Erst im Morgengrauen kehrte Tawariel nach Hause zurück. Zusammen mit ihren Leibwächtern preschte sie zu Pferd in den Hof des fürstlichen Anwesens. Sie sah die geschmückten Tische und schluckte ein wenig. Irgendwann in der Nacht hatte jemand aus Gurthanar von der Vorfeier am Anduin erzählt und sie hatte erschrocken daran gedacht, dass sie ihre Pflicht als Fürstin versäumt hatte. Aber gab es wirklich einen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben? Schließlich hatte sie nicht gefaulenzt.
Faramir wird es verstehen, dachte Tawariel hoffnungsvoll. In Gurthanar gibt es viele Kranke. Vielleicht habe ich sogar eine Epidemie verhindert.
Der Fürst von Ithilien hatte schlecht geschlafen, weil er erzürnt war wegen seiner Gemahlin und sich auch Sorgen um sie machte. Er hoffte, dass ihr nichts passiert war und die beiden Leibwächter noch bei ihr waren. Als sich die Tür des Schlafgemachs leise öffnete und Tawariel hereinhuschte, schreckte Faramir sofort hoch. Erst einmal war er erleichtert, seine Gemahlin unversehrt wiederzusehen. Die junge Fürstin legte ihren Kapuzenmantel ab und glättete ihre langen, braunen Haare rasch mit den Fingern. Als sie Faramir wach im halbdunklen Zimmer sah, stutzte sie.
„Gut, dass du wieder hier bist“, sagte er ernst.
Tawariel setzte sich erschöpft auf die Bettkante und ergriff seine Hand. Doch Faramir zog seine Hand finster wieder weg.
„Wir müssen miteinander reden“, sagte er ungehalten.
„Ich kann verstehen, dass du böse bist, Liebster“, sprudelte Tawariel sofort heraus. „Aber in Gurthanar gibt es mehr als zehn Menschen, die an einem schlimmen Fieber leiden. Ich fürchte, es ist etwas ähnliches wie das Gras-Fieber in Rohan damals. Ich bin daher...“
„Tawariel, in Gurthanar gibt es ein Haus der Heilung und einen Heiler namens Arodir“, erklärte Faramir empört. „Ich kann mir vorstellen, dass Arodir wenig begeistert ist, wenn du ihm die Arbeit wegnimmst. Und ich bin inzwischen auch nicht mehr begeistert, weil du deine Pflichten als Fürstin von Ithilien mehr und mehr vergisst.“
Doch Tawariel ging auf seine letzten Worte überhaupt nicht ein. Sie erhob sich wieder vom Bett und ging im Zimmer auf und ab.
„Du weißt, was für ein Faulpelz dieser Arodir ist“, fuhr sie aufgeregt fort. „Er ist froh, wenn ich ihm ein bisschen helfe. Außerdem wollen die Menschen lieber mich als Heilerin haben.“
„Du bist die Fürstin von Ithilien“, betonte Faramir aufgebracht und schwang sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Bett.
Er trug eine leichte Hose und darüber lose eine graue Tunika.
„Jaja, ich weiß schon“, murmelte Tawariel und stellte sich ans Fenster.
Sie beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen über das Schattengebirge krochen. Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn.
Faramirs Hand legte sich auf ihre Schulter, doch nicht so liebevoll wie sonst.
„Ich möchte, dass du mich ansiehst, wenn wir uns unterhalten“, sagte er streng.
„Du bist dir anscheinend nicht bewusst, was du gestern Abend verpasst hast. Viele Menschen aus Gondor samt der Königsfamilie haben gesehen, dass du gefehlt hast. Wie konntest du mir solch eine Schande bereiten!“
„Ich verstehe überhaupt nicht, warum du dich so aufregst, Faramir“, sagte Tawariel kopfschüttelnd. „Du hast mir doch selbst erlaubt, dass ich Heilerin sein darf.“
„Wenn es mit den Pflichten als Fürstin und Mutter vereinbar ist“, ergänzte der Fürst vorwurfsvoll. „Denkst du eigentlich auch manchmal an deine Kinder?“
Tawariel jedoch fühlte sich im Recht.
„Soll ich vielleicht untätig zusehen, wenn Menschen in Gurthanar sterben, weil ihnen keiner hilft? Unsere Kinder sind gut versorgt. Sie haben Lehrer und Kindermädchen. In Gurthanar habe ich eine alte Frau gepflegt, die überhaupt keine Angehörigen mehr hatte. Sie wäre elendiglich in ihrer Hütte gestorben, wenn ich nicht zu ihr gegangen wäre. Seit wann denkst du so hartherzig, Faramir?“
Faramirs Augen funkelten verärgert.
