bleiben. Ich sehe Euch vielleicht später.“ Erleichtert sah er den Hobbits nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwanden. Frodos Stimme trieb zu ihm zurück.

„Weißt du, Sam, ich hatte gerade ein ganz merkwürdiges Gefühl. Du würdest lachen, wenn ich dir erzählte, was ich gerade dachte. Aber dem armen Elrohir scheint es nicht gut zu gehen – vielleicht sollten wir es Elrond erzählen. Also, was gibt es zum Abendessen? Pilze?“

Allmählich verklangen ihre Stimmen und Elrohir war glücklicherweise wieder allein. Er verharrte in benommener Stille, dann ging er langsam zu dem Felsen zurück, auf dem er zuvor gesessen hatte und starrte blicklos über das dunkel gewordene Tal hinweg. Er war entsetzt über seine vorigen Gedanken und konnte die schockierenden Bilder, die er gesehen hatte, kaum glauben. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass der Ring seinen Willen an ihm versucht hatte, was ihn so aufbrachte, sondern dass er ihm, selbst nur für einen Moment, zugehört hatte.

Und er hatte mehr getan, als ihm nur zuzuhören. Er war nahe daran gewesen – sehr nahe – Mord und Diebstahl zu begehen. War er wirklich dabei gewesen, den Ring zu nehmen? Hätte er Frodo wirklich in den Tod stoßen können? Und was dann? Hätte er sich auch Vilyas bemächtigt? Wo hätte es geendet?

Die Bilder, die er gesehen hatte, zermürbten ihn. Versuchte der Ring ihn wahrhaftig mit dem, was er am meisten wünschte? Sehnte er sich wirklich nach Macht, Ruhm und Herrschaft über andere? Wollte er wirklich, dass Elladan sich vor ihm verneigte? Die Dinge, die er gesehen hatte, enthüllten einen verstörenden Teil seiner Natur, der ihn zutiefst mit Sorge erfüllte.

Die Fragen jagten durch seinen Geist, gefolgt von weiteren widerwärtigen Bildern – das Blut seines Vaters an seinen Händen; Elladan tot am anderen Ende seines Schwertes; Celebrían, die in Angst und Entsetzen vor ihm zurückwich; Arwen, weinend über Aragorns Körper gebeugt, bevor sie langsam dessen Schwert nahm und ihrem Bruder in auswegloser Herausforderung gegenüberstand. Erschauernd ließ er das Gesicht wieder in die Hände fallen und atmete tief ein.

Es war nicht geschehen!

Für seinen eigenen geistigen Frieden musste er sich an diesen Gedanken klammern. Es war nicht geschehen. Einige Reste von Vernunft und Verstand waren geblieben und hatten ihn vom Abgrund zurückgezogen. Ein weiteres Bild stieg in seinen Gedanken auf, ein Bild seiner Mutter – nicht wie sie in ihren letzten Tagen gewesen war, blass und teilnahmslos, und auch nicht, wie sie gewesen sein könnte, hätte Vilya sie geheilt. Es war ein Bild aus seinen frühesten Erinnerungen, als sie einfach nur ‚Nana’ gewesen war, als sie ihn umarmt und geküsst und seine Tränen über den Schmerz eines aufgeschürften Knies gemildert hatte. „Vergib mir“, flüsterte er sanft in die Nacht. „Vergib mir.“

Wie lange er dort saß und die Szenen, die der Ring ihm gezeigt hatte, erneut durchlebte, die Versprechungen, die er gemacht hatte, wusste er nicht zu sagen. Langsam spürte er etwas anderes nach seiner Seele rufen, doch dieser Ruf war nicht von der Dunkelheit des Sirenengesangs des Ringes gefärbt. Eine zwangsläufige Vertrautheit lag darin.

Elladan erschien zwischen den Bäumen und kam hinüber zum Rand der Klippe. „Elrohir?“, rief er leise. „Ich habe vorhin deine Anspannung bemerkt. Was ist los?“

Zunächst gab Elrohir keine Antwort und Elladan kniete neben ihm nieder. „Elrohir?“, wiederholte er leise. „Was ist los? Als du nicht zum Abendessen erschienst, kam ich, um dich zu suchen. Ich weiß, dass du beunruhigt bist – warum? Was ist passiert?“

Ohne Aufzusehen antwortete Elrohir schließlich. „Ich… ich glaube, ich habe versucht, Frodo den Ring zu nehmen.“

Elladan gab keine Antwort und Elrohir sah auf und sah seinen Zwilling ihn schockiert anstarren. „Was?“, wiederholte dieser ungläubig.

