Ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren saß im Gebüsch und beobachtete die anderen Kinder heimlich beim Spielen. Es war nicht nur ein unheimlich niedliches, sondern auch ein wunderschönes Kind mit großen, dunklen Augen und langen, schwarzen Locken; ein elbenschönes, entzückendes kleines Wesen, das scheinbar nur dazu geboren wurde, um bestaunt und geliebt zu werden.
Das Mädchen trug ein kostbares Kleid aus nachtblauem Samt und eine ebenso nachtblaue Schleife, die die vorderen Haarsträhnen hinten zusammenhielt. In der Hand hielt es einen kleinen Stoffesel, an dessen linkem Ohr es schüchtern und abwesend kaute.
Es wartete auf jemanden und gleichzeitig versteckte es sich. Aber es wartete. Es hoffte mit aller Kraft, gefunden zu werden, aber es fürchtete sich auch davor. Manchmal begann die Hoffnung zu schwinden und dann schluchzte es, dann aber kam ihm der Gedanke, dass es ja nicht sein konnte, dass nicht irgendjemand es irgendwann finden würde, und es harrte entschlossen weiter aus.
Stunden vergingen, aber niemand kam.
Ein kleines Mädchen saß in seinem Versteck und weinte.
Éomer spürte, wie ihm allmählich die Augen schmerzten. Die Wörter auf dem Pergament verschwammen zu grauen Linien, tanzten herum und stachen ihm erbarmungslos in die entzündeten Augen. Aber er musste das jetzt durchkriegen, sonst würde sich die ganze Arbeit aufschieben, dann würde er es nicht mehr rechtzeitig schaffen, dann... Die Kette endete damit, dass er sich dann als schlechter König entpuppte, der es nicht auf die Reihe brachte, sein vom Ringkrieg zerstörtes Königreich wieder auf die Beine zu stellen. Aufgeben durfte er nicht und ebenso wenig seine Arbeit auf später schieben. Es wäre auch zu schön, wenn seine realen Möglichkeiten den Anforderungen entsprächen...
Plötzlich flog die Tür auf und eine wütende Lothíriel stampfte herein. Für gewöhnlich war sie ja eine perfekte Dame, aber wenn sie zornig wurde, verwandelte sie sich in etwas Furchtbares. Ihr Bruder Amrothos hatte ihm erzählt, dass sie während des Ringkriegs im Alter von nur neunzehn Jahren das Oberkommando über Dol Amroth innegehabt hatte, während ihr Vater und ihre Brüder entweder Minas Tirith zu Hilfe geeilt waren oder gegen Korsaren kämpften. Die Stadt war häufig Korsarenangriffen und anderen Krisen des Krieges ausgesetzt gewesen, doch unter Lothíriels Führung hatte sie den Krieg heil überstanden. Dabei sollte sie eine solche Autorität gewesen sein, dass selbst die tapfersten Männer vor ihr Angst gehabt und ihr widerspruchslos gehorcht hatten, obwohl manche ihre Fähigkeiten durchaus angezweifelt hatten, weil sie eine Frau war.
Seit er mit ihr verheiratet war, erfuhr Éomer immer wieder am eigenen Leib, dass diese Geschichte pure Wahrheit war. Wie es ihre Stellung als Königin Rohans und Herrin von Meduseld verlangte, hatte sie die Verwaltung in die Hand genommen und selbst große Krieger, die sich während des Ringkriegs unerschrocken in jede Schlacht gestürzt hatten, näherten sich ihr nur schüchtern auf Zehenspitzen. Irgendwie konnte sich Éomer nicht den Gedanken verkneifen, dass er völlig ahnungslos einen richtigen Drachen geheiratet hatte.
"Du sitzt ja schon wieder im Halbdunkeln!", stellte sie knurrend fest und bedachte ihn mit einem so bösen Blick, dass er ernsthaft das Gefühl bekam, sie würde ihn jeden Moment mit Haut und Haaren fressen. "Du bist König und ein König hat sich zu schonen, wie oft soll ich das noch sagen? Wenn du blind wirst, hilfst das Rohan auch nicht sehr viel."
Éomer wusste aus Erfahrung, dass Widerstand nicht nur zwecklos war, sondern nur noch mehr Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Also schwieg er verbissen und wusste genau, dass sie irgendwo recht hatte, dass er abends gefälligst Licht anmachen sollte, um seine Augen wenigstens ein kleines bisschen zu schonen, dass er Pausen einlegen sollte, dass er... Diese Predigt hielt sie ihm täglich! Und täglich ließ er sie still über sich ergehen, um gleich am nächsten Tag die Pausen und das Licht vor lauter Arbeit völlig zu vergessen.
"Und sieh dich an, in dem Zustand kannst du doch nicht regieren! So, das reicht jetzt! Raus! Raus hier!"
Das war etwas Neues. Éomer schaute auf und begegnete dem lodernden Blick in Lothíriels dunklen Augen.
"Raus!", kommandierte sie erneut, als er sich nicht rührte. "Ins Bett!"
"Es ist nicht einmal dunkel", grummelte er.
"Darauf kommt es nicht an! Du bist König und für einen König ist es verantwortungslos, sich so zugrunde zu richten!"
Etwas war an Lothíriel, das ihn zu Gehorsam zwang. Nicht in seinen schlimmsten Träumen hätte er sich vorgestellt, dass er, ein stolzer Marschall der Riddermark und König, den Befehlen einer Frau Folge leisten würde. Immerhin war in Rohan das Gegenteil üblich und dass ausgerechtet der König... Lothíriel war in der Tat ein Drache.
Sobald er sich widerwillig aus der Schreibstube geschleppt hatte, wartete auf ihn schon die nächste Überraschung, denn Lothíriel nahm den Schlüssel an sich und schloss den Raum ab.
"Und du kommst da nicht rein, ehe ich es dir erlaube", bellte sie und ließ den Schlüssel in ihrem Dekolleté verschwinden.
'Ein Drache', kreiste es in Éomers Kopf, während er dem Schlüssel bestürzt nachblickte. Allein Ilúvatar wusste, wann er wieder zu seinen Papieren gelangen würde, und Rohan wartete nicht...
"Was stehst du noch rum?" Ihr tödlicher Blick versengte sein gesamtes Dasein. "Ins Bett!"
Etwas anderes blieb ihm wohl nicht übrig. Zerschlagen, zerschmettert und zerschellt, ein kleines Häufchen Elend von einem König, begab er sich in sein Schlafgemach. Nicht, dass er Lothíriel nicht liebte... Aber damals war er auf ihre Schönheit ganz schön reingefallen. Jetzt, sieben Monate seit der Hochzeit, war er sich nicht einmal sicher, was er für sie empfand. Wenn er sich selbst die Frage stellte, ob er sie vielleicht nicht mehr liebte, lautete die Antwort eindeutig "Nein". Aber sie hatte ihn mit ihrer Art so erschlagen, dass er sich immer noch nicht erholt hatte.