„Für diese alte Frau wären Arodir und seine Frau zuständig gewesen“, meinte er aufgebracht. „Du bist als Heilerin entbehrlich, jedoch als Fürstin von Ithilien nicht. Wenn die Enderi-Tage vorüber sind, werde ich mit Arodir und Melen reden. Ich bin neugierig, ob du auch wirklich die Wahrheit sprichst.“
Tawariel schnappte empört nach Luft, dann verließ sie wortlos das Schlafgemach und zog sich in den Frauentrakt des Hauses zurück.
Faramir sah sie erst wieder zu Beginn des Festes. Tawariel hatte ein sonnengelbes Kleid angezogen und ihre langen, braunen Haare mit einem ebenso gelben Band durchflochten. Sie bedachte ihren Gemahl mit einem eisigen Blick, während sie ihre Tochter an der Hand in den geschmückten Hof führte. Der Duft des gebratenen Schweines erfüllte die Luft und ließ den vielen Gästen aus den umliegenden Dörfern das Wasser im Munde zusammenlaufen. Eine Gruppe Musiker stimmte ihre Instrumente und eine Schar Kinder rannte tobend in den Gärten herum. Das Wetter passte ausgezeichnet. Trotz der herbstlichen Jahreszeit schien die Sonne noch einmal richtig warm vom fast wolkenlos blauen Himmel.
„Mutter, ich möchte gerne hinunter zum Jahrmarkt gehen“, bettelte Isilya. „Dort gibt es feuerspuckende Gaukler aus Harad. Bitte!“
„Ich muss erst einige hochrangige Leute an der Seite deines Vaters begrüßen“, meinte Tawariel bedauernd. „Aber dann habe ich Zeit für dich, mein Schatz. Geh derweil zu deinen Brüdern.“
Missmutig trottete Isilya zu Rumil hinüber, der gerade mit einem neuen Holzschwert gegen einen unsichtbaren Feind kämpfte. Zu Elboron konnte sie jetzt nicht gehen, denn dieser unterhielt sich fröhlich mit einigen hübschen Mädchen, die alle wesentlich älter als Isilya waren.
Tawariel machte gute Miene zum bösen Spiel und gab sich als charmante Gastgeberin im Hof des Fürstenhauses. Der Dorfvorsteher von Gurthanar war auch gekommen und bedankte sich noch einmal überschwänglich bei Tawariel, dass sie die Zeit gefunden hatte, sich um die vielen Kranken im Dorf zu kümmern.
Die Fürstin warf ihrem Gatten einen triumphierenden Blick zu, doch dieser blieb gleichgültig. Das Verhalten Faramirs erfüllte sie nun mit solch einem Zorn, dass sie alles liegen und stehen ließ. Sie winkte Isilya zu sich.
„Komm, mein Kind, wir besuchen jetzt den Jahrmarkt.“
Kaum gingen Tawariel und Isilya durch das Tor, folgten ihnen sofort die beiden Leibwächter der Fürstin. Tawariel verdrehte genervt die Augen. Irgendwie war ihr heute alles zu viel.
„Warum bleibt ihr nicht oben im fürstlichen Anwesen?“, fragte sie unwirsch. „Ihr könnt mir auf dem Jahrmarkt eh nicht dauernd nachlaufen.“
„Wir haben unsere Anweisung“, erwiderte Anarion, der eine von ihnen, etwas verstimmt.
„Macht, was ihr wollt“, brummte Tawariel vor sich hin, während Isilya vergnügt neben ihr den Hügel herablief.
Nach einer Weile war schon der Marktlärm zu hören.
Unten am Fuße der Emyn Arnen waren viele Stände und Zelte aufgebaut. Musiker spielten flotte Weisen, zu denen sich schon einige Tanzpaare auf einem Holzboden drehten. Mehrere tausend Menschen drängten sich durch den Jahrmarkt. Besonders viel Beachtung fanden die Gaukler. Einige von ihnen jonglierten mehrere Bälle und sogar Teller, andere wieder vollbrachten meisterhafte Artistik. Am meisten zogen aber die Feuerschlucker aus Harad die Aufmerksamkeit auf sich. Isilya und Tawariel schoben sich durch die Menge, bis die kleine Fürstentochter etwas sehen konnte.
Staunend sah Isilya zu, wie die Männer Fackeln in ihrem Mund entzündeten und dann mit diesen jonglierten. Es waren kleine, kräftige Haradrim mit freiem Oberkörper. Ihre lockigen, schwarzen Haare hatten sie zurückgebunden, damit diese vom Feuer nicht versengt wurden. Isilya war so begeistert von den Kunststücken, dass sie gar nicht mehr weg wollte. Jemand tippte Tawariel plötzlich auf die Schulter. Es waren eine dunkelhäutige Frau in bunten Gewändern.
