Nachdem Aelin die Augen geöffnet hatte, dauerte es eine Weile, bis sie realisierte, dass sie in einer fremden Wohnung aufgewacht war. Und kurz darauf durchfuhr sie auch die Erinnerung an den vergangenen Abend. Schmerzhaft erschreckend wie ein Schlag. Die unheimliche Wahrheit. Dass sie im Reich des Phantoms war.
Ängstlich setzte sie sich auf und schaute sich vorsichtig um. Das Phantom hatte sie bewundernswert sorgsam auf ein weiches Bett gelegt, das sich in einem höhlenartigen Raum befand. Es gab hier viele vollgestellte alte Regale, die vor Schriftrollen, Zeichnungen, mechanischen Konstruktionen und vor allem Staub überquollen. An einem Ende des ovalen Zimmers gab es Fenster. Viele kleine, unförmige Löcher in der dicken Felswand, die von Scheiben aus altem Glas verdeckt waren. Durch diese Fensterchen strömte ein wenig fahles Sonnenlicht, das helle Flecken an Boden, Wände und Decke warf, und in den unzähligen Lichtern befand sich ein großer Schreibtisch, auf dem sich ganze Welten aus Pergament, abgenutzten Federn, Tintenfässern, Bauteilen, Schachteln, Dosen und Fläschchen türmten. Für einen kurzen Augenblick glitt durch Aelins Kopf der Gedanke, dass in diesem Imperium von Staub und Unordnung eindeutig eine Frau fehlte. Aber andererseits wäre dieser Raum ohne das Chaos mehr eine kalte, tote Höhle als eine Behausung.
Sie schaute sich noch einmal um. Sie war tatsächlich ganz allein hier. Das Phantom war fort.
Plötzlich fühlte sie, dass ihre Furcht von gestern ein wenig in den Hintergrund trat und ihren Platz an die aufkeimende Neugier abgab. Sie blickte sich noch einmal vorsichtig um, dann wagte sie es, vom Bett aufzustehen und die Regale etwas näher zu erkunden. Schon bald stellte sie fest, dass die vielen Schriftrollen und Zeichnungen Anleitungen für den Bau der vielen mechanischen Wunder waren, die trostlos unter der dicken Staubschicht hervorlugten, lieblos hingeworfen, lauter kleine Werke, die ihrem Meister nicht mehr gefielen. Aber es gab auch erschreckende Papiere. So fand sie zum Beispiel eine Zeichnung, die genauestens darstellte, wie das neue Tor aus Mithril einzubauen ist. Das Phantom hatte einige verwundbare Stellen der Holzkonstruktion markiert, mit deren Hilfe das große Tor installiert werden sollte. Aelin hatte von jenem schrecklichen Unfall gehört, bei dem mehrere Menschen von herabstürzenden Holzbalken und dem fallenden Tor erschlagen worden waren. Sie entdeckte auch einen Stadtplan von Minas Tirith, auf dem sämtliche Vorratskammern ein rotes Kreuz trugen. Sie erinnerte sich noch an den einen grausigen Winter vor drei Jahren, in dem sehr viele Bewohner von Minas Tirith verhungern mussten, weil so gut wie alle Vorräte abgebrannt waren. Wegen den ungewöhnlich heftigen Schneestürmen waren Nahrungsmittellieferungen aus den Provinzen kaum möglich gewesen. Sie fand viele Pläne von Unglücksfällen, die inzwischen schon eine ziemliche Menge Menschen hinweggerafft hatten.
Ihr Herz klopfte wieder vor Angst und sie setzte sich auf das Bett, das ihr merkwürdigerweise wie die einzige sichere Stelle hier vorkam. Dies war das Geheimversteck des Phantoms, der Ursprung der Furcht, des Grauens, des Unheils, des Todes. Hier schmiedete der Mörder, in den sie die Torheit gehabt hatte, sich zu verlieben, seine finsteren Attentate. Wieder wurde ihr kalt und sie zog sich zusammen wie eine kleine Waise, die in den Winter hinausgejagt worden war. Hier war sie den Fängen des grausamen Phantoms schutzlos ausgeliefert. Noch konnte ihr nichts passieren, aber sobald er zurückkehrte...
Sie stützte ihren Kopf auf die Hände und konnte ein verzweifeltes Schluchzen nicht unterdrücken. Dabei wusste sie, dass sie nun stark sein musste, um sich wehren zu können. Das Phantom war ja auch nur ein Mensch. Es musste doch eine Möglichkeit geben, hier herauszukommen...
