Man schrieb den zweiten Tag des Monats Lótessë* im Jahre 3018 DZ, als die prächtige Schar der Schwanenritter in die Weiße Stadt einritt. Begeistert liefen die Bewohner von Minas Tirith auf die Straßen, um die edlen Reiter zu besichtigen. Die Rüstungen der Schwanenritter waren weitaus schöner als die der Soldaten Gondors. Sie glänzten und funkelten wie reines Silber im Sonnenlicht. All diesen Rittern ritt der Fürst von Dol Amroth voran, welcher auch Imrahil der Schöne genannt wurde. Als Einziger trug Imrahil keinen Helm. Sein rotblondes Haar leuchtete wie reifes Korn. Die bewundernden Ausrufe der Menschen kümmerten ihn nicht, denn ihn belasteten große Sorgen. Große Sorgen um Gondor. Schon lange hatte er gemerkt, dass sein Schwager Denethor nicht mehr in der Lage war, sein Land richtig zu regieren. Der Feind aus Mordor war stark geworden, doch offensichtlich kümmerte dies den Truchsess nicht. Es war höchste Zeit, dass die Grenzen im Osten besser gesichert wurden.
Imrahil wollte dem Truchsess seine Hilfe anbieten. Die Schwanenritter aus Dol Amroth waren eine starke Macht zu Pferde. In Gondor gab es nur wenig Kavallerie. Daher war es eigentlich ein Unding von Denethor, weiterhin auf solch eine Verstärkung zu verzichten. Aber der Fürst ahnte jetzt schon, dass es schwierig sein würde, dem Truchsess dies klarzumachen. Er hoffte, dass Boromir anwesend war. Boromir war ein kluger, umsichtiger Mann, der wahrscheinlich dasselbe dachte wie Imrahil. Vielleicht konnte er zwischen seinem Vater und dem Fürsten vermitteln.
Zusammen mit seinen beiden ältesten Söhnen Elphir und Erchirion betrat Imrahil den Thronsaal der Zitadelle. Laut halten ihre zielstrebigen Schritte von den Mauern wider. Doch dem Truchsess, welcher etwas gekrümmt auf seinem schwarzen Stuhl saß, schien dies nicht zu kümmern.
„Was willst du, Imrahil?“, knurrte Denethor den Fürsten ohne Grußformel finster an.
„Ich biete Euch meine Dienste an, lieber Schwager“, erwiderte Imrahil freundlich.
Erchirion, der zweitälteste Sohn des Fürsten, suchte derweil mit seinen Blicken den Thronsaal nach Boromir ab. Doch dieser war weit und breit nicht zu sehen. Er konnte nur Faramir sichten, der gerade leise den Saal betrat. Erchirion stöhnte innerlich auf: Faramir war sicherlich keine große Hilfe beim Anliegen seines Vaters. Es war in der Verwandtschaft nur allzu gut bekannt, wie schlecht das Verhältnis zwischen Denethor und seinem jüngsten Sohn war.
„Ich brauche deine Dienste nicht, Imrahil“, schnaubte der Truchsess verächtlich auf. „Boromir ist gerade dabei, die Grenzen abzusichern. Was soll ich denn mit deinen Rittern in ihren unbeweglichen Rüstungen? Die wären nur ein Hindernis in der Schlacht.“
„Ihr wisst, dass Boromir nicht überall sein kann“, meinte Imrahil besorgt. „Ich würde gerne die Grenzen in Süd-Ithilien sichern. Für meine Reiterei ist das keine allzu große Entfernung.“
Faramir kam langsam näher und lauschte interessiert dem Gespräch. Er konnte nur den Kopf schütteln über die Ansichten seines Vaters. Der Truchsess hatte keine Ahnung, wie es im Osten des Landes aussah. Weite Teile von Ithilien waren zerstört.
„Vater, Imrahil wäre uns wirklich eine große Hilfe“, gab Faramir vorsichtig aus dem Hintergrund zu bedenken.
Denethor wurde jetzt richtig zornig.
„Das ist mir klar, dass du Imrahil gerne in Ithilien hättest!“, rief er seinem jüngsten Sohn erbost zu. „Dann kannst du dich auf die faule Haut legen.“
Imrahil drehte sich zu seinem Neffen um und schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln.
Faramir wurde rot und senkte dem Kopf. Auch er wünschte sich, dass sein Bruder hier wäre. Boromir war der einzige Mensch, auf den Denethor hörte.
