Arda Fanfiction

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Lied des Windes

von julianna2luv

Anórien und Rem

Die Hügel und Wiesen von Anórien flogen in grün und gelb an ihr vorbei. Frühling. Der Monat des Neuanfanges. Coirë, wie es die Hochelben nannten. Regung. Und wie treffend dieser Ausdruck doch für sie war. Sie versuchte nicht zu weinen, ignorierte das stechende Gefühl in ihrem Herzen. 

Kehr um und sei keine Närrin, sagte ein Teil in ihr, der Teil der kalt und logisch war. Kehr um und heirate. Faramir hat dir nicht angesehen, dass du etwas anderes bist, warum sollte er es jetzt tun?

Ich kann nicht!, antwortete ihr Herz. Ich würde nicht nur ihn belügen, sondern auch mich.

Und so tust du ihm noch mehr weh! Kehr um!, beharrte die Stimme. 

Nein. Niemals!, schrie ihr Herz. 

„Nur weiter, Brego“, sagte Éowyn in das warme Fell des Pferdes, „nur weiter.“ 

*

Lachen. 

Sie kann es selbst hier hören, obwohl sie drinnen sitzt, in der Halle. Ihre Mutter lächelt sie an und sagt, dass sie sich endlich raus machen soll. Sie rennt so schnell sie ihre kurzen Beine tragen. 

Ihr Vater steht in der Sonne und sieht Éomer dabei zu, wie er mit einem der Hunde ringt und er lacht lauthals. Er ist ein großer, stämmiger Mann, mit großen Händen und einem markanten Gesicht, langen blonden Haaren, die ihm unordentlich über die breiten Schultern fallen. Ihre Mutter sagt manchmal, dass Éomer in ein paar Jahren wie er aussehen wird. 

„Prinzessin!“, ruft er, als er sie sieht und sie ist in seinen Armen, hält ihn fest und er dreht sie in der Luft. 

„Was hast du gemacht, Schönheit?“ 

„Ich habe Blumenketten geflochten!“, verkündet sie glücklich. 

Sie ist ganz stolz auf sich und bekommt von ihrem Vater einen nassen, kratzenden Kuss und sie wehrt sich lachend dagegen und sagt es würde kitzeln. Mit dem linken Arm hebt er Éomer hoch und hält sie einen Moment fest an sich gedrückt. 

„Drehen!“, rufen beide wie aus einem Mund und sie drehen sich und fliegen. 

*

Es war der dritte Tag ihrer Reise. 

Sie hatte heute Morgen den Meeringbach passiert und ritt nun weiter an den Entwassern entlang, bis sie auf die Schneeborn stoßen würde. Dort würde sie in Rem, einem solch kleinen Dorf, das es auf keiner Karte verzeichnet war, ihre Amme aufsuchen.       

Dies war ihr grandioser Plan. 

Innerlich lachte sie über sich selbst. 

Aber was konnte sie tun? Wen sonst konnte sie fragen? Théoden war tot. Ihre ... Éomers Eltern waren tot. Niemand war hier, der ihr ihre Fragen beantworten konnte. Sie wünschte sich, dass sie nicht allein wäre, dass jemand hier wäre. 

Éomer. 

Sie wünschte sich die starken Arme ihres Bruders, die sie immer gehalten hatten, wenn sie nicht mehr weiter konnte. Die sie festhielten, wenn sie Angst hatte und wärmten, wenn ihr kalt war. Éomer, der sie nie allein gelassen hatte.

Éowyn kaute an ihrem Cram, das ihr schwer im Magen lag und sah hinunter auf ihre dreckigen Stiefel. Sie saß im hohen Gras und spürte die Wärme der Erde unter ihren Fingern, doch ihre Tränen waren kalt auf ihren Wangen und selbst die Sonne und Brego, der sie immer wieder mit der Schnauze anstubste, konnten ihr ihre Trauer nicht nehmen. 

Wer bin ich?, fragte sie leise in den Wind hinein. 

Wer? 

Warum nur jetzt?

Aber der Wind beantwortet keine Fragen und so fielen die Tränen weiter, denn wer sah sie schon? Niemand. Sie war vollkommen allein auf weitem Gebiet und so bettete sie ihren Kopf auf ihren Mantel und weinte lautlos in den weichen Stoff. 

Langsam glitt sie hinüber in den Schlaf. Es war vollkommen still und sie träumte einen Traum, in dem sie auf den Hügelgräbern stand und auf die Simbelmynë hinab sah. Weiter unten bei den grauen kantigen Felsen stand eine Frau und sie versuchte zu ihr zu gelangen, aber sie konnte nicht, weil die Felsen zu scharf waren und in ihre Füße schnitten. 

Sie wachte plötzlich auf, als Brego leise wieherte. 

Sie fragte sich, ob sie jemals wieder die Éored reiten sehen würde und sie wunderte sich über sich selbst, dass sie bis jetzt noch nicht darüber nachgedacht hatte. 

Denn in Gondor gab es zwar Pferde, aber sie waren anders als die aus ihrem Land. Sie waren die grauen Gassen Minas Thirith‘ gewöhnt und die strahlenden weißen Steine, die im Sonnenaufgang leuchteten. Sie waren es gewöhnt im Stall zu stehen und sich ihre Zeit mit Heu kauen zu vertreiben. 