Wo war sie überhaupt? Sie wischte sich die Tränen weg und schlich hinüber zu den Fenstern. Zu ihrem Erstaunen bot sich ihr ein Blick hinab auf die Stadt. Sie war irgendwo im Inneren des schiffsartigen Felsens, der triumphierend gegen Mordor gerichtet war. Der einzige Ausgang war also der Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Aelin überlegte kurz, ob sie nicht in den dunklen Gang laufen und einen Weg in die Zitadelle suchen sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass sie sich hier überhaupt nicht auskannte und sich am wahrscheinlichsten in der Dunkelheit verirren würde.
Hoffnungslos wandte sie sich vom Fenster ab und auf einmal fiel ihr Blick auf den einzigen unverstaubten Fleck in diesem Raum: Auf einem kleinen Tischchen stand eine liebevoll gestaltete Figur auf einem Podest. Verwundert ging sie neben dem Tischchen in die Hocke und musterte die Figur. Halb erschrocken, halb erstaunt stellte sie fest, dass dies eine kleine und unglaublich naturgetreue Nachbildung ihrer selbst war. Das Phantom schien in diese winzige Aelin seine gesamte Kunstfertigkeit gelegt zu haben. Mit dem elbenschönen Gesicht, mit den seidigen, braunen Locken und der schlanken Figur sah sie ganz lebendig aus. Aelin bewunderte das Geschick des Phantoms, das selbst die kleinsten Details mit liebevoller Sorgfalt und unglaublicher Genauigkeit ausgearbeitet hatte.
Die kleine Puppe bildete einen krassen Kontrast zu den verwahrlosten Gegenständen im Raum. Ihr schneeweißes Kleid strahlte geradezu in dieser ganzen Unordnung. Das Figürchen machte irgendwie den Eindruck, das ewig helle Herzstück des verstaubten Höhlenreiches zu sein.
Unheimlich gerührt wollte Aelin ihre winzige Zwillingsschwester in die Hand nehmen, um sie genauer zu betrachten, doch sie staunte wieder, als sie feststellte, dass die Figur nur die Krone eines Mechanismus war, der sich im Inneren des Podestes befand. Sie entdeckte auch einen kleinen Schlüssel an der Seite. Als sie ihn in die eine Richtung drehte, erklangen helle, zarte Töne, ähnlich wie die eines Glockenspiels. Dann drehte sie ihn in die andere Richtung. Es war keine Musik zu hören, doch als sie losließ, spielte das Podest ganz von selbst, während die kleine Aelin sich zur lieblichen Melodie um die eigene Achse drehte.
Ein solches Spielzeug hatte sie noch nie gesehen. Wie ein kleines Kind hockte sie fasziniert neben der Puppe und beobachtete sie bei ihrem Tanz. Es war eine schöne Musik, die gespielt wurde. Erfüllt von Licht und Hoffnung, doch zugleich sprach aus ihr eine sehnsüchtige Melancholie. Mit einem Mal erkannte Aelin, dass das Phantom sie nicht begehrte, sondern sehr tiefe und merkwürdigerweise auch schmerzhafte Liebe für sie empfand. Sie kannte ihn noch nicht besonders gut, doch sie wusste nun, dass sie es hier mit einem todunglücklichen Menschen zu tun hatte.
"Das habe ich erst vor Kurzem fertiggestellt."
Aelin zuckte zusammen, als sie die Stimme des Phantoms vernahm. Sie hatte sich immer noch nicht an sein plötzliches Auftauchen gewöhnt.
"Gefällt sie Euch?", fragte er, als er sich Aelin näherte und neben ihr stehenblieb.
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll...", hauchte Aelin.
Er betrachtete sein Werk fachmännisch. "Die Figur war natürlich ein großer Aufwand, aber der Mechanismus... Ich habe Jahre gebraucht, um ihn zu entwickeln."
Er hielt kurz inne, dann schaute er sich im Raum um.
"Ihr habt ja noch gar nicht gegessen", stellte er fest. "Wenn ich mich recht entsinne, habt Ihr seit gestern Mittag nichts gekostet."
Aelin schaute das Phantom, das ihr höflich die Hand reichte, zweifelnd an, dann beschloss sie, ihm vorerst zu vertrauen, und ließ sich von ihm aufhelfen und zurück zum Bett führen, neben dem auf einem kleinen Tisch ein Silbertablett mit dem Frühstück stand, das sie völlig übersehen hatte. Erst jetzt teilte ihr Magen ihr mit, wie hungrig sie war und sie fiel geradezu gierig über das Essen her.
Das Phantom begab sich zufrieden zu seinem Schreibtisch, kramte eine der alten Pergamentrollen hervor und begann, sie sorgfältig zu studieren. Obwohl sie mit dem Essen beschäftigt war, ließ Aelin ihn kaum aus den Augen. Sogar jetzt, im Tageslicht, wirkte er unheimlich, von Kopf bis Fuß in Schwarz, wie er war. Und die Maske, die sein Gesicht unnatürlich, tot wirken ließ. Was verbarg sich dahinter? Das Phantom musste doch ein Gesicht haben... Ein menschliches Gesicht, mit dem man reden, in dem man lesen konnte...
