Faramirs Augen füllten sich mit Tränen und sein Herz stand still, als Ealdor aus seiner Zelle geschleift wurde.
"Sei froh, dass der Herr Feldhauptmann sich für dich eingesetzt hat, du stinkende Verrätersau", spuckte einer der Wächter ihn an, als sie ihn dem Statthaltersohn vor die Füße warfen und die Tür des Gefängnisses zuknallten.
Ealdor rührte sich nicht. Er keuchte und schnappte gierig nach Luft, obwohl ihm jeder Atemzug stechende Schmerzen bereitete. Einige seiner Rippen waren gebrochen, sein Gesicht war von unzähligen Rissen und Blutergüssen übersät und seine Kleidung war blutig wie nach einem Kampf mit wilden Bestien.
"Das hättest du nicht tun sollen", flüsterte Faramir, vom grauenvollen Anblick überwältigt, und half dem jungen Gelehrten auf.
"Ich konnte nicht anders, ich konnte nicht lügen...", murmelte Ealdor kaum verständlich und sah aus, als würde er gleich bewusstlos werden.
Faramir wischte sich die Tränen aus den Augen und nahm ihn auf die Schultern. Sein Freund gehörte dringend in die Häuser der Heilung. Es war grauenvoll, was man mit ihm im Gefängnis angestellt hatte. Seine Peiniger, diese sadistischen Tiere, hatten nicht mal einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass Ealdor der Sohn eines der hochrangigsten Offiziere Gondors war. Er hatte öffentlich gegen Denethors Gewaltherrschaft ausgesagt und galt somit als Verräter. Faramir hatte eine Woche gebraucht, um ihn aus seinem Verlies zu befreien. Und ohne Boromir, der mit dem Truchsess gesprochen hatte, wäre es ihm wohl niemals gelungen.
Faramir und Ealdor waren schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr Denethor und seinen Anhängern ein Dorn im Auge. Es hatte begonnen, als es sich herausgestellt hatte, dass die beiden eine regimekritische Parole an die Wand eines Hauses in der Nähe des Marktplatzes geschmiert hatten. Während Faramir mit zehn Peitschenschlägen davongekommen war, wurde Ealdor von seinem Vater, der Denethor treu ergeben war, aus der Familie verstoßen und nachdem er halb tot geschlagen worden war, in den dreckigsten Kerker geworfen, den man hatte finden können. Später hatte man ihn in eine "Besserungsanstalt" nach Pelargir geschickt und zwei Jahre später kehrte er zurück, scheinbar "geheilt" und der Ideologie "treu ergeben". Er hatte sich dort von seinen Verletzungen erholt und Politik und Geschichte studiert, was ihm hätte eine hohe Stellung im Führungsstab der Regierung, der Elite Gondors, verschaffen können, da er über hervorragende Kenntnisse und Talente in Sachen Führung und Manipulation verfügte, Fähigkeiten, die Denethors Funktionäre brauchten, um das Volk unter Kontrolle zu halten. Aber er hatte sich für das stille Leben in den Kellergewölben des Weißen Turmes, wo sich die große Bibliothek von Minas Tirith befand, entschieden. Und obwohl sein Vater ihn wieder als seinen Sohn anerkannt hatte, besuchte Ealdor seine Familie nur selten, auch wenn er seine Mutter und seine Schwestern sehr liebte. Er hatte gewusst, dass der Frieden mit seinem Vater nicht ewig währen würde. Marschall Súrion war nämlich ein Mann, der vor allen Dingen Stärke schätzte und sich immer einen kriegerischen, erbarmungslosen Sohn gewünscht hatte. Ealdor dagegen war ein sehr feinfühliger Mensch, dessen Herz Kunst, Musik und Literatur gehörte, der ein genialer junger Geist und kraftvoller Redner war. Trotz der körperlichen Stärke seiner númenórischen Vorfahren und all seiner Verwandten hatte er eine sehr gebrechliche Statur, seine kleine, schmale Figur und sein langes, rabenschwarzes Haar ließen ihn in den Augen mancher Leute sogar ein wenig weiblich wirken. Es war also kein Wunder, dass Súrion in seinem Sohn eine Schande für die Familie sah.