Während die Pferde Rohans nichts sehnlichster wünschten als zu galoppieren. Sie waren frei. So wie ihre Herren immer frei gewesen waren. 

Sie legte sich wieder hin und hüllte sich in ihren Mantel, obwohl es bereits warm war, blinzelte gegen die Sonne und ergab sich den Erinnerungen.

*

Weinen. 

Es ist entsetzlich kalt und ebenso still. Die Hallen scheinen das Schluchzen zu verschlucken und nach einiger Zeit wieder auszuspucken, lauter, wenn es bereits vergessen ist. 

Éowyn sitzt unbeweglich neben ihrer Mutter, die mit offenen blassen Augen an die Decke starrt, sie hält ihre kalte Hand in ihrer und bemerkt nicht, dass die Frauen vor dem Bett stehen und lautlos weinen. Die Decken, auf denen Théodwyn gebettet liegt, erscheinen beinahe so kalt wie ihr Körper und ihr langes blondes Haar liegt in fahlen Strähnen auf den Laken. Sie sieht aus wie ein Geist. Das Feuer flackert unruhig. 

„Éowyn.“

Eine Hand, die ihre von ihrer Mutter trennt, sie festhält. 

„Éowyn.“ 

Sie sieht in Éomers Augen und fragt sich, ob es jemals wieder so etwas wie Sonnenschein für sie geben wird, Blumenketten und Drehen. 

„Éomer.“ 

Und sie beginnt zu weinen, lässt sich in seine dünnen Jungenarme fallen und halten. Fest.   

*

Als sie wieder erwachte schmerzten ihre Augen vom Weinen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und stand auf. Das hügellose Land, das sich vor ihr erstreckte, war nun in die Nachmittagssonne getaucht und Éowyn fand, dass es heiß und stickig war und verdammte sich dafür sich schlafen gelegt zu haben. 

Sie ging zu Bregos Sattel, den sie auf einen Stein gelegt hatte und holte Wasser heraus. 

„Wir werden noch eine Weile reiten müssen, Brego. Deine dumme Herrin musste sich ja unbedingt hinlegen und schlafen.“ Sie lachte ein kurzes humorloses Lachen und streichelte Bregos Hals. 

„Du vermisst Aragorn, nicht wahr?“ Sie sah in die ausdruckslosen schwarzen Augen des Pferdes. „Ich vermisse ihn auch. Ich wäre gerne bei seiner Hochzeit dabei gewesen. Frau Arwen sieht bestimmt ganz hinreißend aus, mit ihren langen schwarzen Haaren und dem weißen Kleid aus Seide. Aber ich kann mir vorstellen, dass du Frau Arwen nicht magst. Bist eifersüchtig, hmm?“ 

Sie starrte gedankenverloren auf den Horizont und fuhr selbstvergessen über Bregos Nüstern. 

„Ich glaube nicht, dass wir sie wiedersehen, Brego. Ich glaube, dies ist eine Reise ohne Wiederkehr. Bereust du es schon mit mir gekommen zu sein? Ich bereue es auch. Ich vermisse ...“ 

Erneute Tränen und sie fragte sich, wann es aufhören würde. Wann sie genug geweint hatte, um endlich wieder an ihr Leben zu denken und daran, dass es nicht länger ihres war. 

„Tränen. Immer wieder Tränen. Als wäre ich ein kleines Mädchen.“ 

Als wäre ich ein kleines Mädchen, das bei der Leiche seiner Mutter sitzt. 

Sie schluchzte und rief in die Ebene mit Tränen erstickter Stimme: „Ich vermisse Éomer. Wenn doch nur er hier wäre. Alles sähe viel besser aus, wenn nur er hier wäre ... O, Éomer!“ 

Einen Moment blieb sie unbewegt sitzen, bevor sie hart schluckte und wieder aufstand. Sie verstaute das Wasser in den Satteltaschen und sah hinüber zu Brego, der sie traurig anstarrte. 

„Ich werde nicht mehr weinen, Brego. Dies ist das letzte Mal. Wir müssen nach vorne sehen. So wie wir auch nach vorne reiten. Alles, was hinter uns liegt, müssen wir vergessen. Du darfst nicht mehr an deinen Herrn denken und ich nicht an meine Familie.“ 

Sie zog die Riemen fest, prüfte, ob alles richtig saß, bevor sie sich in den Sattel schwang. Sie trocknete ihre Tränen und ritt in Richtung Entwasser. 

*

Am frühen Abend ihres sechsten Reisetags erreichte sie den Schneeborn, an dem sie Rast machte, bevor sie noch einmal eine Stunde ritt und Rem erreichte. Sie stieg von Brego ab und führte ihn am Halfter durch das kleine Dorf, das aus nichts als aus einer Ansammlung windschiefer Häuser bestand, einem Schmied und einer Art Gasthaus.

Sie war hier nur zwei Mal gewesen und beide Male waren sie nur auf der Durchreise und sie nicht älter als zehn gewesen. 