Sie beeilte sich, ihr Frühstück hinunterzuschlingen, und ging darauf vorsichtig auf den Schreibtisch zu. Es war ihr klar, dass das Phantom sein Geheimnis für sich behalten wollte, daher gab sie vor, sich aus reiner Neugier das Chaos auf dem Pult anzusehen. Er schaute sie nur kurz an, ließ sie aber in aller Ruhe in seinen Papieren wühlen, während sie sich ihm langsam, aber sicher, näherte, bis sie ganz dicht neben ihm war.
Jetzt oder nie! Mit einer raschen Bewegung riss sie ihm die Maske vom Gesicht.
"Was fällt dir ein?!", schrie das Phantom wahnsinnig vor Zorn mit einer Stimme, die jedes Staubkorn im Raum erzittern ließ, und presste sich die Hand aufs Gesicht, als hätte er sich verbrannt.
Doch Aelin hatte das Grauen bereits gesehen: Ein Gesicht, das aus den schrecklichsten Folterkammern Morgoths zu stammen schien. Ein Gesicht, das man nur in der hässlichsten Orksprache beschreiben könnte. Als wäre dort alle Haut abgebrannt, schlimmer noch, als hätten Bestien dieses Gesicht zerfetzt, als wäre es nur schlecht und falsch verheilt. Mit einem entsetzen Schrei fiel Aelin zu Boden und starrte grauenerfüllt, während das Phantom sich über sie beugte und sie aus Leibeskräften anbrüllte, das Gesicht mit der Hand verhüllt und mit einem schmalen Schlitz zwischen den Fingern für das linke Auge.
"Du hättest das nicht sehen dürfen, du kleine Nichtsnutz! Hat man dir nicht beigebracht, dass du in fremden Angelegenheiten nicht zu schnüffeln hast? Und nun! Jetzt weißt du's ja! Bist du zufrieden? Es sieht nicht so aus! Warum wollt ihr alle eigentlich immer nur das Eine wissen? Warum müsst ihr euch immer überall einmischen? Verflucht! Hörst du? Verflucht sollt ihr alle sein! Zählt für euch etwa nur das hier? Ahnst du überhaupt, wie es ist, mit einer solchen Orkfratze leben zu müssen? Ihr kleinen Hübschen wisst doch eh nichts!"
Er verstummte keuchend und richtete sich wieder auf. Sie starrte ihn immer noch entsetzt an. Das Geschrei des Phantoms hatte ihr den Rest gegeben und in ihren Augen glitzerten Tränen.
"Vor siebzehn Jahren hast du dich nicht erschreckt", sagte das Phantom bitter. "Warst ja auch noch ein kleines Kind."
Ganz schwach vor Schreck rappelte Aelin sich auf und atmete tief durch, dann reichte sie ihm die Maske, damit er sein Gesicht wieder verdecken konnte.
"Seid Ihr so geboren worden?", flüsterte sie und war immer noch kreidebleich.
"Meine Eltern waren so entsetzt, dass sie vorgaben, ich sei tot zur Welt gekommen, und mich im Keller versteckten", sagte das Phantom leise, bedrückt. "Als ich elf war, konnte ich fliehen, aber es war Winter und überall, wo ich hinkam, hatten die Leute Angst vor mir. Es gab Gerüchte von einem fast schon menschenfressenden Monster. Man jagte Hunde auf mich, verfolgte mich mit Waffen, stellte ganze Jagdgruppen auf, um mich zu vernichten. Und wenn ich mein Gesicht verbarg, verlangten sie, dass ich es zeigte. Nach einem Jahr obdachlosen Herumstreunens geriet ich in die Hände von Unmenschen, die mich wie ein Tier im Käfig hielten, mit Peitsche dressierten und in ganz Gondor zur Schau stellten, womit sie ihr Geld verdienten. Drei Jahre später gelang mir die Flucht und ich lebte wieder auf der Straße. Ich lernte, wie man am geschicktesten in fremde Häuser einbrach, um überleben zu können. Irgendwann bin ich in eine Hütte im ersten Festungsring eingezogen und es ging mir gar nicht mal so schlecht dort. Schon da habe ich angefangen, als Phantom in Minas Tirith herumzuspuken und Steuern zu fordern. Ich hatte eine Menge Freizeit, also widmete ich mich den Dingen, die mich interessierten, weshalb ich einmal die Bibliothek der Zitadelle besucht und durch puren Zufall eine schicksalhafte Entdeckung gemacht habe: Ein Lageplan der Veste, auf dem alle Geheimgänge eingezeichnet sind. Seit dem habe ich hier mein Reich mit allem, was ich mir je gewünscht habe."
