Éowyn ritt glücklich über die weiten Grasebenen Rohans. Ihre Hochzeit mit Faramir rückte von Tag zu Tag näher, und sie freute sich schon auf die gemeinsame Zukunft mit ihm. Lange Zeit hatte man in Rohan gemunkelt, dass Faramir nur ein Ersatzliebhaber sei, weil die Schildmaid den König von Gondor nicht haben konnte. Doch inzwischen wussten alle, die Éowyn näher kannten, dass sie Faramir, den jungen Fürsten von Ithilien, von ganzen Herzen liebte.
Die junge Frau mit den wallenden, blonden Haaren genoss den frischen Wind, der über die Ebene wehte und das hohe Gras sanft wiegte. Éowyn konnte sich keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen und doch war sie dazu bereit, ihre geliebte Heimat bald für immer zu verlassen. Denn ihre Zukunft lag zusammen mit Faramir in Ithilien.
Sie wusste, dass Ithilien eine liebliche Gegend war mit sanften Hügeln, grünen Wäldern und murmelnden Bächen, aber niemals würde dieses Land Rohan aus ihrem Herzen verdrängen können. Lächelnd dachte Éowyn an ihren Bräutigam, an seine schönen blauen Augen und seine tiefe, angenehme Stimme. Niemals würde sie den Tag vergessen, an welchem sie ihn zum ersten Mal in den Häusern der Heilung erblickt hatte. Faramir hatte wieder Sonnenlicht in ihr Leben gebracht, nachdem ihr so viele bittere Wunden zugefügt worden waren. Sein sanftes, ritterliches Werben hatte sie zutiefst beeindruckt. Er besaß eine hohe Bildung und war zugleich auch ein herausragender Krieger.
Die Sonne stand hoch am Himmel und Éowyn musste nun wieder nach Edoras zurückreiten. Die Näherinnen wollte am Nachmittag das Brautkleid zum Anprobieren vorbeibringen. Es war höchste Zeit, dass das Kleid endlich fertig wurde, denn in wenigen Tagen würde Éowyn nach Gondor zur Hochzeit abreisen.
Als Éowyn in die Goldene Halle eilte, um ihren Bruder zu fragen, ob die Näherinnen schon eingetroffen waren, befand sich ein ihr unbekannter Herr bei dem jungen König. Der Schildmaid fiel der Fremde sofort auf, denn sein Haar und Bart waren dunkel und seine Kleidung um vieles edler als die der Adeligen Rohans. Als er Éowyn in ihren eng geschnittenen Reitkleid erblickte, leuchteten seine grauen Augen freudig auf.
„Das ist Túrin, der Fürst von Andrast“, erklärte Éomer seiner Schwester lächelnd.
„Verzeiht meinen Aufzug, Fürst Túrin“, erwiderte Éowyn verlegen und ließ sich von ihm die Hand küssen.
„Ihr seht zauberhaft aus, Herrin“, sagte Túrin galant und deutete eine Verbeugung an.
„Was verschafft uns denn die Ehre Eueres Besuches?“, wollte Éowyn wissen und blickte zuerst Túrin an und dann ihren Bruder.
Éomer übernahm die Antwort für Túrin.
„Der Fürst ist ein wohlhabender Mann und bereist momentan die Länder aller Verbündeten Gondors“, erklärte der junge König gutgelaunt. „Anschließend möchte er Schriften über die Kulturen der Völker Mittelerdes verfassen.“
„So?“, machte Éowyn unbeeindruckt.
Diese Tätigkeit erschien ihr wenig ruhmvoll. Túrin machte nicht den Eindruck, als ob er schon einmal in den Krieg gezogen sei. Seine Hände wirkten zart wie die einer Jungfrau. Bestimmt konnte er kein Schwert richtig führen. Éowyn verzog die Mundwinkel verächtlich.