Ihre Amme Elfrun hatte ihr damals gesagt, dass dies ihr Geburtsort sei und Éowyn hatte sich desinteressiert umgesehen und es schließlich, als sie weiter ritten, vergessen. 

Sie ging zum Schmied und fragte dort nach Elfrun, der Amme. 

Er fragte wer sie sei und sie antwortete wahrheitsgemäß, dass sie ein früherer Schützling der Frau sei und sie besuchen wollte, um der alten Zeiten Willen. 

Er sagte ihr das sie *dort*, und er zeigte dabei auf ein kleines, aber solide wirkendes Haus, wohnen würde. 

Sie dankte es ihm, indem sie Brego bei ihm unterstellte und ihm etwas Gold gab. 

Der Stall roch, als ob es durch das Dach regnen würde, und sie bedauerte ihren voreiligen Beschluss etwas, sagte Brego aber leise, dass sie ihn morgen zu sich holen würde und, dass es bestimmt nicht regnen würde, denn der Boden war staubtrocken und der Himmel wolkenlos. 

Sie sattelte ihn ab und redete leise auf ihn ein, meistens Unsinn und sie sang auch ein Lied über Eorl, den Jungen, das Théodred und Éomer ihr beigebracht hatten und striegelte ihn langsam und ausgiebig. 

„Gib ihm gutes Futter“, verlangte sie bevor sie den Stall verließ und der Schmied nickte grimmig. 

Ihre Schritte waren fest und sie fragte sich, was sie die Frau fragen würde, wenn sie erstmal bei ihr wäre. Was, wenn sie nichts wusste? Was, wenn sie nichts sagte? 

Éowyn kam bei dem Haus an und klopfte widerstrebend an der Tür, es dauerte einen Moment, bis diese geöffnet wurde und Éowyn hatte genug Zeit festzustellen, dass sie noch immer ihre Hose trug. 

Zu spät. 

Eine mittelalte Frau mit streng zurück gekämmtem braunen Haar, rundem rotwangigem Gesicht und kleinen weißen Falten um die braunen Augen sah sie erstaunt an, erkannten sie und Éowyn bemerkte wohl, dass sich die Frau fragte, ob sie ihren Schützling in den Arm nehmen dürfte, jetzt, wo sie offensichtlich eine erwachsene Frau war. 

„Éowyn. Fräulein“, kam es stockend hervor und bevor Éowyn darüber nachdachte umarmte sie die Frau stürmisch, die ihre Umarmung erwiderte. 

Sie standen einen Moment dort, bevor sie sich losließen und die Amme Éowyn hineinbat. 

Das Haus bestand aus mehreren kleinen Räumen, doch der größte Raum war die Küche, mit einer großen Feuerstelle. Es roch nach Karotten. Das Licht von draußen fiel bereits dämmrig und unzureichend hinein und die Amme hatte einige Lampen angezündet, bevor das Licht ganz verschwand. 

„Störe ich?“, fragte Éowyn und bemerkte jetzt erst die Schürze, die ihre Amme trug. 

„Nein!“, rief sie fröhlich aus und bot ihr einen Platz an, den Éowyn dankbar annahm, obwohl es seltsam war nach sechs Tagen wieder auf einem Stuhl zu sitzen und nicht auf dem weichem Gras der Ebenen. 

„Wollt Ihr etwas trinken?“ 

„Gerne.“ 

Elfrun füllte etwas Wasser in einen Becher und stellte es vorsichtig vor Éowyn auf den Tisch. 

„Seid Ihr hungrig? Möchtet Ihr etwas essen?“ Aber Éowyn verneinte. Selbst ihr Wasser, nach dem sie verlangt hatte, ging nur schwer durch ihren Hals und noch schwerer in ihren zusammengezogenen Magen. 

„Warum tragt Ihr Hosen, Fräulein?“ Elfrun fragte es, wie sie Éowyn, das Mädchen, oft gefragt hatte, warum es lieber mit ihrem Bruder spielte als mit den anderen Mädchen. Mit der gleichen Geduld, dem gleichen Unverständnis. 

„Ich bin seit ein paar Tagen unterwegs. Die Hosen sind bequemer zum Reiten.“ 

„Wie lang wart Ihr unterwegs, Kind?“ 

„Dies ist der sechste Tag meiner Reise.“ 

„Allein?“ Elfruns Augen weiteten sich, dann lächelte sie. „Was führt Euch zu mir, Kind?“ Elfrun setzte sich ihr gegenüber und ergriff Éowyns Hände. 

Éowyn fragte sich wieder, was sie sagen sollte. 

Einfach raus damit. Keine Scham.

„Ich habe eine Frage, die wahrscheinlich nur noch du mir beantworten kannst.“ Der Ernst in ihrer Stimme ließ Elfruns Lächeln verschwinden. 

Vielleicht weiß sie bereits, was ich sie fragen will. 

Éowyn suchte das einstmals so bekannte Gesicht nach einer Erkenntnis ab, aber fand keine und begann schließlich zu sprechen, vorsichtig, als gehe sie über Glas und wäre dabei sich schwer zu verletzen. 