Ob sie ihn liebte, brauchte er dagegen niemanden zu fragen. Bei ihrer Verlobung hatte sie ihm klar und deutlich gesagt, dass er mit ihrer Liebe nicht zu rechnen brauche und dass sie ihn nur aus Pflichtgefühl heirate und weil sie zu dem Schluss gekommen war, dass er von all ihren Werbern das geringste Übel sei. Die Hochzeit war alles andere als fröhlich gewesen. Überhaupt hätte er sie nach ihrer Erklärung nicht heiraten sollen.
Mit angehaltenem Atem blickte Éomer durch den Saal und staunte darüber, dass eine solche Schönheit menschlich sein konnte. Er hatte sich einmal mit dem Zwerg Gimli gestritten, weil er nicht hatte an die Schönheit der Elbenfürstin Galadriel glauben wollen. Und als das schönste Wesen von Mittelerde hatte er sie nicht einmal dann anerkannt, als er sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Denn das schönste Wesen von Mittelerde war für ihn Arwen Undómiel, doch blieb seine Verehrung der Königin Gondors bei der bloßen Bewunderung ihrer elbischen Schönheit. Die Schöne am anderen Ende des Saals dagegen... Sie war ein Mensch und hatte dennoch die Schönheit einer Elbin.
Mit angehaltenem Atem blickte Éomer durch den Saal und staunte darüber, dass eine solche Schönheit menschlich sein konnte. Er hatte sich einmal mit dem Zwerg Gimli gestritten, weil er nicht hatte an die Schönheit der Elbenfürstin Galadriel glauben wollen. Und als das schönste Wesen von Mittelerde hatte er sie nicht einmal dann anerkannt, als er sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Denn das schönste Wesen von Mittelerde war für ihn Arwen Undómiel, doch blieb seine Verehrung der Königin Gondors bei der bloßen Bewunderung ihrer elbischen Schönheit. Die Schöne am anderen Ende des Saals dagegen... Sie war ein Mensch und hatte dennoch die Schönheit einer Elbin.
Er sah sie nun zum zweiten Mal in seinem Leben. Gesprochen hatte er mit ihr noch nie. In seinen Gedanken war sie stets die unerreichbare, ferne Gestalt am anderen Ende des Saals, die ausgerechnet immer dann verschwand, wenn er sich ihr nähern wollte, sodass er sich allmählich fragte, ob sie nicht bloß Einbildung war. Doch das Zusammentreffen mit dem Fürsten von Dol Amroth vor genau einem Jahr hatte ihn eines Besseren belehrt. Damals, bei der alljährlichen Feier anlässlich des Sieges über Mordor, hatte der Fürst ihm seine Söhne Elphir, Erchirion und Amrothos vorgestellt und bedauert, dass seine Tochter Lothíriel, die er ebenfalls hatte vorstellen wollen, sich nicht wohl fühle und sich deswegen von der Feier zurückgezogen habe. Genau an jenem Tag hatte er sie zum ersten Mal gesehen, nur für einige Augenblicke, er hatte beobachtet, wie sie ganz allein die Halle verlassen hatte. Und als Imrahil Lothíriel erwähnte, hatte er sofort an sie denken müssen.
An diesem Tage jedoch hatte sie die Halle nicht verlassen und Éomer, den die Erinnerung an sie das ganze Jahr über nicht in Ruhe gelassen hatte, jagte ihr so gut er konnte hinterher, um sich auf gute rohirrische Manier vorzustellen und ihren Namen zu erfahren. Nur klappte das nicht so gut, wenn man König war, denn zig gondorische Fürsten und andere Höhergestellte waren versessen darauf, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. An diesem Abend hatte er sie alle schon zig tausend mal verdammt, seinen Königstitel gleich noch dazu, der ihn daran hinderte, ungestört die Frau kennenzulernen, deren Anblick ihn so bannte.
Diesmal beschloss er, auf jede Höflichkeit zu pfeifen und gleich einem Rammbock direkt durch den Saal zu marschieren, ohne auf irgendjemanden zu achten. Er holte tief Luft wie vor einem Sprung in eiskaltes Wasser und durchquerte mit großen Schritten die Halle. Doch er übersah eine schnatternde Gruppe, die sich genau mitten durch sein Blickfeld bewegte und den Blick auf sein Ziel kurz versperrte. Als die Gruppe wieder weg war, war aber auch die Schöne verschwunden.
Sie alle hatten sich verschworen, eindeutig!! Éomer wollte schreien, sämtlichen Schuldigen den Hals umdrehen, sich die Haare ausreißen... Köchelnd und brodelnd schlich er heimlich hinter eine Säule und schlug seinen Kopf dagegen. Und während er seine Stirn noch gegen den kühlen Marmor gedrückt hielt, begann er vor lauter Bitterkeit zu lachen. Sie hatten sich wirklich verschworen... Ganz Gondor hatte sich vor der Feier versammelt und darüber beraten, wie man ihn daran hindern sollte, sie anzusprechen. Wenn das so weiterging, würde er doch tatsächlich das Heer Rohans zusammentrommeln, die Halle mit Gewalt einnehmen und nach der Schönen durchwühlen lassen. Wenn sich Gondor gegen ihn verschworen hatte, dann würde er sich gegen Gondor verschwören!
"Éomer! Du - du wirkst so..."
Éowyns Stimme.
"Gondor hat sich gegen mich verschworen", grummelte er böse.
"Éomer!", rief seine Schwester entsetzt und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Er sah sie gequält an. "Ich hätte nicht gedacht, dass man an einem Tag so viel Unglück haben kann..."
Kurz und knapp schilderte er sein Pech. Er vertraute seiner Schwester und nicht zuletzt war sie mit Faramir verheiratet, der, wenn die Schöne tatsächlich Lothíriel von Dol Amroth war, immerhin nicht nur der Vetter seiner Angebeteten war, sondern auch sein Schwager, also die perfekte Brücke...
"Das war nicht Unglück, sondern ungeheures Glück, lieber Bruder", sagte Éowyn zu seiner tiefsten Verwunderung lachend. "Wenn du sie tatsächlich einfach angesprochen hättest, wie du es mit einer rohirrischen Frau tun würdest, hätte sie dich für einen Rüpel gehalten."
Éomer wollte sich lieber nicht ausmalen, wie dumm er in dem Moment dreinschaute.
"Du solltest nämlich wissen, dass die Gondorrim sehr... in sich gekehrt sind. Man spricht jemanden nicht einfach so ohne Anlass an, insbesondere wenn du ein Mann bist und sie eine Frau."
Der König von Rohan glotzte. "Reicht es denn nicht als Anlass, dass ich sie kennenlernen will?"
Die Antwort war so kurz und simpel wie unmissverständlich: "Nein."
"Aber warum?!"
"Weil du ein Mann bist und sie eine Frau. Hier in Gondor ist es unhöflich, jemanden anzusprechen, den man nicht kennt. Man muss vorgestellt werden. Entweder man hat Glück und hat gemeinsame Bekannte oder man sucht eben Bekannte von Bekannten von Bekannten und arbeitet die gesamte Kette durch. Du hast Glück und bist mit ihr gewissermaßen verschwägert. Also gibt es auch einen Grund, wieso ich euch beide einander vorstellen sollte."
