Arda Fanfiction

Das neue Archiv für Geschichten rund um Tolkiens fabelhafte Welt!

Das Phantom der Zitadelle

von Feael Silmarien

Der schwarze Schatten

Ihr eigenes Antlitz blickte sie betrübt und nachdenklich zugleich an, während sie vor ihrem Spiegel saß und sich die langen braunen Locken kämmte. Sie hatte bereits ihr Nachtgewand angezogen und trug darüber einen leichten Umhang aus weißer Seide. Trotz ihrer Müdigkeit musterte sie ihr Spiegelbild ganz aufmerksam und fragte sich immer wieder, was der Spiegel nicht preisgab. Was sagte er überhaupt? Nichts. Gar nichts. Er zeigte nur ein sehr natürliches Bild von ihr. Ihre Schönheit, die ihre Liebhaber so sehr verehrten. Nicht mehr.

Sie erstarrte für einen Moment. War das die Lösung?

"Augen sind Spiegel."

Plötzlich glitt eine Hand über ihren Hals, dann über ihre Schulter.

Erschrocken hielt sie die Luft an und blickte in den Spiegel. Er war es. Seine unheimliche, weiße Maske war gerade aus der Dunkelheit aufgetaucht.

"Augen sind Spiegel", wiederholte er, "denn sie sehen nur das, was sie reflektieren können. Für alles andere sind sie blind."

Aelins Atem wurde flach. Eine schwere Fessel hatte sich um ihre Brust gelegt. Das Phantom lächelte nicht und jetzt, im Kerzenlicht, war er unheimlicher als je zuvor. Beim Tanzen hatte sie immer eine sonderbare Magie gespürt, doch dieses Mal war sie fort. Als ob sie gerade aus einem Traum aufgewacht wäre, realisierte sie die eisige Kälte, die das Phantom ausstrahlte.

"Warum sagt Ihr das?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein schwaches Hauchen.

Das Spiegelbild des Phantoms schaute ihr direkt in die Augen.

"Es ist die Lektion meines Lebens."

Sie senkte ihren Blick. Es war sonderbar. Eigentlich wollte sie nicht, dass das Phantom sie verließ, aber sie spürte zur selben Zeit eine bannende Furcht in sich aufsteigen.

"Ich verstehe es nicht", murmelte sie.

"Während ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, es zu erforschen."

Sie glaubte, in seinem Ton einen Hauch von Bitterkeit zu hören. Zaghaft stand Aelin auf und wandte sich zu ihm um.

"Wer seid Ihr?"

Ein merkwürdiges Lächeln, das sie nicht deuten konnte, erschien unter der ausdruckslosen Maske.

"Ich bin der, der ich bin."

"Aber Ihr müsst doch einen Namen haben!", meinte Aelin, zu ihrer eigenen Verwunderung etwas mutiger.

Das Phantom lächelte wieder und begann, in ihrem Gemach auf und ab zu schreiten.

"Ein Name ist Teil der Maske, eine Illusion", antwortete er. "Er gibt keine Auskunft darüber, wer wir sind."

"Jeder hat einen Namen", entgegnete Aelin.

"Ich hatte einst einen, aber er wurde niemals benutzt. Ich brauche auch keinen. Nennt mich, wie Ihr wollt."

Die junge Frau starrte ihn ungläubig an. Er sagte so viele merkwürdige Dinge... Dinge, über die sie sich in ihrem erst neunzehnjährigen Leben noch keine Gedanken gemacht hatte. Sie wusste nicht, ob es stimmte, was er sagte, doch seine Worte waren ebenso sonderbar wie er selbst. Er war faszinierend... Er war unheimlich und schön zugleich. Schön... Auf seine eigene, ganz besondere, Art und Weise.

"In meinen Gedanken nenne ich Euch 'das Phantom', weil ich mir früher nicht sicher war, ob Ihr nicht nur ein Trugbild wart", sagte sie leise.

Das Phantom grinste zufrieden. "Ja, in der Tat, so werde ich meistens genannt."

Aelin stutzte. "Heißt das, dass Ihr Euch auch anderen Leuten zu erkennen gebt?"

"Ja, die Menschen von Minas Tirith bekommen von mir gelegentlich etwas zu hören. Man spricht nicht gerne über mich und Ihr seid nicht sehr oft hier. Wegen Euren Verehrern, nehme ich an. Daher ist es kein Wunder, dass Euch noch niemand von mir erzählt hat."

"Und Ihr taucht immer mit dieser Maske auf?"