„Erzähl mir von meiner Geburt, Elfrun. Du warst dabei, du hast es oft genug gesagt. Sag mir, was damals geschehen ist.“ 

Die ältere Frau wurde aschfahl, verbarg ihr Gesicht in ihren alten Händen und schüttelte langsam den Kopf. 

*

Als sie wieder aufsah, waren ihre Augen feucht und sie seufzte. 

„Ich wusste, dass Ihr irgendwann kommen würdet, Kind.“ Ihre Stimme war schwach und zittrig. „Aber nun, da Ihr hier seid, sinkt mir das Herz und ich kann es Euch nicht erzählen. Ich schwor Eurer Mutter einen Eid--“ 

„Aber sie ist tot, Elfrun“, fiel Éowyn drängend ein.  „Wenn Ihr etwas wisst, dann bitte ich Euch es mir zu sagen. Denn ich lebe …“ Und leiser fügte sie hinzu: „und ich denke, Ihr seid mir so viel Ehrlichkeit schuldig.“ 

Elfrun schwieg lange Zeit, wiegte sich hin und her und weinte geräuschlos in ihre Hände und als Éowyn bereits dachte, dass ihre Reise umsonst gewesen sei, sagte sie plötzlich: „Über zwanzig Jahre lang habe ich geschwiegen und es ist schwer für mich jetzt darüber zu reden, doch Ihr habt recht. Ich schulde Euch die Wahrheit.“ 

Schließlich sah sie auf und fragte Éowyn leise: „Ihr wisst, dass Eure Mutter eine Fehlgeburt vor euch erlitten hatte, nicht wahr?“ 

Éowyn schüttelte den Kopf. 

„Es war grässlich. Es war im Winter und der Schnee lag meterhoch, die Hebamme schickte uns junge Frauen dauernd hinaus, um Schnee zu holen und Wasser heiß zu machen. Aber es schien fast so, als gäbe es nicht genug Wasser um all das Blut fortzuwaschen. All das Blut ... Frau Théodwyn schrie die ganze Zeit während der Entbindung und litt große Schmerzen. Bereits Herr Éomers Entbindung hatte ihr zu schaffen gemacht. Sie schrie so sehr ...“ Elfrun sah auf ihre Hände, die ihren Rock gepackt hatten und ihn festhielten. „Das Kind war bereits seit mehreren Monaten tot, sagte die Hebamme. Mindestens dreien. Das machte Frau Théodwyn sehr zu schaffen. Sie wurde krank und Herr Éomund bangte um ihr Leben. Sie sagte zu ihm, sie wolle noch ein Kind. Nur noch eins. Und sie betete und ließ es sich von ihrem Mann versprechen, dass sie noch eines bekommen würden.“

Es war still in der kleinen Stube.   

„Als eure Mutter das dritte Mal schwanger wurde, glaubte niemand außer ihr daran, dass sie das Kind bekommen würde. Selbst Herr Éomund hatte sich damit abgefunden keine weiteren Kinder mehr zu haben, obwohl er doch in einem Haus voller Geschwister aufgewachsen war. Aber er liebte seine Frau so sehr, dass er auf jedes Kind verzichtet hätte, wenn es nur hieße, dass er seine Frau behalten dürfte.“

Elfrun lächelte wehmütig und Éowyn spürte, wie sich etwas in ihr verhärtete. Das Gesicht der älteren Frau lag in Schatten und Éowyn erinnerte sich an Rayhel, die Alte aus Minas Thirith, die wie eine Erinnerung hier neben ihr zu hocken schien und Éowyn hoffte immer noch vergebens ihr niemals begegnet zu sein. 

„Die Schwangerschaft verlief gut. Ruhig. Frau Théodwyn sagte oft, es würde ein Mädchen werden. Sie wolle es Éowyn nennen, sagte sie. Es waren fette Jahre und selbst, dass der Winter noch im Boden lauerte, störte niemand, denn alle hatten sie warme Betten. Es war drei Monate vor der Geburt des Kindes, dass Théodwyns Vetter Theorl, aus dem Hügelland, zu ihnen in die Ostmark kam. Ich werde diesen Tag nicht vergessen, mein ganzes Leben nicht. Die Späher riefen: ‚Seht! Ein Reiter! Öffnet das Tor!‘ Doch hätten sie genau hingesehen, hätten sie erkannt, dass es zwei waren, denn er brachte ein Mädchen mit. Herr Theorl war jung und leichtsinnig. Er war durch die ganze Ost- und West-Emnet geritten mit einer schwangeren Frau.“ An dieser Stelle lachte sie, aber sie verschluckte den Laut und es klang mehr wie ein Schluchzen. Éowyn wollte sie bitten aufzuhören, aber sie konnte nicht. 