Alles Gute und Schöne der Welt kam auf Éomer herabgestürzt, ein unfassbares Glücksgefühl erfüllte ihn, mit einem Mal war nichts mehr unmöglich...
"Allerdings muss ich dich warnen", sagte Éowyn vollkommen ernst. "Sie ist ein wenig... merkwürdig. Reserviert... Ja, ich glaube, das trifft es. Sie kommt niemandem zu nahe, niemand kommt ihr zu nahe und du weißt bei ihr nie, was sie von dir denkt. Sie lächelt nie, ist irgendwie verkrampft, spricht wenig. Kalt, unnahbar, mit dem unbeweglichen Gesicht einer Statue. Als wir uns vorgestellt wurden, hat sie immer an mir vorbeigesehen und nur völlig emotionslose Phrasen gestanzt wie 'Es freut mich', 'Es ist mir eine Ehre' und so weiter. Zunächst dachte ich, sie würde mich hassen, aber dann meinte Faramir, ich hätte auf sie großen Eindruck gemacht und dass sie es kaum erwarten könne, mich wiederzusehen. Als wir uns zum zweiten Mal begegnet sind, hat sie sich irgendwie panisch ihre Saphirkette vom Hals gerissen und mir in die Hände gedrückt und dann etwas wie ein Lächeln hervorgequält, zumindest glaube ich, dass es ein Lächeln sein sollte. Furchtbar. Und immer, wenn sich unsere Wege kreuzen, will sie mich besuchen und mit mir 'sprechen', spricht aber nie. Ich versuche dann immer höflich zu sein und sauge mir allerlei Fragen aus den Fingern. Wie geht es ihr? Was hat sie heute gemacht? Was will sie morgen machen? Wie ist das Wetter in Dol Amroth? Sie antwortet immer knapp, als wollte sie das Gespräch schnell beenden. Und nachher schwärmt sie Faramir vor, was für ein schönes Gespräch wir hatten."
Éomer wusste nicht, was er denken und fühlen sollte. Er starrte seine Schwester nur an.
"Sie hat mit Faramir ein sehr inniges Verhältnis. Er weiß selbst nicht, wieso, aber sie hängt sehr an ihm. Wie er sagt, ist sie in seiner Gegenwart auch etwas lebendiger. Er erklärt es damit, dass sie sehr schüchtern und oft unfähig ist, ihre Gefühle zu äußern. Aber wie erklärt er es dann, dass sie während des Ringkriegs ganz Dol Amroth in einem eisernen Griff hatte? Lothíriel ist wirklich sonderbar. Aber wenn du unbedingt willst, kann ich euch einander ja trotzdem vorstellen. Es wird auch Zeit, schließlich bist du ja der König von Rohan und es ist schon fast Unsitte, dass sie dir immer noch nicht vorgestellt wurde."
Es handelte sich wirklich um Lothíriel, das wusste Éomer nun. Amrothos hatte ihm bereits vor einem Jahr von der Verteidigung von Dol Amroth unter ihrem Oberbefehl erzählt und das hatte ihn tatsächlich ein wenig verwirrt, denn er hatte sie ganz anders erlebt. Zwar staunte er zunächst über Éowyns Erzählung, fand nach einigem Überlegen aber, dass es passte. Eine Feier war eigentlich etwas Fröhliches, aber Lothíriel war nicht fröhlich, sie stand nur da am anderen Ende des Saals und schaute zu, wie die anderen sich amüsierten. Sie sprach mit niemandem, lachte nicht, ging alleine zwischen den Menschen umher, als wäre sie eine Fremde. Doch statt ihn abzuschrecken, weckte diese Beobachtung nur seine Neugier. Es interessierte ihn plötzlich ungemein, was im Kopf dieses Menschen vor sich ging, wie ihr Inneres aussah. Mit einem Mal wirkte sie auf ihn mysteriöser als je zuvor.
"Wer hat sich eigentlich diesen Mist mit dem Vorstellen ausgedacht?", grummelte er leise, als sie sich unauffällig und gemächlich durch die Halle bewegten, um das Zusammentreffen mit Lothíriel möglichst zufällig wirken zu lassen. "Das erschwert alles doch nur!"
"Das sagst du, weil du ein Rohir bist", erklärte Éowyn geduldig. "Und die Gondorrim sind, wie ich bereits sagte, sehr in sich gekehrt. Und schüchtern. Wahrscheinlich gilt es deswegen als unhöflich, jemanden einfach so anzusprechen, weil sie sich schlicht und einfach nicht trauen. Die vielen Regeln scheinen es ihnen zu erleichtern, ihre Zuneigung zu jemandem auszudrücken. Sie sind nicht mutig genug, um bei solchen Angelegenheiten die Sache komplett selbst in die Hand zu nehmen."
"Versuche mal einer das zu verstehen...", seufzte Éomer.
Éowyn nickte. "Ich habe auch einige Zeit gebraucht und einige von ihnen scheinen mich immer noch für eine Wilde zu halten. Aber das wird schon." Sie lächelte zuversichtlich und steuerte nun ganz direkt auf Lothíriel zu, was Éomers Herz höher schlagen ließ.
"Liebe Schwägerin!", rief Éowyn der Fürstentochter begeistert zu. "Ich habe es heute doch tatsächlich versäumt, Euch zu begrüßen! Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen!"
Lothíriels Miene blieb steinern und sie schaute mit einer gewissen Verbissenheit zu Boden.
"Natürlich", sagte sie vollkommen emotionslos. "Es freut mich, Euch zu sehen, liebe Schwägerin."
Éomer konnte seiner Schwester ansehen, wie entschlossen sie ihr strahlendes Grinsen aufrechtzuerhalten versuchte.
"Ich habe übrigens gerade zufällig erfahren, dass Ihr meinem Bruder noch gar nicht vorgestellt wurdet, dabei ist er der König von Rohan! Darf ich dieses Versäumnis nachholen?"
"Ja."
"Also dann..." Éowyn wandte sich nun mit offizieller Miene zu Éomer. "Hoher König, bitte erlaubt mir, Euch meine Schwägerin Lothíriel von Dol Amroth vorzustellen."
Éomer deutete mit dem Kopf höflich eine Verbeugung an. Eine richtige Verbeugung war für ihn als König natürlich nicht angebracht. Lothíriel kam ebenfalls den Forderungen der Höflichkeit nach und sank schön und anmutig in einen tiefen Hofknicks, wie es in Gondor üblich war. Éomer stockte fast der Atem, als er über die Perfektion dieser Bewegung staunte. Wie leicht Lothíriel es machte, wie elegant sie ihren Nacken geneigt hielt, wie gerade ihr Rücken war; in diesem Moment stellte Lothíriel für ihn die personifizierte Vollkommenheit dar.