Das Phantom nickte. "Es ist ein Teil meines Gesichts für die Öffentlichkeit."

"Und habt Ihr auch ein Gesicht für mich? Euer wahres Gesicht?"

"Das kennt Ihr bereits. Es ist das, was Ihr außer der Maske seht."

Allmählich begann Aelin, das Phantom besser zu verstehen. Aber das hatte sie mit dem 'wahren Gesicht' nicht gemeint.

"Würdet Ihr mir nicht das Gesicht zeigen, das sich hinter Eurer Maske verbirgt?"

"Ihr habt es bereits einmal gesehen."

Sie riss ihre Augen weit auf. "Wann?"

Das Phantom, das inzwischen langsame Runden um sie zeichnete, hielt kurz an.

"Vor genau siebzehn Jahren."

Ihre Augen weiteten sich immer mehr. "Aber da war ich doch erst zwei Jahre alt!"

Er trat ans Fenster und blickte in die Dunkelheit.

"Was vielleicht Euer Glück war", murmelte er mehr zu sich selbst als zu ihr.

"Glück..?"

Doch das Phantom wirkte mit einem Mal abweisend und verschlossen.

"Genug für heute", sagte er bestimmt und verschwand in den Schatten.

Mit einem Kopf voll ungelöster Rätsel stürzte sie zu der Stelle, wo er verschwunden war, doch da war nichts außer einem alten mannshohen Spiegel.


Es war ein merkwürdiger, fast schon etwas düsterer Tag gewesen, als Aelin am nächsten Abend den Speisesaal der Zitadelle betrat. Die ganze Zeit über hatte sie über die letzte Nacht nachgedacht. Eine merkwürdige, kalte Unruhe hatte sie befallen. Etwas stimmte nicht. Aber sie wusste nicht, was. Sie wusste nur, dass sie das Geheimnis des Phantoms lüften wollte. Das Geheimnis, vor dem sie sich ein wenig fürchtete. Wieso sprach man nur ungern von ihm? Stimmte es, dass sie ihm mit zwei Jahren begegnet war? Wer war das Phantom überhaupt?

Doch neben dieser Unruhe spürte sie auch eine sonderbare Sehnsucht nach der Magie, die das Phantom umgab, nach dem endlosen Dunkel, nach dem schwarzen Mysterium. Seit das Phantom sich ihr erstmals gezeigt hatte, war kaum ein Tag vergangen, an dem sie nicht an diese außergewöhnliche Begegnung gedacht hatte.

Obwohl sie keinen Hunger hatte, ging sie langsam auf ihren Platz zu, als Ancalimon auf sie zugeeilt kam, sie grob am Arm packte und möglichst unauffällig in eine Ecke zerrte.

"Was läuft zwischen Euch und dem Phantom?", fragte er herausfordernd.

Aelin starrte ihm furchterfüllt ins Gesicht. Seine etwas zu hellen Augen leuchteten geradezu vor Gier, während seine Lippen sich zu einem süchtigen Lächeln gekrümmt hatten.

"Welches Phantom?", erwiderte sie kühl.

Sie sah, wie in dem jungen Offizier Zorn aufstieg.

"Stellt Euch nicht so an!", zischte er. "Ich habe gesehen, wie Ihr mit ihm gestern getanzt habt und als ich zufällig an Eurem Gemach vorbeiging, hörte ich eine männliche Stimme."

"Ihr habt mich belauscht?", stieß Aelin empört hervor.

Ancalimon merkte, dass er auf dem richtigen Wege war, sie in eine Sackgasse zu treiben.

"Nicht belauscht", sagte er mit einem düsteren Grinsen. "Ihr wisst, dass es nicht meine Art ist. Ich habe die Stimme nur zufällig im Vorbeigehen gehört."

Widerstand war zwecklos, das sah Aelin. Aber sie hasste diese Art und Weise, wie Ancalimon sie in diesem Augenblick behandelte. Mit kalter Miene befreite sie sich aus seinem Griff.

"Ihr scheint ja viel zu wissen", schleuderte sie ihm entgegen. "Aber es geht Euch nichts an."

Sie wollte gehen, doch er hielt sie wieder fest.

"Seid Ihr Euch da wirklich sicher?" Er schaute sie ein wenig spöttisch an. "Habt Ihr denn überhaupt eine Ahnung, wer oder was das Phantom ist? Er ist ein grausamer Mörder. Seine Attentate sehen meistens aus wie zufällige Unfälle aus, aber diese Zufälle häufen sich ziemlich verdächtig. Er ist ein unverbesserlicher Menschenhasser. Ich weiß nicht, was er von Euch will, aber er ist gefährlich und muss unschädlich gemacht werden."