„Er bat Herr Éomund darum, dass das Mädchen dortbleiben durfte. ‚Lasst sie das Kind hier bekommen. Zu Hause sind sie närrisch und wollen es uns wegnehmen. Mein Vater droht mich zu enterben, wenn ich die kleine Frau heirate.‘ Ihr Name war Berit und sie war eine Wäscherin. Sie war klein und schlank, so hübsch wie eine von diesen Blumen, die weiter im Norden wachsen, mit weißen Blättern. Man sah ihr kaum an, dass sie schwanger war. Sie war so dünn, dass man Angst kriegen konnte, und ich versuchte sie tagelang dazu zu bekommen zu essen, aber sie bekam nicht viel runter, sagte sie sei so gutes Essen nicht gewöhnt.“ 

Elfrun machte eine Pause und die Stille lag hart auf ihnen. Ungesagtes schwirrte in ihren Köpfen und beide wollten, dass die Geschichte hier ihr Ende nahm. Aber Éowyn sagte nichts und so fuhr die Amme fort. 

„Herr Theorl brach nach einigen Tagen wieder auf. Er sagte, er wolle bald zurückkehren, aber wir sahen ihn nicht wieder. Die Orks griffen Wold an und auch die hölzernen Hallen Raths. Er fiel, wie auch sein Vater. Aber darüber erfuhren wir nichts, bis spät in den Frühling, als alles Unglück bereits geschehen war ...“ Elfrun sah sich entschuldigend um, suchte nach einer Möglichkeit Zeit zu schinden. „Möchtet Ihr nicht einen schönen warmen Tee trinken, Fräulein Éowyn?“

Éowyn nickte und Elfrun stand langsam auf und hängte den Kessel über das Feuer, legte noch ein paar Holzscheite nach und trocknete ihre Tränen. Éowyn sah dabei zu, wie das Feuer das Holz langsam ansengte und schließlich einschloss, verbrannte. 

Sie schwiegen lange Zeit. Das Knacken und Knirschen des Holzes waren die einzigen Geräusche im Haus, bis sie das Pfeifen des Kessels aufschreckte. Elfrun reichte Éowyn ihre Tasse und lächelte pflichtschuldig. 

„Fahr fort, Elfrun.“

Die ältere Frau nickte, sah in ihren Tee, den sie mit beiden Händen umschlossen hielt, als wäre ihr schrecklich kalt. 

„Frau Théodwyn gebar ihr Kind am letzten Tag des Februars. Ein schlechtes Omen, nicht wahr, dass sie ihr Kind ebenfalls so nah am Winter bekommen sollte, wie auch ihr letztes, dahingerafftes? Ich ahnte Grässliches. Tatsächlich erschien es uns allen wie eine Wiederholung der Ereignisse. Es fiel sogar noch einmal Schnee. Sie lag zwei Tage lang im Kindbett. Die Hebamme war außer sich. Schließlich schickte sie mich zu Herr Éomund und als sie ihn kommen sah, lief sie zu ihm und noch bevor sie den Flur ganz betreten hatte, fragte sie ihn, ob er das Kind wolle oder die Frau.“

Éowyn spürte die quälende Ungewissheit von sich abfallen, an dessen Stelle nun Taubheit trat, sie hielt ihre Tasse umklammert und wisperte: „Er wählte seine Frau.“ 

„Er liebte sie. Mehr als alles andere. Es dauerte Tage lang bis sie wieder sprach. Sie verstand nicht, warum sie nicht noch ein Kind für sich bekommen dürfte. Denn Éomer war seines Vaters Kind und würde früh lernen ein Éored zu sein. Und du weißt so gut wie ich, dass die Pferdeherren nichts mehr lieben als die Freiheit und ihre Pferde.“ 

Éowyn nahm zum ersten Mal einen Schluck Tee und fragte sich, ob er tatsächlich so bitter wie Galle schmeckte oder ob dies nur der Geschmack in ihrem Mund war. 

„Berit hatte ihr Kind am 12. März geboren, als der Schnee wieder schmolz und die Frühlingssonne hochstand und uns allen ein Lächeln auf die Gesichter zauberte. Es war eine leichte Geburt, so wie alle Geburten verlaufen sollten. Am Nachmittag kam Frau Théodwyn in Berits Schlafzimmer und erkundigte sich nach der Mutter und dem Kind. ‚Geht es beiden gut?‘, fragte sie und ich antwortete ‚Es geht ihnen sehr gut. Kommt mit mir, Berit wird Euch bestimmt gestatten sie zu halten.‘ Ich wünschte, ich hätte den verzweifelten Gesichtsausdruck schon früher bemerkt. Dieses verzauberte und sehnende, als müsse sie dieses Kind haben, um glücklich zu sein. Ich wünschte ich hätte es gesehen und ihr verboten das Kind zu nehmen, denn sie wollte Berit das Kind nicht mehr zurückgeben, als sie es erst mal im Arm hielt. Sie weigerte sich und ignorierte mein Flehen es zurückzulegen. Sie ging in ihre Räume und nahm das Kind mit. Ich sagte Berit, dass ich das Kind zurückbringen würde. Dass alles gut werden würde, sobald erst mal der Herr wieder zurück sei. Als er einritt ging ich sofort zu ihm und erzählte ihm was passiert war. Er war erschrocken und versprach mir, dass er es richten würde. Aber wie konnte er ihr etwas verwehren? Wie? Wenn er doch der gewesen war, der ihr das leibliche Kind genommen hatte? Er ging zu ihr und als er hinaus kam verlangte er mit Berit zu sprechen. Sie sprachen lange miteinander und ich hörte sie jammern und weinen und schreien, aber Herr Éomund kam heraus und ich hatte ihn noch nie vorher so kalt gesehen. In dieser Nacht tröstete ich Berit, der es nach ihrem Kind verlangte. Ihr Kleid war voll von Tränen und Milch. Als ich sie allein ließ weinte sie immer noch und am nächsten Morgen war sie fort. Das Mädchen, das man in den Hügelgräbern der Ostfold begraben hatte, vergaß man und Ihr bekamt von ihr Euren Namen, Éowyn.“