„Ich habe versucht, den Ring zu nehmen“, sagte Elrohir mit schwacher Stimme. „Zumindest habe ich es beinahe getan – es war so knapp, Elladan! Ich hätte ihn so einfach nehmen können – und Frodos Leben ebenso. Er war dort, innerhalb meiner Reichweite…“ Er erschauerte wieder.

Elladan öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn wieder und sagte schließlich rundheraus: „Aber du hast es nicht.“

Elrohir schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen und habe gemerkt, was ich tat. Aber es wäre so leicht gewesen…“, endete er trostlos.

„Und Frodo? Was ist mit ihm? Geht es ihm gut – ja, denn ich habe ihn beim Abendessen gesehen“, beantwortete Elladan seine Frage selbst. „Er erschien nicht anders als sonst. Sie haben Pilze gegessen“, fügte er überflüssigerweise hinzu. Für eine kurze Zeit herrschte Stille, während Elladan zu überlegen schien, was er sagen sollte. Er stand auf und begann entlang des Klippenrands auf und ab zu laufen. Plötzlich drehte er sich abrupt wieder um. „Elrohir, wie konntest du zulassen, dass er dich beeinflusste?“, explodierte er.

Elrohir zuckte zusammen und ließ den Kopf hängen. Er sagte nichts, es gab nichts, was er sagen konnte.

Elladan suchte wieder nach Worten. „Warum?“, fragte er schließlich.

„Warum?“, wiederholte Elrohir bitter. „Es schien so eindeutig, so offensichtlich in dem Moment.“ Zögernd begann er einige der Bilder, die der Ring ihm gezeigt hatte, zu erklären. „Er hat all die kleinlichen Rivalitäten und Eifersüchteleien unserer Kindheit gefunden – all die Momente in meinem Leben, in denen ich wünschte, ich hätte etwas anderes tun können – tun sollen.“ Er seufzte, dann sah er zu Elladan empor. „Ich muss Vater davon erzählen. Der Ring ist gefährlich – weit gefährlicher, als ich mir je vorgestellt habe, El. Natürlich weiß Vater, wie mächtig er ist, aber ich frage mich, ob selbst ihm bewusst ist, wie tödlich der Ring ist. Ich muss ihn warnen.“

Elladan sagte nichts. Schweigend gingen sie durch den steil abschüssigen Wald hinunter ins Tal. Während der ganzen Zeit war Elrohir sich seines Zwillings bewusst, der ein oder zwei Schritte hinter ihm ging und seine Augen in brennender Anklage auf seinen Rücken geheftet hielt. Elladans Zurückweisung verletzte ihn, weit mehr als er für möglich gehalten hatte. Es war schmerzlich offensichtlich, dass Elladan diesmal nicht verstand – wie konnte er auch? – und es vermittelte ihm ein verzweifeltes Gefühl von Isolation. Er konnte das Entsetzen und die Enttäuschung seines Zwillings spüren und seine Scham wuchs. Wie hatte er sich nur so leicht von der Böswilligkeit des Ringes mitreißen lassen können? Wie hatte er das Übel, das die Bilder, die er gesehen hatte, durchzog, die Falschheit, die ihnen zugrunde lag, nicht spüren können?

Als sie das Haus erreichten, verlangsamte er seinen Schritt und wünschte, er könnte den Moment, in dem er seinem Vater alles erzählen musste, hinauszögern. Er fürchtete sich vor der Enttäuschung und Ernüchterung, die er in Elronds Augen sehen würde, fürchtete sich vor dem Zorn und der Verurteilung, die angesichts seiner verräterischen Gedanken enthüllt würden. In einem Moment der Schwäche hatte er alles verloren und nur den Abscheu und die Empörung seines Vaters und seines Bruders erreicht, von den beiden in ganz Arda, deren gute Meinung ihm am meisten bedeuteten.

Er wappnete sich und hob die Hand, um an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen. Hinter sich hörte er Elladan, der die ganze Zeit still gewesen war, tief aufseufzen und fühlte wie die Hand seines Bruders unterstützend seine Schulter drückte: warm, beruhigend und ungemein stärkend. „Mut, kleiner Bruder“, murmelte Elladan. „Ich bin bei dir.“
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