Faramir verließ nach getaner Arbeit gutgelaunt seine Schreibstube und ging hinaus in die große Eingangshalle des Fürstenhauses. Dort waren einige Bedienstete emsig damit beschäftigt, Blumengirlanden aufzuhängen und die Möbel herumzurücken. Der Fürst nickte seinen Untergebenen kurz zu und begab sich dann in den Hof. Auch hier war geschäftiges Treiben zu sehen. Tische und Bänke wurden aufgestellt, Laternen aufgehängt und eine große Feuerstelle vorbereitet, wo ein gemästetes Schwein gebraten werden sollte. Ein hünenhafter Mann mit einem dunklen Zopf rollte ein großes Fass Met unter dem Gejohle einiger Knechte in den Hof.
„Statt herumzugröhlen könntet ihr mir ruhig helfen“, knurrte der Hüne die Männer an.
Als die Knechte Faramir sahen, der plötzlich im Hof aufgetaucht war, verstummten sie und liefen rasch zu dem Mann mit dem Fass hinüber. Der Fürst verkniff sich kurz ein Grinsen und begab sich dann zu Beregond, der mitten im Hof stand und das Chaos dirigierte.
„Ich wundere mich, wie du den Überblick hier behältst“, meinte Faramir etwas belustigt. „Ich würde wahrscheinlich schon längst nicht mehr wissen, was vorne und hinten ist.“
„Ach, Ihr übertreibt, Herr Faramir“, sagte der einstmals blonde Hauptmann, dessen Haupthaar nun ergraut war, verlegen. „Ihr könntet diese Feier wahrscheinlich viel besser organisieren als ich.“
„Ich bin mir nicht sicher“, erwiderte Faramir lächelnd. „Was ich aber dich eigentlich fragen wollte: hast du meine Gemahlin heute schon erblickt?“
Bei den letzten Worten hatte sich die Miene des Fürsten verdüstert. Beregond blickte Faramir bedrückt an, denn er konnte ihm nicht weiterhelfen. Stumm schüttelte er den ergrauten Kopf.
In diesem Moment kamen Elboron, Rumil und Isilya fröhlich aus dem Haus geeilt. Elboron war inzwischen ein stattlicher junger Mann geworden, nach welchem sich alle unverheirateten Mädchen in Ithilien umdrehten. Er hatte langes, hellblondes Haar und trug einen kurzgeschnittenen Bart. Seine hellblauen Augen funkelten belustigt, als er auf seine Halbschwester Isilya herabblickte. Sie war inzwischen zehn Jahre alt und besaß einen starken Willen, ähnlich wie ihre Mutter. Sie hatte ihre widerspenstigen, dunkelblonden Haare an den Seiten zurückgebunden und sie trug ein grünes Kleid. Rumils Haare waren braun mit einem Rotstich und er war etwas größer als seine Zwillingsschwester.
Faramir betrachtete seine Kinder stolz. An ihnen sah man am ehesten, wie schnell die Zeit verging. Ihm selbst merkte man sein Alter kaum an aufgrund seiner numénorischen Herkunft. Trotzdem sah man bei genauen Hinschauen feine Linien und Fältchen in seinem edlen Gesicht. Haare und Bart waren immer noch leuchtend rot ohne eine Spur von Grau.
„Isilya, Rumil und Elboron, kommt bitte her!“, forderte Faramir seine Kinder auf. „Habt ihr heute schon euere Mutter gesehen?“
Isilya sah fragend hoch zu Elboron, der nur mit den Achseln zuckte.
„Ich habe gehört, dass sie heute im Morgengrauen mit ihren Heilersachen nach Gurthanar geritten ist“, sagte der junge Mann schließlich. „Mehr weiß ich leider nicht, Vater.“
Faramirs Miene verfinsterte sich. Ausgerechnet heute musste Tawariel ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Heilen. Er bezweifelte, dass sie bis zum Abend, wo die große Vorfeier mit den Feuerbooten auf dem Anduin beginnen sollte, wieder zurück sein würde.
„Bist du böse auf Mutter?“, fragte Rumil leise.
„Nein, mein Kind“, erwiderte Faramir schief lächelnd und fuhr seinem jüngeren Sohn liebevoll über den rotbraunen Schopf.
Er war nicht böse, sondern enttäuscht von Tawariel. Zu Beginn ihrer Ehe hatte er ihr versprochen, dass sie auch weiterhin als Heilerin tätig sein durfte. Am Anfang hatte das Nebeneinander von Heilerin und Fürstin auch gut funktioniert, doch in den letzten Jahren war Tawariel immer öfters als Heilerin in Ithilien unterwegs gewesen. Jetzt begann sie sogar ihre Kinder zu vernachlässigen und das ärgerte Faramir besonders, denn sie war nicht nur Fürstin und Heilerin, sondern auch Mutter.
Faramir wusste, dass die Leute über ihn und Tawariel reden würden, wenn sie heute abend bei der Vorfeier nicht dabei sein würde. Es gehörte eigentlich zu ihren offiziellen Pflichten, daran teilzunehmen. Als Fürstin von Ithilien hatte sie die Aufgabe, das erste Feuerboot in den Anduin zu setzen.
In Gurthanar trat etwa zum gleichen Zeitpunkt eine Frau mittleren Alters mit verbissenem Gesichtsausdruck aus der kleinen Hütte, in der sie mit ihrem Ehemann hauste.
