Eine leichte Brise wehte über das Land und Dämmerung lag darüber. Valinor allein schien wie eine weiße Perle einen schwachen Glanz auszustrahlen. Die Bäume wiegten sich im Wind, Manwe und Yavanna trieben ein Spielchen mit ihnen. Allein, auf einem kleinen Hügel standen drei Gestalten: Zwei rothaarige Jünglinge und eine andere Elbin, ebenfalls mit feuerrotem Haar. Ihre Umhänge wölbten sich leicht, als auch sie von der Brise erfasst wurden.
„Mutter, wir werden uns nicht wieder sehen.“, sagte Amras und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Stille Tränen rannen über ihre Wangen. Auch sie wusste, dass dies ein endgültiger Abschied war. Nur der Tod ihrer Söhne könnte sie ihr zurückbringen. Sie senkte den Kopf ein wenig. Dann verhärtete sich ihr Blick und sie sah die Zwillinge abwechselnd an. „Oh, ich hasse ihn! Und wie ich ihn hasse!“
Amrods Augenbrauen zogen sich zusammen. „Bitte sag so etwas nicht.“ „Oh doch! Denn es ist die Wahrheit. Es tut mir Leid, dass ihr das erfahren müsst, doch ich sollte es euch nicht verheimlichen. Feanor will gehen? Soll er doch! Doch er nimmt mir das, was mir am wichtigsten ist. Er nimmt mir meine Kinder. Ich habe gewusst, dass er eure Brüder mit sich nehmen würde, doch ihr seid noch so jung. Ihr solltet nicht in die Schlacht ziehen, zumal es falsch ist, was er tut. Ich hatte gehofft, dass er mir meine beiden Jüngsten lassen würde. Ich habe ihn auf Knien angefleht.“
Traurigkeit erschien nun auf den Gesichtern der Zwillinge. Ihre Mutter hatte bei ihrem Vater gebettelt? Sie hatte sich erniedrigt bei ihm um ihre Kinder zu flehen? Keine Mutter sollte so etwas tun müssen und Nerdanel am allerwenigsten. Sie war eine stolze Noldorin-Elbin und niemand konnte sie in die Knie zwingen. Selbst Feanor hatte in der Beziehung immer seine Probleme gehabt, denn sie war die einzige, die es mit ihm aufnehmen konnte. Früher zumindest. Ihre Söhne wussten das.
Nerdanel sprach weiter. „Euer Vater hat darauf bestanden, auch euch ins Verderben zu führen. Ihr seid so jung, ihr wisst nicht, worauf ihr euch einlasst. Es ist pure Dummheit, euch mitzunehmen. Dummheit oder Herzlosigkeit.“
Auch Amrod legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Aber Mutter, es ist nicht falsch, was er tut. Es sind durchaus edle Absichten. Er will unser Volk zu großem Ruhm führen. Er hat Großes vor.“
„Und doch geht er ohne den Segen der Valar. Es wird in einer Katastrophe enden. Doch nun ist es zu spät. Er hat euch einen Eid schwören lassen, der es euch verbietet, umzukehren. Dafür werde ich ihn ewig hassen.“
Amras lächelte traurig. „Nana, wir gehen nicht wegen ihm und du weißt das.“, sagte er. Nerdanel nickte. „Ja, mein Sohn. Ihr geht wegen Maedhros, habe ich Recht?“ Die Zwillinge bejahten. „Er war uns immer mehr wie ein Vater als Adar. Er war immer unser ältester Bruder und hat Verantwortung für uns übernommen. Wenn er geht, können wir nicht bleiben. Doch wenn du uns gebeten hättest, hätten wir es dennoch getan. Du bist unsere Mutter und wir lieben dich von ganzem Herzen. Hätte Vater es nicht von uns verlangt, würden wir nicht gehen.“, bestätigte Amrod.
Nerdanel senkte den Blick. Dann sah sie wieder auf und in ihren Augen lag etwas, das die Zwillinge mit Kummer erfüllte. „Passt bitte auf euch auf, meine Söhne. Ich liebe euch, das dürft ihr nicht vergessen. Niemals, versprecht mir das!“
„Niemals!“
„Niemals, Nana, wir lieben dich!“
„Ich liebe euch auch. Und habt ein Auge auf Maglor. Er ist kein Krieger, sondern ein Poet. Und lasst Maedhros nicht mehr Verantwortung übernehmen als gut für ihn ist. Es ist nicht Schuld an dem, was geschieht. Caranthir wird auch noch erkennen, dass euer Vater geblendet ist von dem Werk seiner Hände und der Aussicht auf Ruhm, auch wenn er jetzt noch hinter ihm steht. Ebenso Celegorm. Curufin wird auch immer auf euch achten. Er kann am diplomatischsten mit eurem Vater umgehen. Es gibt noch zwei Dinge, die ihr mir versprechen müsst.“
„Alles, Nana.“, sagten die Zwillinge im Chor.
„Ihr sieben müsst zusammenhalten. Egal was geschieht. Hört auf Maedhros, er weiß, was er tut. Aber ihr seid alle Brüder und ihr müsst auf diesen Bund vertrauen. Er muss stärker sein als der Eid.“
„Das wird er immer.“, sagte Amras und seine Hand schloss sich um die von Amrod.
„Und zu letzt etwas, das wohl das Wichtigste sein wird: Verliert niemals ganz das Vertrauen in die Valar. Betet, wenn ihr nicht weiter wisst, betet regelmäßig. Sie werden euch hören, wenn auch vielleicht nicht antworten. Doch sie sind die einzige Verbindung, die noch Besteht zwischen uns, wenn ihr fort seid. Bitte versprecht mir das. Es ist wichtig, denn das ist Feanors größter Fehler. Er geht ohne ihren Segen, doch ihr seid nicht er. Bitte versprecht mir, dass ihr beten werdet.“
„Immer, Nana.“
„Immer. Und wir werden an dich denken.“
Nerdanel lächelte. Dann ließ ein lautes Horn sie zusammenfahren und die Zwillinge sahen sich an. „Aufbruch. Es ist das Horn von Vater.“, sagte Amrod. Sie schlossen ihre Mutter ein letztes Mal in die Arme. Sie weinte. Sie weinte bitterlich, doch es gab kein Zurück mehr. Auch bei ihren Söhnen flossen die Tränen, doch sie wischten sie weg. Sie mussten jetzt stark sein. Ein weiteres Mal ertönte das Horn. Es klang für sie wie ein Vorbote des Schicksals.
Dann wandten Amrod und Amras sich um und ihre Mutter sank zu Boden.
ENDE