„Ihr seid doch die Fürstin“, sagte sie mit starkem, südländischen Akzent. „Ich möchte Euch gerne die Zukunft vorhersagen.“
„Später“, meinte Tawariel etwas ungehalten.
„Jetzt gleich“, beharrte die Frau. „Ich habe etwas Interessantes gesehen für Euch. Ihr seid doch auch Heilerin, oder?“
Tawariel wurde neugierig. Anscheinend wusste diese angebliche Seherin ganz schön viel. Sie befahl ihren Leibwächtern, bei Isilya zu bleiben, und ging dann mit der Südländerin zu einem der vielen Zelte.
Die kleinwüchsige Südländerin kroch voran in das dunkle Zelt. Tawariel beugte sich hinab und folgte ihr. In dem Zelt roch es penetrant nach Schweiß. Die Fürstin versuchte gerade ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, als sie einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf erhielt. Tawariel sackte ohnmächtig zusammen. Die Frau verschloss sofort den Zelteingang von innen mit einigen Bändern. Zwei kräftige Haradrim fesselten und knebelten die Fürstin und wickelten sie anschließend in eine riesige Plane. Die kleinwüchsige Frau öffnete das Zelt nun an der Hinterseite und kroch hinaus. Sie winkte den beiden Männern schließlich zu.
„Die Luft ist rein. Ihr könnt sie heraustragen.“
Niemand beachtete die zwei vermummten Gestalten, die abseits des Festes ein großes, schweres Bündel zu ihren Pferden schafften. Die ohnmächtige Tawariel wurde quer über den Rücken eines Pferdes gelegt. Ihre Hände wurden am Bauch des Pferdes durch Stricke mit ihren Fußknöcheln zusammengebunden. Die südländische Frau passte auf, dass niemand von den Festteilnehmern etwas davon sah. Nach einer kurzen Weile ritten die zwei Haradrim mit ihrer wertvollen Beute los in die nahen Wälder. Die Frau aber kehrte wieder zu ihrem Zelt zurück und tat so, als sei nichts geschehen. Sie öffnete den Zelteingang vorne wieder und setzte sich mit einer angeblichen Seherkugel auf einen kleinen Teppich. Es dauerte auch nicht lange und Isilya kam mit den zwei Leibwächtern bei ihr vorbei.
„Werte Dame, könnt Ihr mir sagen, wo meine Mutter hingegangen ist?“, fragte die Fürstentochter höflich.
Die Südländerin verzog spöttisch ihren Mund, bevor sie antwortete.
„Sie ist schon eine ganze Weile weg. Ich habe keine Ahnung, wo sie hin ist.“
Faramir ärgerte sich maßlos, dass Tawariel ihn einfach oben im Hof des fürstlichen Anwesens stehengelassen hatte und alleine mit ihrer Tochter zum Jahrmarkt hinabgegangen war. Ihr Benehmen ließ momentan mehr als zu wünschen übrig. Traurig erinnerte er sich daran, dass Éowyn so etwas nie getan hatte. Sicher hatte die ehemalige Schildmaid auch ihren eigenen Willen gehabt, aber offizielle Anlässe hatte sie weder versäumt, noch ihn öffentlich bloßgestellt. Er fragte sich im Stillen, wie das noch weitergehen sollte. Schließlich sollte am Tag darauf ein großes Festbanket in Minas Tirith stattfinden, zu welchem auch die Königsfamilie aus Rohan eingeladen war. Elboron bemerkte den düsteren Blick seines Vaters und er ging zu ihm hinüber.
„Kann ich dir irgendwie helfen, Adar?“, fragte er leise.
„Ich möchte, dass du deine Mutter holst“, raunte Faramir ihm zu. „Sie ist mit Isilya unten auf dem Jahrmarkt. Ich glaube, sie befinden sich bei den Feuerschluckern.“
Elboron versprach, Tawariel zurückzuholen und er machte sich sofort auf den Weg nach unten. Auch er wurde von seinen Leibwächtern Bergil und Borlas begleitet.
„Glaubt ihr, dass wir die Fürstin in dem Gewühl finden werden?“, fragte er die zwei Brüder seufzend.
„Nun, sie trägt ein auffallend gelbes Kleid“, meinte Bergil zuversichtlich. „Da sollten wir sie eigentlich leicht finden.“
Elboron lächelte schief. Er wollte nicht wissen, wie viele Frauen da unten auf dem Jahrmarkt auffallend gelbe Kleider trugen.