„Sie ist schon wieder hier, Arodir“, sagte sie leise. „Ich hasse sie wie die Pest. Die Leute lieben sie und zu dir kommt bald kein Mensch mehr.“
„Keine Bange, Melen“, sagte der angesprochene Mann mit einem merkwürdigen Lächeln und legte seinen Arm um die schmalen Schultern der verhärmten Frau. „Diese Sorge sind wir bald los. Wenn alles klappt, werden unsere Verbündeten sie morgen in die Ruinen von Minas Morgul entführen. Ich hoffe, dass dieser Denkzettel ihr das Heilen austreibt.“
„Meinst du?“, fragte Melen mürrisch und machte sich von Arodirs Arm los.
Sie beobachtete, wie Tawariel gerade eines der Häuser emsig verließ, dicht gefolgt von ihren beiden Leibwächtern, die beide nicht besonders begeistert aussahen. Die Fürstin von Ithilien war inzwischen Mitte Dreißig und sah recht jung für ihr Alter aus. Ihre braunen Haare trug sie lang und bekleidet war sie mit einem einfachen Gewand, das eher zu einer Magd als zu einer Edeldame passte. In ihren Armen trug sie einen leichten Korb mit Kräutern und Heilessenzen. Ihre Wangen waren von der Arbeit gerötet und ihre Augen blitzten vor Tatendrang.
„Wir müssen jetzt noch zu Ëarnurs Familie“, erklärte Tawariel den zwei Soldaten eifrig. „Wenn ihr wollt, könnt ihr aber schon nach Hause reiten.“
Der eine Soldat schüttelte jedoch energisch den Kopf.
„Wir werden Euch nicht von der Seite weichen, Herrin, selbst wenn Ihr die ganze Nacht noch Menschen heilen werdet.“
Tawariel lachte herzlich auf und ging weiter.
Melen stieß ihren Ehemann kurz in die Rippen.
„Wie soll das mit der Entführung jemals klappen, wenn sie dauernd diese Krieger bei sich hat?“
„Morgen auf der Feier wird ein ziemliches Gewühl herrschen“, sagte Arodir zuversichtlich. „Es wird einen großen Jahrmarkt am Fuße der Emyn Arnen geben. Tausende von Menschen werden dort sein. Da können auch diese beiden Kerle in ihren Eisenrüstungen kaum etwas ausrichten. Außerdem vertraue ich auf unsere Verbündeten.“
„Wie du meinst“, brummte Melen und ging wieder in die ärmlich eingerichtete Hütte hinein.
Arodir aber holte sein Pferd aus dem Stall und ritt dann mit verstohlener Miene davon. Er wollte sich mit den Männern treffen, mit denen er Tawariels Entführung ausgeheckt hatte. Es war ein Riesenzufall gewesen, als er den verletzten Haradrim-Häuptling in den Wäldern Ithiliens vor einigen Wochen gefunden hatte. Er hatte dem Verwundeten geholfen und gemeinsam war man dann auf die Idee gekommen, die Fürstin zu entführen. Dabei sollte für die Haradrim natürlich eine Lösegeldsumme herausspringen.Für Arodir war es wichtig, dass Tawariel sich nach dieser Entführung nicht mehr außer Haus trauen sollte, um in Ithilien Menschen zu heilen. Er hoffte, dass dieser Plan funktionieren würde. Jedoch ahnte Arodir nicht, dass diese ganze Sache einige Nummern zu groß für ihn war und ihm alles bald aus den Händen entgleiten sollte, denn er war in erster Linie Heiler und kein ausgebuffter Schurke.
Nach Einbruch der Dunkelheit versammelte sich eine große Menschenmenge am Anduin. Gelächter, Stimmengewirr und Musik wehten durch die kühle Abendluft. Faramir und seine Kinder hatten Festkleidung angelegt und schritten an der Spitze der Bewohner Emyn Arnens zum Fluss hinab. Faramir ließ sich seinen Ärger, dass seine Gemahlin bei dieser Feierlichkeit fehlte, äußerlich nicht anmerken. Innnerlich jedoch war zu Tode betrübt. Es war nicht richtig von Tawariel, dass sie ihm bei diesem offiziellen Anlass nicht zur Seite stand. Als der Fürst den Anduin erreicht hatte, konnte er am Westufer die königliche Familie erkennen. Aragorn, seine Gemahlin, die drei Töchter und der Thronfolger Eldarion waren alle ausnahmslos gekommen. Faramir konnte sehen, dass Aragorn erstaunt eine Augenbraue hob. Der Fürst legte seiner Tochter Isilya die Hände auf die Schultern und beugte sich zu ihr hinab.
„Isilya, heute Abend bist du die erste Dame von Ithilien“, raunte Faramir ihr zu. „Ich möchte daher, dass du das erste Feuerschiff für Ithilien in den Anduin setzt.“
Auf der anderen Seite des Flusses ließ gerade Königin Arwen unter tosendem Applaus und Jubel das erste Feuerschiff für Gondor in den Fluss.
„Jetzt sind wir dran“, sagte Faramir zu Isilya.
Das zehnjährige Mädchen nickte und nahm von Beregond das kleine, geschnitzte Holzboot entgegen, in welchem eine dicke Kerze befestigt war. Beregond entzündete die Kerze mit einem Kienspan und dann beugte sich Isilya vorsichtig hinab zum Wasser und setzte das Boot darauf. Langsam glitt das Boot in der Dunkelheit davon und wieder gab es tosenden Applaus. Faramir spürte jedoch die fragenden Blicke der Menschen auf sich ruhen. Jedermann wunderte sich, wo die Fürstin von Ithilien steckte. Jetzt wurden immer mehr Feuerboote in den Anduin hinabgelassen und der Große Strom funkelte bald wie ein Sternenmeer. Nach altem Brauch enthielten die Boote gute Wünsche für die Zeit nach den Enderi-Tagen. Faramirs Boot kippte jedoch nach wenigen Metern in der sanften Strömung zur Seite und die Kerze erlosch. Viele Menschen hielten das für ein schlechtes Omen.