"Es ist mir eine Ehre." Ihre kühle, monotone Stimme holte ihn jäh in die Wirklichkeit zurück. Zwar schien sie ihn anzuschauen, doch ihr Blick war glasig.
"Ich möchte Euch gegenüber ehrlich sein, König Éomer."
Sie hatte noch nichts gesagt, doch er fühlte bereits den Weltuntergang heranrücken. Sie brauchte nichts zu sagen, um ihm klarzumachen, dass sie ihn nicht liebte.
"Ihr seid nicht der erste, von dem ich höre, wie schön ich bin. Und Ihr seid auch längst nicht der erste, der um meine Hand anhält. Aber im Gegensatz zu den anderen werde ich Euch nicht abweisen. Doch ich möchte, dass Ihr wisst, dass dies nicht aus Liebe geschieht. Ich heirate, weil ich in meinem Alter heiraten muss, um meinen Vater nicht bloßzustellen. Euch habe ich nicht nur deswegen ausgewählt, weil unsere Vermählung die Bande zwischen Rohan und Gondor stärken wird, sondern auch weil ich niemanden von meinen Werbern liebe und wenn ich schon eine Ehe mit einem ungeliebten Menschen eingehe, so möchte ich ihn wenigstens respektieren. Ich habe viel Gutes über Euch gehört und mich von vielem davon während unserer Bekanntschaft überzeugt. Ich kann Euch mit Sicherheit sagen, dass ich Euch nie lieben werde, aber einen ehrenwerten Menschen wie Euch zu heiraten ist immerhin besser als jemanden, von dem ich weiß, dass ich ihn verachten werde."
Abgesehen von ihren Verwandlungen in einen Drachen war es das erste und letzte Mal gewesen, dass er sie mehr oder weniger lebendig gesehen hatte. Ihr Blick war klar gewesen, aber ihre Stimme wie immer kalt und nüchtern, sodass sie sich in unbarmherziger Kombination mit dem Ausgesprochenen kälter, abweisender und niederschmetternder denn je angefühlt hatte. Lothíriels Emotionslosigkeit hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Er erinnerte sich, wie sehr er sich gewünscht hatte, dass sie ihm wenigstens Hass bekundete. Doch nein. Sie hatte nicht das schlimmste Gefühl an ihn verschwendet. Als wäre er kein Mensch, als wollte er sich nicht in anderen Menschen wiedergespiegelt sehen, als redete sie mit einem Ding. Er zählte diese Szene zu den fürchterlichsten in seinem gesamten Leben.
Er hätte sie nicht heiraten sollen, das wurde ihm mal wieder bewusst. Müde setzte er sich auf und staunte nicht darüber, dass er sich trotz des Schlafs immer noch zerschlagen und elend fühlte. Und ihm wurde noch elender zumute, als er sich an die Szene am Abend zuvor erinnerte und vor allem an die Berge von Arbeit, die auf ihn warteten. Alle Farben erschienen ihm irgendwie grau und verschwommen, eine nie endende graue Welt, die nur aus Fehlern bestand, seinen Fehlern, eine graue Welt, der man nicht einmal durch Tod entfliehen konnte.
Nur mit Mühe verdrängte er diese düsteren Gedanken und zwang sich, in sein Arbeitszimmer zu gehen. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zwang er sich zum Weiterleben. Eine Welt, die nur aus Fehlern bestand. In einer Welt, in der alles richtig war, wäre immer noch Théoden König gewesen oder sein Sohn Théodred. Dass in dieser Welt Éomer König war, war ein Fehler. Er war nie dazu bestimmt gewesen, König zu sein. Daher hatte er das Lesen und Schreiben auch erst nach dem Ringkrieg gelernt und dass er es wirklich beherrschte, konnte er immer noch nicht behaupten, schließlich musste er viel zu oft nachschauen, wie der ein oder andere Buchstabe geschrieben wurde. Daraus resultierte, dass seine Arbeitsgeschwindigkeit nicht besonders hoch war. Und wenn er nicht bald Fortschritte machte, würde er seiner Arbeit gar nicht mehr hinterherkommen.
Es war auch sein Fehler, dass er den Anforderungen nicht gewachsen war, denn das hatte er nicht bedacht, als beschlossen hatte, Rohan nach gondorischem Vorbild zu reformieren. Vor allem, was die Gesetze anging. Rohan hatte nämlich nie über eine richtige Gesetzgebung verfügt, es hatte jahrhundertelang das Gewohnheitsrecht gewirkt. Was in der einen oder anderen Situation zu tun sei, hatte man durch einen Blick in die Vergangenheit entschieden, weswegen die Verhältnisse in verschiedenen Teilen des Reiches variierten. Und nun war Éomer dabei, Rohan eine richtige Verfassung zu geben, ein Gesetzbuch, das in ganz Rohan wirksam sein würde. Das würde nicht nur seine königliche Macht stärken, sondern vor allem auf das Reich stabilisierend und vereinheitlichend wirken. Die Idee an sich war ja nicht schlecht, da war sich Éomer sicher, bloß hatte er nicht bedacht, dass ein halber Analphabet sich nicht so gut als König eines solchen Reiches eignete.
Plötzlich erwischte er sich dabei, wie er sich im Stillen wünschte, dass die Tür zu seinem Arbeitszimmer immer noch abgeschlossen war. Wie er sich im Stillen wünschte, endlich endgültig zu versagen, damit diese Tortur wenigstens ein Ende fand. Und so fühlte er etwas Bleischweres in seiner Brust, als er feststellte, dass die Tür offen war.
Doch wartete hinter der Tür etwas, das ihm seine düsteren Gedanken tatsächlich für einige Zeit aus dem Kopf schlug. Kaum war er eingetreten, schon eilte ihm sein Schreiber in Umarmung mit einer riesigen Anzahl von Schriftrollen entgegen.
"Das sind Notverordnungen, die mir die Königin diktiert hat", rapportierte er. "Bevor die Verfassung fertig ist, könne das hier vielleicht gelten, meinte sie. Ich soll Euch ihre Bitte ausrichten, ihre Vorschläge zu lesen!"
Éomer hatte nicht viel Zeit, innerlich über noch mehr Lesestoff zu stöhnen, denn als der Schreiber Lothíriels Vorschläge vorzulesen begann, wurde ihm klar, dass diese Notverordnungen nicht geprüft zu werden brauchten, denn sie bildeten in sich ein System, das, wie er vermutete, sich wohl schon in Dol Amroth während des Ringkriegs bewährt hatte. Lothíriel hatte sich sagen lassen, wie viel Nahrung Rohan gerade produzieren konnte, sie hatte ein System diktiert, wie diese mangelnde Nahrung auf die Bevölkerung verteilt werden sollte, wer mehr und wer weniger zu bekommen hatte, sie hatte mit Hilfe von Karten und Landbeschreibungen Transportwege für die gleichmäßige Versorgung der gesamten Bevölkerung festlegen lassen, sie hatte bestimmt, wie viel Macht die Adeligen gegenüber ihren Untergebenen und wie viel Verantwortung gegenüber dem König hatten, in welcher Reihenfolge die Festungen wiederaufgebaut werden mussten... Der Ringkrieg war seit zweieinhalb Jahren zu Ende und Rohan bestand immer noch aus Chaos, da sich jedes Dorf aufgrund der mangelhaften Verbindung mit dem Rest des Reiches auf eigene Faust durchschlug, wie es schon immer gewesen war. Lothíriel dagegen hatte ein von Edoras aus gesteuertes System des Wiederaufbaus vorgeschlagen, hatte bestimmt, wo Straßen gebaut oder repariert werden sollten, sie wollte alle Adeligen in die Hauptstadt bestellen, um sie mit ihrem System bekannt zu machen, sie wollte Gesandte in den einzelnen Provinzen nach dem Rechten sehen lassen... Dieses Wiederaufbausystem war eine Vorstufe zu dem Staat, den Éomer auf die Beine stellen wollte.