Aelin wusste nicht, was sie sagen sollte. Stumme Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Vermutung, dass das Phantom kein glückliches Schicksal hatte, stimmte. Aber was er ihr da erzählt hatte... Isoliert im Fürstenhaus von Emyn Arnen, wo sie aufgewachsen war, hatte sie sich nicht in schlimmsten Albträumen vorstellen können, dass so etwas überhaupt möglich war. Jetzt, in Zeiten des Friedens und des Glücks... Sie hatte in der Welt der Heldensagen und Märchen gelebt, die Realität kannte sie nicht.
Sie konnte sich gegen ihr Mitgefühl nicht wehren, trat zu dem Phantom und legte ihm zaghaft ihre Hand auf die Schulter. Mehr wagte sie nicht.
"Ich brauche kein Mitleid", fauchte er und hielt ihr das Pergament, über dem er vorhin gebrütet hatte, vor die Augen. "Hast du gehört, dass Sarumans Heer bei den Schlacht von Helms Klamm die mächtige Mauer in die Luft gejagt hat? Das hier wurde in den geheimen Kammern von Isengard gefunden und nach Minas Tirith gebracht. Ich bin gerade dabei, das Mittel, das Saruman damals verwendet hatte, in großen Mengen herzustellen." Er grinste hasserfüllt.
"Wollt Ihr damit etwa die ganze Stadt vernichten?", stieß Aelin entsetzt hervor.
"Und mich selbst vielleicht gleich mit, sobald die anderen für alles gezahlt haben", antwortete das Phantom düster lächelnd. "Aber nur vielleicht. Das hängt nämlich ganz von dir ab."
Sie erstarrte. "Wieso?"
Sein Hass verschwand für kurze Zeit. "Ich war neun Jahre alt, als ich durch mein vergittertes Kellerfenster die Menge beobachtet habe, wie ich es damals oft tat. Auf einmal sah ich ein kleines Mädchen, das sich von der Hand seiner Mutter losgerissen und in der Menge verloren hatte. Es erkundete mit kindlicher Sorglosigkeit die Gegend und sah mein unverhülltes Gesicht. Doch es erschreckte sich nicht, sondern lächelte mich an und lief fröhlich weiter. Es war das einzige Mal in meinem Leben gewesen, dass mich jemand nicht wie ein Monster betrachtet hat, auch wenn es nur ein kleines Kind war. Seit dem behielt ich dich im Auge, wenn du ausnahmsweise mal in Minas Tirith warst. Und dass du in dem Gemach mit der Geheimtür einquartiert wurdest, ist auch kein Zufall." Er seufzte. "Abgesehen von Hass und Rache bist du das einzige, was meinem Leben noch einen Sinn gibt."
Noch immer war Aelins Herz erfüllt von Mitleid, doch zugleich auch von düsteren Vorahnungen. Das Phantom hatte sehr viel ertragen müssen und das ganze Leiden schien ihn letztendlich wahnsinnig gemacht zu haben. Er war wahnsinnig und hatte einen scharfen Verstand. Eine gefährliche Kombination.
"Was wollt Ihr von mir?", fragte sie.
"Dass du für immer an meiner Seite bleibst." Seine Augen glühten.
Sie starrte ihn ungläubig an. "Was? Das könnt Ihr nicht von mir verlangen... Ich will wieder zurück!"
"Ich glaube, das geht jetzt nicht mehr, wo du doch mein Gesicht gesehen hast", erwiderte er grinsend.
"Ich verspreche Euch, dass ich niemandem etwas sagen werde!", rief sie verzweifelt.
"Man kann dich immer noch dazu zwingen", meinte er kühl. "Ancalimon... Er ist doch jetzt hinter mir her, oder?"
"Ich werde nichts sagen! Bitte!", flehte sie.
"Nein", antwortete er bestimmt.
Allmählich spürte sie, wie in ihr Zorn aufstieg. Wenn sie hier den Rest ihres Lebens verbringen sollte, dann nur über ihre Leiche.
"Wollt Ihr etwa, dass ich hier verrotte wie Ihr im Keller Eures Elternhauses?", schrie sie ihn an.
Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. Einen sehr wunden.
"Schweig!", zischte das Phantom.
"Wollt Ihr mir dasselbe antun, was Ihr erleiden musstet?", fuhr sie stur fort.
Plötzlich blitzten die Augen des Phantoms gefährlich auf. "Raus hier!"
Er packte Aelin schmerzhaft am Arm und zerrte sie den dunklen Gang entlang, bog einige Male ab und stieß sie schließlich wütend durch die Spiegeltür in ihr Gemach.