*

Es war nun vollkommen duster in der kleinen Hütte, bis auf die zwei kleinen Lampen, die immer noch brannten und das bereits gut brennende Feuer. Éowyn konnte die nächtliche Kälte spüren, die sich um sie gezogen hatte und es sehnte sie gerade nach nichts mehr als einem Bett und einer Decke. 

Sie brauchte Schlaf. 

Sie brauchte Vergessen. 

Sie brauchte Zeit zu entscheiden. 

„Ihr wisst also nicht, wo sie lebt?“ Éowyns Stimme war schwach, beinahe mädchenhaft. 

„Oder ob sie lebt, nein. Ich habe sie nie wieder gesehen. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie nach Rath zurückgekehrt ist.“ 

„Rath liegt sieben Tagesmärsche weit von hier fort und es gibt keine Dörfer zwischen hier und dem Hügelland, außer den Siedlungen der Ostfold.“ Éowyn sagte es mehr zu sich selbst als zu ihrer Gastgeberin, die beinahe schockiert aussah. 

„Ihr wollt doch nicht--“ 

„Ich muss, Elfrun.“ 

Die Amme seufzte. 

„So dickköpfig wie das Kind, das ich gekannt habe.“ Die Amme stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Doch Ihr bleibt und ruht Euch erst einmal gehörig aus! Ihr könnt nicht einfach allein von hier bis nach Rath reiten. Keine Widerrede! Deshalb werde ich Euch auch jetzt Essen machen und danach werdet Ihr Euch schlafen legen.“ 

Éowyn stand auf und folgte der Amme zum Herd. 

„Wie wäre es, wenn ich dir helfe?“ 

„Aber, Fräulein Éowyn!“, rief die Amme aus und schüttelte den Kopf. 

Éowyn aber legte ihre Hände auf die der Amme und sagte langsam: „Ich bin nun nicht mehr die Herrin von Edoras. Ich bin Éowyn, Tochter einer Wäscherin. Eine der deinen.“ 

Elfruns Blick war traurig, aber schließlich nickte sie und gab Éowyn eine Schüssel mit Wasser und ein Stück Tuch, um sich den Reisestaub abzuwaschen. Elfrun bestand darauf, dass sie die dreckigen Sachen auszog, damit sie diese waschen konnte und Éowyn war klar, dass sie das Waschen lange Zeit hinauszögern würde. 

Die Amme gab ihr eins ihrer eigenen Kleider und Éowyn fühlte sich beinahe wieder wie sie selbst, bis auf den schmerzhaften Stich in ihrem Herzen, der sie immer wieder aufsehen ließ, um sich zu bestätigen, dass sie nicht mehr dort war, wo sie immer gewesen war. 

*

Doch Elfrun riss sie aus ihren Gedanken, als sie scherzhaft fragte, ob sie immer noch solch gute Suppe kochte, dass es allen davor grauste. Éowyn lachte und spürte ihre Wangen rot werden. 

„Tatsächlich mag niemand essen, was ich koche“, sagte sie und half der älteren Frau beim Kartoffeln schälen, von dem sie annahm, dass sie dabei nichts falsch machen konnte. 

„Trotzdem möchte Faramir von Gondor Euch heiraten. Man sagt, er sähe gut aus“, sagte Elfrun mit einem Augenzwinkern. 

Éowyn lächelte und sah in die Schüssel mit den Erdäpfeln. 

„Er ist ein sehr verständnisvoller Mann. Gutaussehend. Voller Respekt. Aber wir werden nicht heiraten. Ich glaube nicht, dass er die Frau heiraten möchte, die ich sein werde, wenn ich ... Sollte ich jemals zurückkehren. Was ich nicht denke.“ 

Elfrun hörte auf zu schälen und sah Éowyn aufmerksam an. 

„Kind, hört mir mal zu.“ Sie rückte ein wenig näher mit ihrem Schemel und nahm Éowyns Gesicht in ihre Hände, die rau und schmutzig waren vom Kartoffeln schälen. „Jeder Mann, der nicht sieht, dass Ihr eine der letzten großen Frauen seid unter dem Volke Rohans, ist blind und dumm. Wenn er klug ist, wird er Euch erst recht heiraten wollen, wenn Ihr wieder kommt, denn Ihr habt nur das getan, was Euer Herz gesagt hat, denn Euer Herz hat immer recht, egal was es verlangt. Wenn er Euch wirklich liebt, wird er auf euch warten, Éowyn, Tochter des Windes.“ 

Elfrun wischte mit ihrem Daumen die Tränen fort, die ihre Wangen hinab liefen und Éowyn fragte sich, wie oft sie noch ihr Versprechen brechen würde, nicht zu weinen. 