Er selbst hätte ein solches System einfach so über Nacht nicht hingekriegt und keiner der Rohirrim, denn was Lothíriel da aus Gondor mitgebracht hatte, war in Rohan völlig unbekannt, ohne sie hätte es jahrelang ausgearbeitet werden müssen. Sie dagegen hatte die Notsysteme Gondors übernommen und sie einfach den Bedingungen in Rohan angepasst.
Éomer unterschrieb die Urkunden ohne zu zögern und ließ sich einige Gesetztes- und Korrekturvorschläge Lothíriels vorlesen und ihre Argumente aufzählen. Sie hatte Erfahrung. Sie hatte die juristische Erfahrung Gondors. Sie wusste, welche Gesetze welche Folgen hatten, wie sie miteinander kombinierbar waren, sie verfügte über alles Wissen, das Éomer fehlte und das er sich während seiner Arbeit anzueignen versuchte. Im Gegensatz zu ihm war sie nämlich sehr gelehrt, beherrschte Adûnaïsch, Sindarin und Quenya, konnte Rohirrisch mittlerweile nur mit einem leichten Akzent, wusste viele Heldenlieder auswendig, konnte die Geschichte von Mittelerde jeden Moment mit allen Details wiedergeben, kannte die Schriften gondorischer Gelehrter, die verschiedene Verfassungen verglichen hatten, kannte die Sitten und Bräuche vieler Völker und nicht zuletzt konnte sie von klein auf ausgezeichnet lesen und schreiben. Sie sollte Rohan regieren, sie war viel besser dazu geeignet. Éomer war zwar ein guter Feldherr, doch waren in Nachkriegszeiten andere Qualitäten gefragt. Lothíriel verfügte über sie. Sie war perfekt.
Ja, abgesehen von ihrer sonderbaren, emotionslosen Art war Lothíriel die Vollkommenheit in Person.
'Wo ist sie eigentlich?', fragte er sich plötzlich. Sie hatte jede Menge Arbeit hinter sich, ein Selbstopfer für ihn. Sie musste sehr erschöpft sein. Doch spürte er das dringende Verlangen, mit ihr zu sprechen. Er wusste nicht, was er ihr überhaupt sagen wollte, aber er wollte reden. Dinge klarstellen. Danken. Fragen. Sich über sie ärgern. Sie bewundern. Vor ihr fliehen. Eine sonderbare Mischung aus allem, wovon er teilweise nicht wusste, wo es überhaupt herkam, was es zu bedeuten hatte, wieso er es fühlte. Er wollte reden.
Die Arbeit konnte warten. Sein Verlangen nicht. Nachdem er all ihre Vorschläge abgesegnet hatte, entließ er seinen Schreiber für den Rest des Tages und machte sich auf den Weg in Lothíriels Privatgemächer. Getrennte Schlafzimmer waren in Rohan selbst in den höchsten Kreisen unüblich, doch Lothíriel wurde eine Ausnahme gewährt. Nicht nur deswegen, weil es im Hochadel Gondors Sitte war, sondern auch weil Éomer nun mal den Fehler gemacht hatte sie zu heiraten und nicht den noch größeren Fehler machen wollte, ihr nicht nur auf rechtlicher Ebene zu nahe zu kommen. Eigentlich hätte es nach rohirrischem Brauch eine Hochzeitsnacht im Beisein von Zeugen geben müssen, die die Erfüllung der Ehepflichten sicherzustellen hatten, aber Éomer hatte durchsetzen können, dass diese aus gondorischer Sicht barbarische Tradition ihm und vor allem der Königin erspart blieb. Immerhin... Ja, er musste sich gestehen, er wollte manchmal, fühlte sich jedoch verpflichtet, Lothíriel die Treue zu halten, wollte aber nicht den Fehler begehen, sie anzurühren. Seit sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn nicht liebte, wusste er ganz genau, dass er sie nicht anfassen durfte. Seit der Hochzeit hatte er sie auch tatsächlich im buchstäblichen Sinne nicht vorsätzlich angefasst und wenn es doch zu einer zufälligen Berührung gekommen war, hatte er sich jedes Mal entschuldigt.
Diese Fremdheit... Schon sieben Monate zehrte sie an ihm. Er wollte Klarheit. So konnte es nicht mehr weitergehen. Es musste eine Entscheidung gefällt werden. Ein für alle Mal. Klarheit.
Er stand nun vor der Tür zu ihrem Schlafgemach. Er hatte niemanden ausgesandt, um sie von seinem Besuch in Kenntnis zu setzen, und er wusste nicht, ob sie wirklich dort drin war.
Er verharrte regungslos, jedoch nicht unschlüssig. Vielmehr wartete er, sammelte sich, lauerte auf einen günstigen Moment in seinem Inneren, um über die Schwelle der Fremdheit zu treten. Klarheit. Nicht mehr und nicht weniger.
Ohne zu klopfen trat er ein.
Es war das erste Mal seit Lothíriels Einzug in Meduseld, dass er diesen Raum von innen sah. Und die Privatgemächer einer Königin - noch dazu einer solchen Perfektion wie Lothíriel - hatte er sich ganz anders vorgestellt. Mit Schränken und Truhen schien die hohe Dame nämlich nicht viel anzufangen zu wissen, Kleidung, Zettel, Schmuck, Schuhe, Federn, Tinte, Taschen, Kissen, Decken, Mäntel, Kerzen, Lampen, Kämme, Spangen, Broschen, Essensreste und sogar ein paar alte Spielsachen verteilten sich in friedlichen Ozeanwellen über den Fußboden. Die lichtundurchlässigen Vorhänge waren fest zugezogen und das spärliche Tageslicht sickerte blendend durch den Spalt zwischen ihnen. Es war stickig und muffig, als wäre hier in den letzten sieben Monaten nicht gelüftet worden. Éomer grauste es davor, wie dämlich er in diesem Augenblick guckte.
Als er sich wieder besann, ging es um Leben und Tod: Nahezu panisch stürzte er zum Fenster und riss es auf. Grelles Licht flutete in den Raum und brachte Luft mit, herrlich frische, lebensspendende Luft, die er genüsslich ein- und ausatmete.