Die Helferinnen klatschten sich entsetzt die Hände vor den Mund, als Faramir seinen Freund über die Schwelle der Häuser der Heilung trug. Viele von ihnen empfanden großen Respekt vor Ealdor, besonders seit seiner berühmten Rede auf dem Marktplatz, mit der er vier Menschen vor der Verhaftung retten wollte. Dafür war er ins Gefängnis gesperrt worden und die Leute, die er verteidigt hatte, wurden am nächsten Tag öffentlich exekutiert.
"Eine Hinrichtung wäre gnädiger gewesen", schluchzte die alte Ioreth, als Ealdor auf ein Bett gelegt wurde, und strich ihm liebevoll durchs Haar. "Er ist ein tapferer Junge. Wenn es doch nur mehr solche wie ihn gäbe..."
Nimloth, Ioreths hübsche, junge Nichte, schluchzte so sehr, dass sie kein Wort hervorbrachte, während sie das blutige Gesicht des neunzehnjährigen Gelehrten mit einem feuchten Tuch abtupfte. Faramir wusste, dass sie in Ealdor heimlich verliebt war, und er wusste auch, dass der junge Mann für sie ebenfalls etwas empfand. Doch sie blieben stets auf Distanz, da er Tag und Nacht von den Spionen des misstrauischen Statthalters beschattet wurde. Denethor pflegte nämlich nicht nur die Täter, sondern auch gleich ihre Nächsten zu bestrafen.
"Wir schaffen das schon, es ist ja nicht das erste Mal", versuchte Ioreth Faramir, der mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere starrte, zu beruhigen. "Er hat nichts, was wir nicht heilen können, obwohl die gebrochenen Rippen schon schwierig werden."
Sie befühlte Eardors Seite und der junge Mann zuckte vor Schmerz zusammen.
"Ist ja gut, schon gut, es wird alles wieder gut", nuschelte Nimloth unter Tränen und streichelte sein entstelltes Gesicht.
Faramir nahm sie sanft in den Arm. "Komm, du musst dich erst beruhigen."
Sie nickte und ließ sich vom jungen Feldhauptmann aus der Kammer führen.
"Faramir, ich rede mit dir!"
Er drehte sich um und funkelte seinen Vater hasserfüllt an. "Was?"
"Du wirst dich von diesem Ealdor fernhalten, verstanden?", krächzte der Alte auf dem schlichten, schwarzen Sitz am Fuße der Treppe, die zum Thron des Königs hinaufführte. "Er ist ein Agent des Bösen und ich will nicht, dass du dich dazu verführen lässt, den rechten Weg zu verlassen."
"Und wenn ich nicht gehorche?", fragte Faramir trotzig.
"Wenn du ihn bei seinen kleinen Aktionen auch weiterhin unterstützt, werde ich dich verhaften und wie einen Mittäter bestrafen lassen."
"Sage was du willst, aber ich werde mich niemals verraten."
Mit diesen Worten machte Faramir auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus. Boromir, der etwas abseits gestanden und die beiden beobachtet hatte, spürte den scharfen Blick seines Vaters und folgte seinem Bruder hinaus.
"Hör mal, du hättest nicht so sprechen dürfen", meinte er, als er Faramir endlich eingeholt hatte.
"Wie dann?" Der Jüngere schaute ihn nicht einmal an.
"Du - du hättest vorher nachdenken sollen", presste Boromir hervor, da ihm nichts anderes einfiel. "Ausweichmanöver und gerätselte Phrasen, weist du?"
"Damit ich so einer werde wie diese ganzen glitschigen Ratsherren?", erwiderte Faramir knurrend. Oder einer wie du?, fügte er in Gedanken hinzu.
Boromir schloss kurz die Augen und seufzte.
"Ich mache mir doch nur Sorgen um dich", murmelte er mit zittriger Stimme, als er sich seinem Bruder in den Weg stellte.
"Und gerade das nutzt Vater aus, um mich zu kontrollieren", schleuderte Faramir ihm entgegen. "Du bist sein Werkzeug, seine Marionette. Merkst du das denn nicht? Er will mich durch dich dazu bewegen, ihm zu gehorchen. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann lass mich in Frieden."
Boromir öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Und dann, plötzlich, spürte er, wie in ihm die Wut hochkochte.