„Ich sollte nicht weinen. Ich sollte glücklich sein zu wissen, dass ich eine Mutter habe.“ 

„Macht Euch nicht zu viel Hoffnung. Wer weiß, ob sie noch lebt.“ 

„Sie lebt noch“, widersprach Éowyn. „Ich bin hier, weil es mir eine alte Wahrsagerin gesagt hat.“   

„So ist das“, entfuhr es Elfrun. „Und ich dachte, dass Gamling es auch gesagt hätte.“ 

„Gamling?“ Éowyn sah erneut von den Kartoffeln auf, zog ihre Stirn in Falten.

„Jaah. Gamling. Zu der Zeit gehörte er zur den Éored von Herr Éomund.“ 

Éowyn sagte eine Zeit lang nichts. 

„Er *wusste* es?“ 

Elfrun nickte, ohne Éowyn anzusehen. 

„Wir beide, Gamling und ich, wir waren die einzigen, außer Herr Éomund und seiner Frau, die etwas davon wussten.“ 

„Und ... Théoden?“ Der Gedanke war grausam, aber sie musste es wissen. Elfrun schüttelte den Kopf, bevor sie mit den Schultern zuckte. 

„Ich weiß es nicht. Ich glaube allerdings nicht, dass er es wusste. Ein anständiger Mensch war er und Gamling und ich hatten nicht vor unser Schweigen zu brechen. Doch selbst wenn Frau Théodwyn es ihrem Bruder gesagt hat ... Auch er konnte ihr nichts abschlagen.“ 

Sie schälten weiter ohne Unterbrechung, schälten Bohnengemüse und Karotten. Elfrun briet Speck an und goss Wasser und das Gemüse hinzu, tat ein wenig Salz in die Brühe und ließ es köcheln, während die beiden Frauen schweigend vor dem Feuer saßen und auf die Dunkelheit hörten. 

„Wo sind deine Kinder, Elfrun? Und dein Mann?“ 

„Meine Kinder sind im Nachbardorf bei ihrer Großmutter. Mein Mann allerdings ist auf den Markt gefahren und will einige Schweine kaufen.“ 

„Wie viele Kinder sind es jetzt? Es waren drei Kleine als du Edoras verlassen hast, nicht wahr?“

„Jetzt sind es noch einmal so viele und sie sind fast alle alt genug ein eigenes Leben zu führen, bis auf zwei. Ich habe auch bereits vier Enkelkinder.“ 

Éowyn lächelte und versuchte sich die kleine Hütte gefüllt mit zwei Dutzend Leuten vorzustellen und es war ein glückliches Bild, das ihr vorschwebte und sie fragte sich, ob Elfrun sich genauso allein fühlte wie Éowyn auch. 

Nach einer Weile sagte Elfrun: „Wie geht es Herr Éomer?“ 

„Gut“, sagte sie ohne nachzudenken. „Er ist genauso hitzköpfig wie früher, nur dass er heute ein Schwert führen darf.“

Elfrun lachte leise, bevor sie fortfuhr. 

„Wir haben hier viel über ihn gehört als die Männer zurück aus dem Krieg kehrten. Sie erzählten Geschichten, die niemand glaubte und von denen ich doch wusste, dass sie stimmten. Ich wusste, dass sie stimmten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er in die Schlacht ritt. Ganz so groß wie sein Vater, mit dem gleichen braunblonden Haar und den kleinen braunen Augen. Der gleichen Wut.“

Éowyn lächelte, als die Erinnerung an Éomer zurückkam, hier, wo sie beinahe wieder das Mädchen war, das auf den Höhen vor dem Haus spielte und Blumenketten flocht. 

„Er wird ein guter König sein“, sagte Elfrun sicher und füllte Éowyn Suppe nach. „Hat er bereits eine Frau im Auge?“ 

Éowyn sah verwirrt auf. 

„Nein ... Nicht, dass ich wüsste. Es muss wohl erst die Richtige kommen. Obwohl ich denke, dass es eine gibt.“ 

Éowyn dachte an das liebliche Gesicht von Lothíriel und kaute unruhig auf ihrer Unterlippe, bevor sie sich ab- und wieder ihrer Suppe zuwandte. Elfrun sagte noch einiges über Frauen und Männer, aber Éowyn hörte ihr nicht zu und schließlich erstarb ihr Gespräch und sie wandten sich wieder ganz dem Essen zu. Sie wuschen noch zusammen ab, bevor Elfrun Éowyn in ein kleines Zimmer führte mit zwei Betten und ihr Kissen und Decken ausschüttelte. 

„Ich lasse die Tür offen, so dass die Wärme des Feuers hineinziehen kann, ja, Fräulein Éowyn?“ 

Éowyn nickte und sah zu, wie Elfrun verschwand und das Licht ihrer kleinen Lampe nur noch ein kleiner Punkt an der anderen Seite des Flures war und sie in vollkommener Dunkelheit stand. Sie stand eine Weile dort und sah auf das Bett, bis sie sich langsam auszog und unter die Decke kroch. 