Bis er spürte - nicht hörte, sondern spürte -, dass sich links hinter ihm etwas rührte. Jäh wandte er sich um und starrte auf die Stelle, wo er die Bewegung vermutete. Und entdeckte, dass einer der vielen undefinierbaren Knäule, mit denen das Zimmer übersät war, ein Lebewesen war. Es war keine Frau, keine Königin, es war ein kleines Mädchen, das mit angezogenen Beinen auf dem Boden saß und weinte.
Für einige Augenblicke starrte Éomer dieses Wesen einfach nur an. Seine Ehefrau. Die Königin Rohans. Der Drache. Ein kleines, hilfloses Wesen, das Angst hatte. Und von einem Moment auf den anderen begriff er, warum er sie nie hatte anfassen dürfen.
Und er begriff auch, warum er einige Zeit gebraucht hatte, um einzutreten. Sein Unterbewusstsein hatte geahnt, was er vorfinden würde, auch wenn es für ihn nun eine Überraschung war. Er war tatsächlich über die Schwelle getreten.
Das Wesen beachtete ihn nicht, schien ihn nicht einmal bemerkt zu haben. Oder vielmehr: Es war ihm egal, dass er eingetreten war, es war ihm alles egal. Es kauerte nur da und weinte.
Langsam und allmählich kehrte sein Denken wieder. In seinem Kopf arbeitete es. Was nun? Was war zu tun? Lothíriel ging es offenbar sehr schlecht und das schon seit einer Weile, vielleicht schon seit vielen Jahren. Und er wusste es.
Er wusste nicht, was es war, er kannte nicht die Ursache, aber die Dinge standen nun mal so, dass Lothíriel hier außer ihm nur Untertanen hatte und bei ihrem Charakter natürlich keine Freunde. Sie war allein und trotz aller Fremdheit war er ihr Ehemann, also war er derjenige, der ihr am nächsten stand. Ob es ihr gefiel oder nicht, war er der einzige, den sie hier hatte. Und wenn er sie im Stich ließ, würde ihr niemand helfen, niemand würde auch nur bemerken, dass sie Hilfe brauchte. Wenn er sich selbst nach dieser Szene noch unter die Augen trauen wollte, dann hatte er keine Wahl.
Behutsam kniete er sich ihr schräg gegenüber nieder und sprach so leise und vorsichtig er konnte: "Hasst du mich?"
Ihr Gesicht zuckte nach oben und sie starrte ihn mit geröteten und vor Entsetzen geweiteten Augen an. Einige Momente Stille, dann...
"Ich bin so dumm! Es tut mir leid! Ich bin so... Es ist meine Schuld! Ach, das ist unverzeihlich! Jetzt denkst du, ich würde dich hassen! Das ist alles meine Schuld! Ich war so furchtbar zu dir! Ich bin einfach zu allen furchtbar! Ich muss wirklich unerträglich sein! Entschuldige, Éomer, bitte verzeih mir, wenn du kannst! Ich..."
Éomer brauchte einige Augenblicke, um sich von seinem Schreck durch ihr plötzliches Geschrei zu erholen. Und zu verstehen, dass er ihren Wortschwall an sich vorbeirauschen lassen konnte, dass sie ihn nicht hasste und ihm somit die Erlaubnis gab, die Schwelle noch weiter hinter sich zu lassen, auf sie zuzugehen. Er umarmte sie zärtlich wie eine kleine Schwester, drückte sie an sich und brachte sie zum Schweigen.
Er staunte, wie schnell Lothíriel sich ihm ergab. Fast so, als hätte sie nur darauf gewartet, umarmt zu werden. Sie wehrte sich nicht und ihre stummen Tränen wurden nach einer Weile sogar zu einem Schluchzen.
"Ich mache dir Umstände", brachte sie irgendwann zwischen ihren Schluchzern hervor. "Es tut mir leid."
Er ließ sie kurz los und starrte sie verständnislos an. "Umstände?"
"Ich mische mich doch in deine Angelegenheiten ein. Erst die Sache mit dem Licht und dann noch meine ganzen Vorschläge. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist. Ich wollte nützlich sein, aber eigentlich war das doch sehr töricht und kindisch. Ich mische mich in Dinge ein, die gar nicht meine Pflicht sind. Ich mache alles nur kaputt. Bitte entschuldige, dass ich nerve. Das wird nicht wieder vorkommen."
Éomer sprangen vor lauter Empörung fast die Augen aus dem Kopf. "Spinnst du?! Du hast Rohan gerettet und behauptest noch, dass du dich nicht einmischen darfst! Du bist zum Regieren doch viel geeigneter als ich! Wie kommst du auf diesen Schwachsinn?"
"Tut mir leid, dass ich so dumm bin", lispelte sie niedergeschmettert.
Der König konnte nicht mehr und spürte das brennende Verlangen, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Lothíriels Art machte ihn wirklich wütend und er war kein Mensch, der seine Gefühle im Zaum halten konnte.
"Jetzt hör auf, dich zu entschuldigen!", brüllte er und schüttelte sie. "Du bist wie du bist und das ist kein Verbrechen! Wie kommt ihr Gondorrim eigentlich immer auf solch stumpfsinnigen Mist? Das macht einen ja wahnsinnig!"
"Aber ich habe mich schlecht verhalten", flüsterte sie.
"Du hast dich bewundernswert verhalten! Du bist brillant! Rohan braucht Menschen wie dich! Warum zeigst du deine Fertigkeiten erst jetzt?"
"Ich darf doch nicht..."
"Scheiß doch auf die Regeln! Der gondorische Ochse, der sie ausgedacht hat, gehört gehäutet!"
"Aber..."
"Maul halten! Hättest du früher was getan, ginge es Rohan jetzt um Meilen besser! Ist dir überhaupt bewusst, was du angerichtet hast?"
"Es tut mir leid!!"
"HÖR AUF DICH ZU ENTSCHULDIGEN!!"
"J-ja... Entschuldige..."
"S C H N A U Z E !!"
Es war das erste Mal, dass Lothíriel ihn wirklich wütend erlebte, nicht nur bloß verärgert, sondern so außer sich, dass er, so unbeherrscht wie er war, nun endgültig keine Kontrolle mehr über sich hatte. Erschlagen von der Wucht seiner Stimme, drückte sie sich ängstlich gegen die Wand.
Für gewöhnlich beruhigte sich Éomer ebenso rasch wie er aufbrodelte. So auch jetzt. Einige tiefe, knurrende Atemzüge und seine Wut ebbte zurück, als wäre sie nie da gewesen.
"Warum musst du dich auch ständig entschuldigen?", murmelte er eher an sich selbst gewandt. "Weißt du, wie elend du dadurch wirkst? Als ob du glauben würdest, du würdest es nicht verdienen zu leben. Das ist abartig. Wenn das in Gondor normal ist, dann will ich dort nie wieder einen Fuß hinsetzen."
