Tawariel erwachte nach einer Weile mit schrecklichen Schmerzen und einer großen Übelkeit. Ihr Hinterkopf hämmerte wie verrückt und jemand schien gerade zu versuchen, ihre Gliedmaßen aus dem Körper zu reißen. Sie registrierte, dass sie auf dem Rücken eines Pferdes festgebunden war, mit dem Kopf nach unten. Ein Knebel hinderte sie daran, laut zu schreien, und so kam nur ein dumpfes Stöhnen aus ihrem Mund. Sie hörte einige Männerstimmen, die in einer fremden Sprache etwas sagten und anschließend höhnisch lachten.
Die Übelkeit wurde schlimmer und Tawariel hatte große Angst, dass sie an ihrem Erbrochenen ersticken würde. Daher stöhnte sie lauter und rutschte auf dem Pferderücken herum, so gut es ging. Schließlich nahm ihr jemand den Knebel aus dem Mund.
„Danke!“, ächzte sie. „Mir ist totenübel.“
Ihre Fesseln wurden durchgeschnitten und sie wurde vom Pferd unsanft heruntergeschoben. Aufstöhnend sank Tawariel in das Waldgras. Vorsichtig schälte sie sich aus der Decke, in die man sie eingewickelt hatte. Ihre Finger und Zehen waren von den Fesseln schlecht durchblutet und daher ganz steif. Die Männer schienen zu ahnen, dass ihr Opfer jetzt nicht davonlaufen konnte, denn sie machten keine Anstalten, sie erneut zu fesseln. Tawariel fuhr sich vorsichtig über ihren Hinterkopf und bemerkte eine gewaltige Beule. Zum Glück aber schien nichts gebrochen zu sein.
„Was habt ihr mit mir vor?“, fragte sie matt die beiden Männer, deren Gesichter bis auf die Augen vermummt waren.
„Das wirst du schon noch sehen“, meinte der eine von ihnen in hartem Akzent und zog das Tuch von Mund und Nase dabei herunter.
Tawariel erkannte jetzt, dass es sich um Südländer handelte, denn die Haut des Mannes war dunkel und er hatte die typischen Gesichtszüge der Haradrim. Sie verstand die Welt nicht mehr, denn Gondor hatte vor einigen Jahren einen Friedensvertrag mit Harad geschlossen. Aber anscheinend wussten nicht alle Haradrim davon Bescheid.
„Ihr müsst mich wieder freilassen“, sagte Tawariel zu ihren Entführern und sie fühlte, wie sie langsam Angst bekam. „Ich bin die Gemahlin von Fürst Faramir. Er würde euch bis ans Ende der Welt jagen, wenn ihr mich noch weiter gefangen haltet.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Gemahl schon irgend etwas von der Entführung bemerkt hat“, bemerkte der Südländer trocken. „Nichtsdestotrotz werden wir jetzt wieder weiterreiten.“
Tawariel versuchte sich aufzurichten, als die Männer auf sie zukamen, um sie zu packen. Aber ihre Beine waren noch zu taub, um richtig gehen zu können.
„Lasst mich wenigstens normal auf dem Pferd sitzen!“, bat sie die Männer kleinlaut.
„Wehe, du machst Ärger!“, warnte einer ihrer Entführer sie.
Tawariels Hände wurden wieder gefesselt, als sie aufrecht auf dem Pferd saß. Sie hoffte, dass bald jemand ihrer Angehörigen die Spur der Entführer aufnahm. Doch sie hoffte erst einmal vergebens.
Elboron suchte eine ganze Weile unten auf dem Festplatz nach seiner Stiefmutter. Er hatte seinem Vater versprochen, Tawariel wieder in das fürstliche Anwesen zurückzuholen. Aber die Fürstin war weit und breit nicht zu sehen. Daher war Elboron froh, als er seine kleine Schwester Isilya mit den Leibwächtern ihrer Mutter traf.
„Mutter ist verschwunden“, platzte das Mädchen sofort heraus. „Keiner weiß, wohin sie gegangen ist.“
Elboron strich der Kleinen tröstend über den dicken Haarschopf.