Einige schlaflose Momente drehte sie sich von einer zur anderen Seite und gerade als sie dachte, dass sie auf dem Boden schlafen könnte, spürte sie wie der Schlaf sie vorsichtig umarmte und mit sich in sein Reich nahm. 

*

Als sie am nächsten Morgen erwachte war es noch dunkel und nur ein dünner Hauch von Rosa hatte sich an einer fernen Stelle am östlichen Horizont gesammelt und erhellte das Grau der Nacht. Es war warm unter ihrer Decke, aber sie konnte bereits die Kälte spüren, die der Schlaf über Nacht ferngehalten hatte. 

Sie hatte einen guten Traum gehabt, von goldenen Bäumen und windstillen Ebenen. Immer noch geisterten diese Bilder in ihrem Kopf und sie kämpfte gegen das abermalige Einschlafen einen Moment an, bevor sie die Decke wegstieß und aufstand. 

Der hölzerne Boden war kühl unter ihren Füßen und sie suchte sich zwischen ihren übriggebliebenen Sachen ihre Kniestrümpfe heraus und zog sie über. Eine der Decken wickelte sie sich um die Schultern und trat ans Fenster. 

Rem lag geschützt in einer natürlichen Vertiefung, nicht sonderlich hoch und zu nichts anderem gut als die morschen Häuser vor dem Windzug zu beschützen. Doch von hier aus konnte Éowyn über die ganze Ebene sehen und sie war immer wieder erstaunt darüber, wie weit und flach das Land war. 

Éowyn wandte sich nach einer langen Zeit ab und begann sich zu entkleiden. Sie hatte sich eine Schale mit Wasser heiß gemacht und wusch sich frierend in der morgendlichen Kälte. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper und ihre Brustwarzen hatten sich fest zusammengezogen. 

Während sie sich wusch, sah sie an sich hinab und erinnerte sich an die Witze, die Éomer und Théodred über ihre Oberweite gemacht hatten, als sie gerade zwischen den vagen Jahren zwischen Mädchen und Frau sein gestanden hatte.

Nun konnte sie darüber Lächeln, während sie sich anzog und ihr Haar bürstete, doch sie erinnerte sich, dass sie diese ungehobelten Bemerkungen wütend und traurig gemacht hatten und manchmal, wenn sie ganz allein gewesen war, hatte sie sich vor den Spiegel gestellt und gefragt, warum ihre Brüste nicht wuchsen. 

Oft genug, wenn sie wieder einmal mehr Kind als Frau war und der Trotz in ihr loderte, fragte sie sich was schon so Besonderes daran war so große Brüste zu haben? Sie passte wenigstens ohne Probleme in die Rüstung ihres Bruders. Sie würde nicht mit einem Pfeil in der Brust sterben. 

Trotzdem tat es weh. 

Und obwohl sie es niemals zugeben würde, hatte sie die eine oder andere Träne darüber vergossen. Éomer hatte sie einmal weinend in ihrem Zimmer gefunden, nachdem Théodred und er sie mal wieder gepiesackt hatten. 

Verlegen war er gewesen und miserabel sah er aus, als er sah, wie leichtfertig er ihr weh getan hatte. 

„Ist es denn so wichtig?“, fragte sie und wischte sich die Tränen weg. „Das ich oben drall bin und breite Hüften habe?“ 

Einen Augenblick lang glaubte sie, er würde ihr nicht antworten, doch dann setzte er sich neben sie auf ihr Bett und hob ihr Kinn an, so dass er ihr in die Augen sehen konnte. 

„Nein, das ist es nicht. Wir Jungen sind einfach nur Esel. In ein paar Jahren wird jeder Mann in Rohan dein schönes Gesicht einem paar Brüste vorziehen.“ 

Es war vielleicht nicht prosaisch, aber es kam doch von Herzen und sie begannen beide zu lachen über ihre eigene Dummheit. Erst später, als sie bereits im Bett lag, wurde Éowyn klar, dass es das erste Mal gewesen war seit dem Tod ihres Vaters, dass sie jemand schön genannt hatte. 

*

Éowyn entfachte das Feuer neu, das im Laufe der Nacht hinab gebrannt war und fuhr erschrocken hoch, als die Tür aufging und Elfrun hereinkam.

„Hab ich Euch etwa geweckt als ich das Haus verlassen habe?“, fragte Elfrun und schloss die Tür hinter sich. 

Sie war übermäßig ... wach. 

„Nein. Ich dachte *du* schläfst noch.“ 

Elfrun lachte. 

„Nein, nein. Wohin kämen wir denn da? Aber ich sehe Ihr habt das Feuer geschürt. Lasst uns nun frühstücken. Ich habe Käse geholt und Milch.“ Sie stellte beides auf den Tisch und holte aus einem der Schränke das Geschirr. 

Es wurde ein gemütliches Frühstück und sie redeten noch über eine Menge Dinge aus den alten Zeiten und es schien fast so als wäre der gestrige Abend nicht geschehen, als wäre er nur der Traum zweier Frauen gewesen. 

Doch während sie lachten und redeten, fragte sich Éowyn innerlich, wann sie aufbrechen könnte. 

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