Aelin wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wollte zurückfauchen, doch zugleich ahnte sie, dass Ancalimon sie nicht angelogen hatte. Die Besorgnis von vorhin machte sich in ihr wieder breit. Das Phantom war verdächtig kalt genug. Aber wenn er ein solcher Menschenhasser war... Wieso hatte er ihr noch kein einziges Haar gekrümmt? Er schien sie zu mögen... Aber wieso? Wo sie doch ein Mensch war...

Doch sie kam nicht dazu, noch mehr darüber nachzudenken, denn in diesem Moment ertönten draußen grauenerfüllte Schreie und Frau Vanimelde, Ancalimons Mutter, kam in die Halle gestürmt. Was sich in ihrem Gesicht spiegelte, konnte man unmöglich mit Worten wiedergeben. Es war leichenblass, die Augen vor Entsetzen bis zu einer unnatürlichen Größe geweitet, der Mund zu einem grauenerfüllten Schrei aufgerissen und verzerrt. Als hätte sie eben dem Tod persönlich ins Auge geblickt. Unendliche Angst, Panik, eher tot als lebendig.

"Das Phantom!", schrie sie. "Das Phantom! Es ist hier! Er ist tot!"

Mit klopfendem Herzen beobachtete Aelin, wie Elessar auf die Frau zulief. Sein Gesicht wirkte mehr als besorgt, ein böses Zeichen. Mit sanften Worten versuchte der König, die schreiende Vanimelde zu beruhigen. Sie war ganz außer Atem und schwitzte.

"Was ist denn genau passiert?", fragte Elessar leise.

Doch Vanimelde brach in Tränen aus und sank zu Boden. Sie schluchzte, schrie, heulte, zitterte, jaulte. Der Anblick war erbärmlich. Ancalimon kniete neben seiner Mutter nieder und drückte sie an sich. Aber sein Gesicht drückte weniger Besorgnis aus als... Aelin konnte es sich noch nicht erklären.

"Er ist tot", wisperte Vanimelde kaum verständlich durch ihre Schluchzer, das Gesicht grauenvoll schmerzverzerrt. "Telemmaite... Er ist tot!"

Wieder konnte sie nicht sprechen und klammerte sich angsterfüllt an ihren Sohn. Telemmaite war ihr Gatte gewesen. Obwohl ihre Ehe arrangiert war, schien zwischen den beiden Liebe geherrscht zu haben.

"Er ist tot", wiederholte Vanimelde, sobald sie ihre Sprache wiederfand. "Erhängt... Über seinem Bett... Und verunstaltet... Alles unter ihm voller Blut... Es war das Phantom!"

"Seid Ihr Euch da sicher?", sagte Elessar mit bleichem Gesicht.

"Das hier... Es lag auf dem Bett." Sie heulte wieder heftig auf, schrie, bis sie kurz darauf in Ohnmacht fiel.

Ancalimon nahm das Pergament, das sie in der Hand gehalten hatte. Aelin, die inzwischen hinzugekommen war, ließ sich neben ihm nieder und erstarrte vor Entsetzen und Ekel. Der Fetzen war ganz blutverschmiert, doch das Wort, das darauf geschrieben stand, war unmissverständlich, klar und deutlich zu erkennen: "Bald."

"Eins kann man über das Phantom sagen", schnaubte Ancalimon feindselig lächelnd. "Es mordet edel. Mit Vorwarnung."

"Wozu?", murmelte Aelin, während ihr Tränen über die Wangen flossen. "Wozu warnt es seine Opfer?"

Ancalimon lachte. "Es bereitet ihm anscheinend Vergnügen, zuzusehen, wie sie in ihren letzten Tagen vor Angst wahnsinnig werden."

Es war grauenvoll. Aelin spürte, wie die Kälte über ihren gesamten Körper kroch. Telemmaite und Vanimelde waren nette und freundliche Menschen, die es nicht verdienten, ein so grausiges Schicksal zu erleiden. Dieses Phantom schien ein Herz aus Eis zu besitzen.

Als sie ihren Blick hob, merkte sie, dass im Saal ängstlich geflüstert wurde. Alle waren blass und verschreckt. Alle bis auf Ancalimon, dessen helle Augen von einem sonderbaren Glanz erfüllt waren. Ein unheimliches Lächeln umspielte seine Lippen.

"Mein König", sprach der junge Mann und beugte vor Elessar das Knie. "Tragt mir auf, das Phantom zu vernichten. Ich werde Euch nicht enttäuschen."