"Das - das ist nur, weil ich ständig das Gefühl habe, etwas falsch zu machen", stammelte Lothíriel schuldbewusst und ängstlich.
"Und das kommt zweifellos von den vielen stumpfsinnigen Regeln und Richtlinien, nach denen ihr lebt", brummte er.
"Aber Regeln müssen sein! Sonst..."
"Selbstständigkeit muss sein! Selbstständigkeit und Verantwortung! Kinder haben sich an Regeln zu halten, weil sie noch nicht wissen, was richtig und was falsch ist! Erwachsene müssen selbst entscheiden, was sie tun! Ihr Gondorrim seid wirklich kindisch. Bei all euren bewundernswerten Eigenschaften seid ihr unglaublich kindisch."
"Aber stell dir doch vor..."
"Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder?", knurrte Éomer dazwischen, ohne sie ausreden zu lassen. "Sag mir doch bitte, wen Regeln glücklich gemacht haben. Du bist wirklich - wirklich wie ein kleines Kind, Lothíriel. Du hast damals nur eine Stadt beschützt und organisiert, ich habe den richtigen Krieg gesehen und da läuft nichts nach Regeln! Nichts! Wenn es um Leben und Tod geht, gibt es keine Regeln! Jeder hat für sich zu entscheiden, was er tut, ob er ehrenhaft und standhaft bleibt oder feige davonkriecht! In dem ganzen Durcheinander ist es keine große Kunst zu desertieren. Regeln haben nur Leute nötig, denen es zu gut geht!"
"Aber Gesetze..."
"Es ist doch immer noch deine Entscheidung, ob du sie befolgst oder nicht! Wenn du sie nicht befolgst, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du störst andere und sie beseitigen dich oder du verlässt das Land und lebst in der Wildnis wie es dir gefällt. Und es gibt Gesetze, deren Befolgung unmenschliche Taten verlangt. Denkst du ernsthaft, dass man sie befolgen sollte? Die Entscheidungen eines erwachsenen Menschen sind eine Sache des Gewissens und der Ehre und Scheiß darauf, was dir vorgeschrieben wird! Du bist frei!"
"Aber es gibt Menschen..."
"...die gegen Gesetze verstoßen und anderen schaden. Doch sie haben weder ein Gewissen noch eine Ehre. Das sind noch Kinder. Wer nicht auf sein Gewissen hören kann, ist unfrei."
"Wenn das die rohirrische Philosophie ist, dann sind meine Vorschläge erst recht Unsinn."
"Du verstehst aber auch wirklich gar nichts! Natürlich braucht man Gesetze, damit ein Staat funktionieren kann, und wenn es gute Gesetze sind, dann wird ein gewissenhafter Mensch sie auch befolgen! Und überhaupt sind Staat und der Einzelne zwei verschiedene Dinge, die man nicht verwechseln darf! Ein Staat ist ein Bund Einzelner, sie sich sozusagen in freier Entscheidung darauf einigen, nach denselben Regeln zu leben, um sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Wer die Regeln nicht befolgen will, wird ausgeschlossen und hat innerhalb des Bundes keine Rechte. So verstehe ich das."
Lothíriel schaute auf und blickte ihn lange und durchdringend an. "Du bist ein wirklich kluger Mensch, Éomer. Man sieht es dir gar nicht an, dass du die Schriften gondorischer Gelehrter nicht gelesen hast. Du verstehst vom Regieren viel mehr als ich. Ich kann nur Regeln aufstellen. Aber du verstehst, was Regeln sind, wozu es sie wirklich gibt."
Stille kehrte ein. Während Éomer das über und über angenehme Kompliment verdaute und geschmeichelt errötete, starrte Lothíriel mit leerem Blick ins Nichts. Sie hatte manchmal diesen Blick, den Blick, als wäre sie gar nicht da, als wäre sie nicht Teil dieser Welt, diesen entrückten, verlorenen Blick.
"Ich habe mein Leben lang nach Regeln, Sitten und Prinzipien gelebt", sagte sie plötzlich leise. "Mit aller Kraft versuchte ich, dem zu entsprechen, was von mir verlangt wurde. Ich bin wirklich kindisch."
Diese Worte rissen Éomer jäh aus seinem Schwelgen.
"Von mir wurde sehr viel verlangt, ich bin ja eine Fürstentochter. Und ich habe immer Angst, etwas falsch zu machen. Ich habe Angst, mit Menschen zu reden, weil ich Angst habe, etwas Falsches zu sagen, sie falsch anzusehen, sie versehentlich zu verletzen. Aber durch meine Art verletze ich die anderen umso mehr, nicht wahr? Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Der - der einzige, bei dem ich nicht so viel Angst habe, ist Faramir. Er ist mein einziger Freund. Er ist viel älter als ich, aber als ich klein war, war er immer für mich da. Ich - ich liebe ihn." Sie schluchzte auf. "Ich weiß, ich darf das nicht, weil er mein Vetter ist, aber ich glaube, er ist der einzige, der sich je für mich interessiert hat. Für meine Brüder und Boromir war ich immer das nervige kleine Mädchen, das den Großen hinterhergelaufen ist, aber Faramir hat mich ernst genommen. Als ich sechs Jahre alt war, war ich einmal traurig, weil Boromir und Elphir sich von mir belästigt fühlten, da sie etwas Wichtiges zu besprechen hatten - über den Krieg in Harondor, glaube ich -, aber Erchirion und Amrothos durchaus zuhören ließen. Ich war beleidigt, weil ich nie dabei sein durfte. Allein Faramir kam auf mich zu und spielte mit mir. Das ist lächerlich. Schließlich war er schon zweiundzwanzig Jahre alt, aber er war sehr nett zu mir und er hat mir einen kleinen Esel geschenkt, den seine Mutter für ihn genäht hatte. Es war einst sein Lieblingsspielzeug, aber da brauchte er es natürlich schon längst nicht mehr. Ich... Ich habe den Esel noch irgendwo."
Sie erhob sich müde, watschelte sehr ungleich einer Königin durch den Raum und Éomer verlor endgültig die Kontrolle über seine Gesichtsmuskulatur, als sie wie ein Hund in den Haufen auf dem Boden zu wühlen begann und ihre Sachen wahllos in alle Richtungen warf, bis sie endlich einen kleinen Stoffesel in den Händen hielt und ihn beschämt Éomer präsentierte.
"Ich wusste immer, wie dumm das war, aber ich habe immer gehofft, eines Tages mit Faramir leben zu können. Aber als Heermeister hatte er immer weniger Zeit für mich. Und jetzt ist er vermählt. Als ich davon hörte, war ich zuerst am Boden zerstört, aber dann habe ich Éowyn kennengelernt und ich finde, dass sie sehr gut zusammenpassen. Ich versuche, mich für Faramir zu freuen, aber ich glaube, es gelingt mir nicht richtig. Ich habe mich nun mal immer nur dann gefreut, wenn er bei mir war. Ich bin wirklich... allein. Und seit Faramir nicht mehr für mich da ist, gibt es für mich keine Hoffnung. Den anderen gegenüber muss ich perfekt sein, sonst blamiere ich meine Familie."