„Ich muss gehen“, meinte sie nun kurzangebunden zu Túrin. „Ich erwarte die Näherinnen mit meinem Hochzeitskleid.“
„Euer Bruder hat mir schon erzählt, dass Ihr den Truchsess von Gondor ehelichen werdet“, bemerkte Túrin bewundernd. „Da werdet Ihr sicher bald in meine schöne Heimat ziehen.“
Éowyn hatte nun von dieser Konversation endgültig die Nase voll und verschwand mit einem kurzen Gruß aus der Halle. Die Anwesenheit dieses Fürsten verärgerte sie einerseits und verwirrte sie andererseits. Irgendwie fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Aragorn, doch schien er genau das Gegenteil von dem tapferen Waldläufer aus dem Norden zu sein. Sie fragte sich, warum sie sich überhaupt Gedanken darum machte. Ihr Herz gehörte schließlich Faramir, der weder Túrin noch Aragorn ähnlich sah.
Zu Éowyns Erleichterung war das Hochzeitskleid so gut wie fertig. Die kleinen Änderungen, welche die Näherinnen noch machen mussten, waren nicht zeitaufwändig. Der Aufbruch nach Gondor musste also nicht aufgeschoben werden. Das Kleid sah einfach wundervoll aus. Selbst Elben konnten nicht so prachtvolle Gewänder herstellen, fand Éowyn.
Wenig später saß sie zusammen mit ihrem Bruder und dem fremden Fürsten beim Nachtmahl. Seine Erzählungen langweilten sie, doch immer wieder spürte sie seine hellen, grauen Augen auf sich ruhen. Sicher gefiel sie diesem Túrin. Blonde Frauen waren in Gondor schließlich eine Seltenheit. Faramir würde die Schwärmerei des Fürsten für Éowyn sicherlich nicht mögen. Er würde Túrin einen strafenden Blick zuwerfen. Die Schildmaid grinste in sich hinein bei dieser Vorstellung.
„Ihr seid sehr gut gelaunt, Herrin“, sagte Túrin plötzlich lächelnd zu ihr.
„Ich dachte gerade an meinen Bräutigam“, erwiderte Éowyn frostig.
„Es tut mir leid“, entgegnete der Fürst betroffen und senkte den Blick. „Ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“
Éomer unterdrückte nur mühsam ein Feixen: so vernehm gestelzt unterhielt man sich selten an seiner Tafel. Gondor war eben doch eine ganze andere Welt als Rohan. Er fragte sich, ob es Éowyn wohl tatsächlich dort gefallen würde. Aber er wusste, dass seine Schwester mit Faramir an der Seite sich sogar in Mordor wohlfühlen würde.
Aragorn bekam die Schreckensbotschaft im Garten der Zitadelle übermittelt. Er saß zusammen mit seiner wunderschönen Gemahlin Arwen auf einer Bank und lauschte ihrem bezaubernden Harfenspiel, als der Bote aus Ithilien vor ihm auftauchte.
„Mein König, Fürst Faramir ist seit gestern morgen spurlos verschwunden“, berichtete der Bote atemlos. „Alles deutet darauf hin, dass er entführt wurde. Man fand Hufspuren und Stiefelabdrücke in der Nähe des Ortes, an welchem er zuletzt gesehen wurde.
„Ich möchte sofort mit seinen Leibwächtern sprechen“, befahl der König beunruhigt. „Sie müssen doch irgendetwas mitbekommen haben.“
„Bedauere“, erwiderte der Bote betroffen. „Der Fürst wollte ausdrücklich ohne seine Leibwächter auf Jagd gehen. Sie haben überhaupt nichts gesehen oder gehört.“
Arwen ließ ihre Harfe sinken und blickte ihren Gemahl bittend an.
„Estel, du musst selbst nach Ithilien reiten und nach Faramir suchen. Wenn einer ihn finden kann, dann du.“
Éowyn war keineswegs davon begeistert, dass Fürst Túrin sie nach Gondor begleitete. Plötzlich hatte er seine Weiterreise verschoben, weil ihn angeblich dringliche Angelegenheiten nach Minas Tirith zurückriefen. Die Schildmaid fragte sich, was dieser Mann von ihr wollte. Ihm war doch inzwischen mehr als bekannt, dass sie bald Faramir heiraten würde, und trotzdem machte ihr Túrin geradezu ritterlich den Hof. Ständig schleppte er Blumen und kleine Geschenke an, die sie jedoch unerbittlich zurückwies. Allerdings schmeichelten ihr diese Gesten schon, denn es war ein schönes Gefühl, trotz der Bindung zu Faramir noch bei anderen Männern begehrt zu sein.