Aelin verstand. Er sah in diesem Vorfall eine Chance. Er war sehr ehrgeizig und ruhmsüchtig. Das war auch der Grund dafür, dass er so erfolgreich war. Sie hasste diese Eigenschaften an ihm. In Momenten wie diesen schien er zu einem ganz anderen Menschen zu werden. Er war nicht mehr edel und schön, sondern von Gier zerfressen.

Das sah auch Königin Arwen, die ihm direkt in die Augen blickte. Und sie sah noch viele andere Dinge...

"Es geht Euch um mehr als nur um Rache und Schutz für Eure Familie", sagte sie bestimmt.

"Das spielt keine Rolle, meine Königin", erwiderte Ancalimon. "Aber in einer Sache könnt Ihr Euch sicher sein: Wenn jemand in der Lage ist, diesem Spuk ein Ende zu setzen, dann bin ich das!"

Elessar schaute seine Gemahlin nachdenklich an. Er schien genau dasselbe zu denken wie sie. Viel mehr als sie ausgesprochen hatte.

"Also gut", willigte er schließlich ein. "Ich gebe Euch diesen Auftrag."

"Ich danke Euch." Ancalimon grinste gierig.


Sie hatte nichts gegessen und zitterte heftig, als sie in ihr Gemach schlich. Angst... Als ob im nächsten Moment wieder etwas Schreckliches passieren würde... Als ob im nächsten Moment wieder ein entsetzter Schrei die Luft zerreißen würde... Mit kreidebleichem Gesicht näherte sie sich ihrem Tischchen mit dem Spiegel, wo sie ihr Haar zu kämmen pflegte.

Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und ihr Herz ließ einen Schlag aus. Dort, auf dem Tisch vor dem Spiegel, brannte eine einzelne Kerze und warf ihr goldenes Licht auf eine rote Rose.

Langsam näherte sie sich der Lichtquelle, während ein kalter Schauer immer wieder über ihren Rücken jagte. Mit bebender Hand nahm sie die Rose, vorsichtig wegen den Dornen.

Doch kaum hatte sie das Geschenk aufgehoben, spürte sie einen aufmerksamen Blick und ließ vor Schreck die Blume fallen. Er war wieder da. Plötzlich war ihr furchtbar kalt, als würde sie ganz nackt mitten in einem Schneesturm stehen.

Kalt... Diese Kälte verwandelte sich in schmerzhafte Furcht, wie sie sie noch nie gekannt hatte, als zwei schwarze Arme sich um ihren Körper schlangen.

"Heute ist es soweit", flüsterte die Stimme des Phantoms, das zärtlich über ihre Taille strich.

Tränen der Angst flossen über ihr Gesicht. Sie konnte sich nicht bewegen... Sie war vereist.

"Ihr braucht Euch nicht vor mir zu fürchten", hauchte das Phantom genüsslich. "Ihr seid das einzige Wesen, dem ich nichts antun will."

Diese Worte verbreiteten in Aelin noch mehr Furcht als eine Morddrohung es getan hätte. Sie befreite sich aus seinen Armen und drückte sich panisch an die Wand.

Die dunkle Gestalt vor ihr lächelte, verbeugte sich und reichte ihr eine schwarze Hand. Wie beim Tanzen. Doch Aelin wusste, dass dies kein harmloser Tanz sein würde. Genauso wie sie wusste, dass er zu Gewalt greifen könnte, wenn sie ihm nicht gehorchte. Zaghaft legte sie ihre Hand auf die seine.

Lächelnde Zufriedenheit erschien auf den Lippen des Phantoms. Die dunklen Finger schlossen sich um ihre zarte Hand und sie folgte ihm langsam zum Spiegel, hinter dem er letzte Nacht verschwunden war. Sie konnte sich nicht wehren. Sie starrte ihn nur an, voll von bösen Vorahnungen. Wie eine willenlose Puppe ließ sie sich in den Gang führen, der sich ihnen offenbarte, als er durch Betätigung eines versteckten Hebels die Tür öffnete, die vom Spiegel getarnt war. Der Gang war eng, kalt und dunkel. An der Wand befand sich eine einzige Fackel, die das Phantom in die Hand nahm, bevor die Tür vollkommen geräuschlos ins Schloss fiel.

In diesem Moment fand Aelin ihren Willen wieder, schaute sich über die Schulter und sah, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.

Ein weiterer Schauer lief ihr über den Rücken und sie verlor das Bewusstsein.

Rezensionen