"Du denkst doch nur an dich!", schrie er und schubste Faramir. "Du willst etwas bewegen und vergisst dabei alle, die dich lieben! Merkst du nicht, was du mir antust, wenn du dich in Schwierigkeiten bringst? Denkst du an das Volk, das all seine Hoffnungen in dich setzt? Und hast du überhaupt jemals an Mutter gedacht? Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, dich zu gebären, damit du neunzehn Jahre später unter Folter stirbst! Hast du denn keinen Respekt wenigstens vor ihr, die gewaltige Schmerzen auf sich genommen hat, um dir das Leben zu schenken?"
"Ich weiß es zu schätzen, was Mutter für mich getan hat, aber ich denke, sie würde sich schämen, dass ich ihr Sohn bin, wenn ich anfange, mich selbst zu belügen und so zu tun, als würde in Gondor Glück und Frieden herrschen!", erwiderte Faramir kühl und ging mit schnellen Schritten an Boromir vorbei in das Wohngebäude der Truchsessfamilie.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tür fest verriegelt war, sank Faramir müde auf den Stuhl hinter seinem Schreibpult. Zumindest in einem Punkt hatte Boromir recht gehabt: Er hätte nicht so sprechen dürfen. Denethor würde ihn nun schärfer beobachten denn je und heimliche Treffen mit Ealdor würden schwieriger zu organisieren sein. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, auf die Ermahnungen anderer zu hören und seiner Beteiligung an den ganzen kleinen revolutionären Untergrundaktionen ein Ende zu setzen. Zwar hatte man ihn bis jetzt nur bei zwei wirklich kleinen Vergehen ertappt, aber so allmählich wurde die Luft heiß. Wo er auch hinging, überall fielen ihm Leute auf, die ihn immer wieder scheinbar zufällig anschielten.
Als er mit fünfzehn Jahren mit den ganzen Sachen angefangen hatte, war er noch voller Energie gewesen, sodass er überhaupt nicht an die Folgen gedacht hatte. Er hatte damals die Kindheit hinter sich gelassen, die Augen geöffnet und die Wahrheit gesehen. Er wollte etwas bewirken und widmete der Protestbewegung die folgenden Jahre. Aber jetzt, als er merkte, wie seine Lage sich immer weiter zuspitzte, zweifelte er daran, dass er es durchhalten konnte. Oft hatte er einfach nur Glück, dass er nicht erwischt wurde, und kam gerademal um Haaresbreite davon. Langsam, aber sicher, zog er sich aus diesen gefährlichen Angelegenheiten zurück, wie auch die meisten anderen Rebellen. Das einzige, was ihn davon abhielt aufzugeben, war sein Glaube an Ealdor.
Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, kramte er ein angefangenes Gedicht hervor und tauchte seine Feder ins Tintenfass. Doch statt sie auf das Pergament zu setzen, erstarrte er von Neuem und sah zu, wie die Tinte in einem sich ständig wiederholenden Rhythmus auf das Geschriebene tropfte. Der schwarze Fleck wurde immer größer, wuchs zu einem See heran und als er das Blatt ein wenig bewegte, floss das schwarze Blut über die gesamte Seite. Wie das Blut über Ealdor geflossen war, als er aus seiner Zelle gelassen wurde, wie das Blut eines Tages über ihn, Faramir, fließen würde.
Er fürchtete sich. Er wünschte sich, einfach spurlos vom Erdboden zu verschwinden. Egal wo man hintrat, jeder Schritt führte nur ins Verderben. Er wünschte sich, er hätte keine Beine mehr, mit denen er in den Abgrund stolpern könnte.
Noch vor wenigen Minuten war er fest entschlossen gewesen, sich seinem Vater zu widersetzen. Es war immer so, wenn jemand ihn zu überreden versuchte: Da fiel ihm der Widerstand leichter. Da hatte er seinen Gegner vor sich, er blickte ihm ins Gesicht und er wusste, dass sein Feind nur ein Mensch war. Doch jetzt, allein in einem abgeschlossenen Raum, isoliert, war es eine ganz andere Sache. Die Ecken und Nischen seiner Schreibstube wirkten immer dunkler und die Schatten bewegten sich immer mehr auf ihn zu. Es gab ein Fenster, ein Fenster zur Freiheit, doch es war nur eine Illusion. Würde er da rausspringen, würde er den Sturz wohl kaum überleben.
Hoffnungslos stützte Faramir den Kopf auf seine Hände.