„Schwager“, begann Imrahil erneut zu sprechen. „Ich stehe hier wie ein armer Bittsteller vor Euch. Ich biete Euch meine Hilfe kein zweites Mal an. Ich kann auch gerne in Dol Amroth bleiben und ein angenehmes Leben führen.“
„Verschwindet!“, zischte Denethor drohend. „Ich kann Euer dummes Gewäsch nicht länger ertragen. Verschwindet und kehrt niemals nach Minas Tirith zurück. Euere Anwesenheit besudelt nur die Schönheit dieser Stadt.“
Imrahil wurde blass vor Wut, als er diese Schmähungen hörte. Faramir ging es ähnlich wie seinem Onkel. Aber der junge Mann wusste, dass es niemanden helfen würde, wenn er versuchte, Imrahil zu verteidigen. Im Gegenteil, der Ärger mit seinem Vater würde noch größer werden. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre das fatal für Gondor.
Mit versteinertem Gesicht verließ der Fürst den Thronsaal. Erchirion ging absichtlich so nahe an Faramir vorbei, dass er ihn anrempelte.
„Feigling“, murmelte er diesem zu.
Der Fürst von Dol Amroth sprach kein Wort. Erst als er die Stadt mit seinen Söhnen und seinen Rittern verlassen hatte, erhob er wieder die Stimme.
„Ich werde niemals wieder die Weiße Stadt betreten, selbst wenn sie in höchster Not wäre und man nach mir schreien würde“, sagte er mit tränenverhangenen Augen. „Ich bin heute so gedemütigt worden, wie noch nie in meinem Leben. Es bricht mir das Herz, dass ich und ihr, meine lieben Söhne, so niederträchtig behandelt worden sind.“
„Vater, der Truchsess ist ein Narr!“, wandte Elphir tröstend ein. „Seine Sinne sind so vernebelt, dass er nicht einmal seine eigene Sippe mehr ertragen kann.“
„Ich bin der Meinung, dass wir uns blutig rächen sollten“, rief Erchirion erbost. „Wir sind ein ehrenwertes Fürstenhaus, das direkt von den Waldelben abstammt. Sind wir nicht edler als diese Truchsessenfamilie?“
„Nein, mein Sohn, das werden wir nicht tun“, erwiderte Imrahil müde lächelnd. „Nur Eru alleine soll über Denethor und seinen Wahnsinn richten.“
Doch Erchirion verließ der Gedanke an Rache nicht. Am meisten ärgerte er sich über Faramir, der durch seinen zaghaften Einwand den Truchsess erst recht erzürnt hatte. Auch er sollte dafür büßen.
Zwei Jahre später:
Faramirs Augen leuchteten, als er endlich den Sechzehnender erblickte, den er schon den halben Morgen verfolgt hatte. Selten hatte er so einen prächtigen Rothirsch gesehen. Das riesige Geweih wollte er als Trophäe mit nach Hause nehmen. Es würde sich gut im neuen Kaminzimmer des Fürstenhauses machen. Der junge Fürst legte einen Pfeil auf die Bogensehne und lächelte triumphierend, als er den Hirsch anvisierte. Er war ganz alleine unterwegs, seine Leibwächter hatte er auf der Waldlichtung zurückgelassen, denn sie störten seiner Meinung nach bei der Suche nach dem Sechzehnender.
Doch gerade als er den Pfeil abschießen wollte, sprang der Rothirsch plötzlich davon. Faramir stieß einen enttäuschten Fluch aus, denn jetzt musste er wieder von vorne beginnen mit dem Heranpirschen. Verärgert ließ er den Bogen sinken und blickte dem Hirsch nach, der bereits zwischen den dichten Bäumen verschwunden war.
Er hörte ein knackendes Geräusch hinter sich und er drehte sich rasch um. Doch fast im gleichen Moment packten ihn mehrere starke Arme und eine Hand drückte ihm ein Tuch mit einer seltsam riechenden Essenz vor Mund und Nase. Faramir wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen bewusstlos. Er bekam nicht mehr mit, dass er gefesselt und geknebelt wurde.
Die Leibwächter des jungen Fürsten begannen sich erst viele Stunden später Sorgen zu machen. Viel zu spät, um Faramir helfen zu können. Die gerissenen Entführer hatten bereits den Vorsprung, den sie brauchten, um ihren Gefangenen für lange Zeit von der Bildfläche verschwinden zu lassen.