Éomer glotzte verständnislos. "Wie kommst du denn darauf?"
"Ich bin doch..."
"Also mir gegenüber musst du nicht perfekt sein. Zuerst hat mich deine Art zwar fasziniert, aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich elend, wenn ich sehe, dass du besser bist als ich. Menschen, die keine Fehler machen, machen einem doch Angst!"
Sie schüttelte den Kopf. "Dir vielleicht, aber die anderen verlangen..."
"Die anderen verlangen gar nichts oder hat dir etwa jeder Mensch auf der Welt eine Liste mit Regeln, wie du dich ihm gegenüber zu verhalten hast, vor die Nase gehalten?", rief Éomer etwas ungehalten und ließ Lothíriel scheinbar aus Prinzip nicht mehr ausreden. "Jeder möchte nichts weiter als freundlich behandelt zu werden und wenn einer ein Missgeschick oder ein Missverständnis nicht verzeihen kann, dann verdient er es schlicht und einfach nicht, mit dir zu sprechen. Ganz einfach."
Wieder schüttelte Lothíriel den Kopf, doch Éomers Zorn kurbelte wieder hoch und er packte sehr unsanft ihr Gesicht, um ihr Einhalt zu gebieten. "Du weißt wirklich gar nichts! Widersprich nicht, wenn du dich nicht auskennst! Ich hasse Sturheit!"
"Tut mir -"
"UND KOMM JA NICHT WIEDER AUF DIE IDEE, DICH ZU ENTSCHULDIGEN!!"
Lothíriel nickte ängstlich. Der funkelnde Zorn in Éomers Augen ebbte zurück und während er in ihre ohnehin schon großen, vor Schreck geweiteten Augen blickte...
"Du meine Güte! Du keines Mädchen bist ja wirklich..." Er versuchte vergeblich ein leicht schüchternes Grinsen zu unterdrücken, während er das Wort eher widerwillig herauspresste: "Niedlich."
So weit dies möglich war, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen noch mehr.
"Deine kindliche Unwissenheit... Ich dachte die ganze Zeit, du wärst ein Drache, dabei bist du ja unheimlich liebenswürdig. Du wolltest sicherlich einfach nur die perfekte Königin sein, der alle zu gehorchen haben und die für Ordnung sorgt, dabei bist du so ein kleines, schutzbedürftiges Wesen!" Wider Willen begann er zu kichern. "Ein kleines Wesen, das meint, großen Anforderungen gerecht werden zu müssen, und deswegen unermüdlich strampelt und strampelt, ein kleines Wesen, das Großes schaffen will. Aber nein, du willst das ja nicht schaffen, du zwingst dich, denn in Wirklichkeit hast du einfach nur Angst, alleine zu sein!"
"Ich - ich bin allein", flüsterte Lothíriel.
"Ja und das ist ganz allein deine Schuld, du Dummerchen!" Éomer konnte ihr einfach nicht mehr böse sein und streichelte ihren Kopf, als wäre sie eine kleine Schwester. "Wie sollst du auch nicht allein sein, wenn du die anderen mit deinem Perfektionswahn verschreckst? Aber jetzt weiß ich ja, wer du wirklich bist: ein unselbstsicheres, unordentliches, verwirrtes, selbsthasserfülltes, dümmlich verliebtes kleines Mädchen. Wenn du erwachsen werden willst, solltest du dich erstmal selbst zu schätzen lernen. Dann wirst du auch keine Angst mehr haben, dich anderen Menschen zu öffnen. Und dann werden die anderen dich genauso liebenswert finden wie ich." Und er brach erneut in Kichern aus, als er merkte, dass er wie ein Vater klang.
"Ich bin überhaupt nicht liebenswürdig", entgegnete Lothíriel fast beleidigt.
"Es ist nicht deine Sache, das zu entscheiden", flötete Éomer. "Du bist klein und niedlich. Ich finde das liebenswürdig. Und für deine Leistungen und Fertigkeiten und dein Wissen und Können hast du meinen Respekt."
Lothíriel errötete wie eine reife Tomate und wandte sich schüchtern von ihm ab.
Éomer kicherte vergnügt. "Du hast es die ganze Zeit wirklich nur gut gemeint und ich... und alle anderen... Du hast es auf deine eigene Art und Weise gut gemeint. Das ist echt lieb!"
Ohne es zu merken, glitt er vor lauter Erleichterung in einen Lachanfall und lachte sich fröhlich die letzten sieben Monate aus dem Leib. Nein, sowas! Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass der Drache in Wirklichkeit ein kleines Mädchen war. Und er begriff allmählich, dass er selbst mit seinem noch sehr jungen Hirn gedacht hatte, sich eine unnahbare Schönheit als Frau zu wünschen. Wie dämlich! Mit einer unnahbaren Schönheit war er ja ziemlich unglücklich gewesen, aber jetzt... Er lernte, dass er am liebsten liebenswürdige kleine Wesen wie Lothíriel mochte, die er als starker, mächtiger Krieger zu beschützen hatte, also in die Rolle schlüpfen konnte, in der er sich am wohlsten fühlte. Sein Unterbewusstsein hatte es wahrscheinlich schon immer gewusst und so hatte er intuitiv Lothíriel gewählt, obwohl er irrtümlich geglaubt hatte, sie wegen ihrer Schönheit zu lieben. Doch in Wirklichkeit hatte er sie gar nicht geliebt, nur hatte sein Unterbewusstsein gewusst, dass er sie eines Tages lieben würde. Lothíriel war ein Mensch, in dessen Gegenwart Éomer sich am rechten Platz fühlte.
"Ich - ich..." Lothíriels schüchternes Gestotter riss ihn aus seinen Gedanken. "Éomer, ich wünschte, wir könnten von vorne anfangen."
Er hatte diese Bitte schon fast erwartet und lächelte sie zärtlich an. "Das können wir. Und zwar bei deinem Zimmer. Hier sieht es ja aus wie bei Gríma unter dem Bett!"
Die kleine Lothíriel saß im Gebüsch und weinte. Faramir würde nicht kommen.
"He! Das ist doch dumm! Wie lange willst du denn noch dahocken?"
Das Mädchen schreckte zusammen und wirbelte herum. An einem Baum lehnte ein vierzehnjähriger rohirrischer Junge mit langen blonden Haaren und schien schon einige Zeit ihren Rücken anzustarren.
"Natürlich Respekt vor deiner Ausdauer, aber..." Er schmunzelte.
Ein strahlendes Lächeln breitete sich über Lothíriels Gesicht aus. Faramir war nicht der einzige Mensch auf der Welt. Es gab noch andere Menschen und sie konnten sie sehen, auch wenn sie sich versteckte. Sie war nicht unsichtbar, so sehr sie sich auch bemühte. Sie war nicht allein. Sie war gefunden worden.
Mit einem fröhlichen Lachen sprang das kleine Mädchen auf und lief dem Jungen entgegen.
ENDE