Sie war jedoch sehr froh, als endlich die Weiße Stadt am Horizont auftauchte. Hoffentlich war Faramir in Minas Tirith. Eigentlich war ihm der Termin ihrer Anreise bekannt. Bis zur Hochzeit waren es keine zwei Wochen mehr. Éowyn fühlte sich seltsam aufgeregt und ein ihr unbekanntes Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit.
Der Ritt durch die sieben Festungsringe kam ihr heute ewig lang vor. Ungeduldig trieb sie ihr Pferd voran, doch die Straßen von Minas Tirith waren von Menschen und Fuhrwerken verstopft. Endlich aber erreichte sie mit ihrer Begleitung den sechsten Festungsring, in welchen die Stallungen lagen. Éowyn gab dem Stallmeister einige kurze Anweisungen und lief dann rasch weiter zu dem kleinen unterirdischen Gang, welcher direkt in den Hof der Zitadelle führte. Túrin rief ihr noch irgendetwas hinterher, doch sie reagierte nicht darauf, denn sie hoffte, dass sie in wenigen Minuten Faramir in die Arme schließen würde.
Doch alles kam ganz anders: als Éowyn durch den Hof der Zitadelle Richtung Portal stürmte, kam ihr eine traurige Königin mit ihren Hofdamen entgegen.
„Seid gegrüßt, Frau Éowyn“, sagte die Elbin bedrückt. „Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten für Euch.“
In wenigen Sätzen schilderte Arwen, dass Faramir vor einiger Zeit entführt worden war und sich Aragorn seit Tagen in Ithilien befand, um die Schurken zu jagen, welche den jungen Fürsten verschleppt hatten. Éowyn glaubte sich in einem Albtraum zu befinden. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Faramir ließ sich doch nicht einfach entführen! Er war ein starker Krieger, der auch gegen mehrere Feinde gleichzeitig kämpfen konnte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich von irgendwelchen Straßenräubern hatte übertölpeln lassen.
„Das ist unmöglich!“, rief Éowyn bebend aus und trat einen Schritt zurück.
„Es tut mir sehr leid“, erwiderte die Königin traurig und ergriff die Hände der Schildmaid. „Ihr könnt versichert sein, dass mein Gemahl alles in seiner Macht stehende tun wird, um Faramir zurückzuholen.“
Das ist er mir auch schuldig, dachte Éowyn verbissen und senkte den Blick.
Sie hatte Furcht, dass die Elbin vielleicht ihre Gedanken lesen könnte.
Faramir wusste nicht, wie ihm geschah: jedes Mal, wenn er sich durch den dicken Nebel, der sein Bewusstsein wie Watte umgab, durchgekämpft hatte, drückte ihm jemand erneut einen riechenden Lappen ins Gesicht, was ihn wieder einschlafen ließ. Irgendwann erwachte er und es gelang ihm sogar die Augen zu öffnen: es war stockdunkel um ihn herum, er hörte in der Nähe das Meer rauschen und er roch die Luft, welche nach Salz und Algen schmeckte. Er fragte sich, wo er sich befand und was ihm geschehen war. Offensichtlich lag er einem kleinen Reisezelt. Er spürte, dass er an Händen und Füßen gefesselt war.
„Er ist wach!“, hörte Faramir eine leise Stimme mit einem fremden Akzent sagen.
„Schläfert ihn wieder ein“, befahl eine andere Stimme, die dem jungen Fürsten seltsam bekannt vorkam. „Halt nein, er soll ruhig wissen, wer ihn entführt hat. Finden wird man ihn sowieso niemals.“
Die plötzliche Helligkeit blendete Faramir und er kniff die Augen zusammen.
„Sieh mich an!“, bellte die Stimme.
Faramir öffnete die Augen wieder und war wie vom Donner gerührt, als er seinen Entführer erkannte.
„Du? Aber wieso?“
Der Mann lächelte grimmig.
„Erinnerst du dich nicht, wie der Truchsess meinen Vater, meinen Bruder und mich aufs Tiefste gedemütigt hat? Jetzt ist die Zeit der Rache gekommen!“