„Keine Angst, deine Mutter taucht schon wieder auf.“
Fragend blickte er die Leibwächter der Fürstin an.
„Herr Elboron“, gab Anarion zu bedenken. „Ich möchte ja nicht dreist sein, aber ich vermute fast, dass die Fürstin versucht hat, uns Leibwächter wieder einmal abzuhängen.“
Während Isilya den Soldaten entsetzt anblickte, brach Elboron in herzliches Gelächter aus.
„Verzeih, Anarion“, prustete er mit hochrotem Gesicht, „aber das kann ich mir sehr gut bei der Herrin Tawariel vorstellen.“
Gemeinsam ging man zurück zum fürstlichen Anwesen hinauf, wobei Isilya einen letzten wehmütigen Blick auf die Feuerspucker aus Harad warf. Elboron jedoch hatte bereits Tanz und Vergnügen im Kopf. Er hoffte, dass die hübschen Mädchen, die er vorhin um sich versammelt hatte, noch im Fürstenhof weilten.
Von weitem schon ertönte Musik und Gelächter aus dem Hof und Elboron legte erwartungsvoll einen Schritt zu. Er lief als Erster durch das Tor, welches heute unbewacht war und ging zuerst pflichtbewusst zu seinem Vater, der sich gerade mit einigen vornehmen Leuten aus Ithilien unterhielt. . Darunter befand sich auch Amlach, Tawariels Vetter, welcher inzwischen geadelt worden war. Faramir hob überrascht den Kopf, als sein Sohn ohne Tawariel zu ihm zurückkehrte. Er entschuldigte sich kurz bei seinen Gästen und nahm Elboron kurz beiseite.
„Wo ist sie?“, fragte er ungehalten.
Elboron hob die Achseln.
„Wir wissen es nicht. Ich habe den ganzen Jahrmarkt durchgekämmt nach ihr. Anarion meint, dass sie wieder mal versucht hat, ihre Leibwächter zu täuschen.“
Faramirs Gesicht wurde weiß vor Zorn.
„Ich ahne jetzt, wo sie hin ist. Vermutlich hat sie sich ein Pferd geschnappt und ist nach Gurthanar zurückgekehrt.“
Elboron merkte, wie verbittert die Worte seines Vaters klangen und er fragte sich, ob Faramir und Tawariel zur Zeit ein ernstes Problem miteinander hatten.
„Aber warum sollte sie das tun? Heute ist doch Feiertag“, wunderte der junge Prinz sich.
„Glaub mir, Elboron, da gibt es sicherlich einen Grund.“ Faramir lachte freudlos.
Sein Sohn bot ihm an, sofort nach Gurthanar zu reiten und die Fürstin zurückzuholen. Doch Faramir schüttelte energisch das rotgelockte Haupt.
„Heute nicht mehr. Du hast genug getan. Die Damen da drüben warten schon auf dich.“
Elboron grinste schief und tätschelte kurz den Arm seines Vaters.
Faramir beobachtete wehmütig, wie sein ältester Sohn mit den jungen Mädchen aus den Dörfern Ithiliens herumschäkerte. Für ihn selbst war die festliche Stimmung vorüber. Er würde dieses Mal seiner Gemahlin ernsthafte Vorhaltungen machen müssen. Sie musste nachdrücklich an ihre wahren Pflichten erinnert werden. Er beobachtete, wie Isilya und ihr Bruder Rumil ordentlich die neuhinzugekommenen Gäste begrüßten und war froh, dass wenigstens ein Teil der Familie nicht vergessen hatte, wie man sich als Angehörige eines Fürsten benahm.
Amlach hatte die Szene beobachtet. Vorsichtig ging er zu Faramir hinüber und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter, denn er war mit dem Fürsten inzwischen eng befreundet.
"Tawariel ist verschwunden", murmelte Faramir enttäuscht. "Sie hat das Fest einfach verlassen und ist wieder nach Gurthanar geritten."
"Das kenne ich", nickte Amlach seufzend. "Ich weiß noch, wie sie damals ohne Absprache mit mir zu deinem brennenden Anwesen geritten ist. Ich habe damals große Angst um sie gehabt. Schließlich hatte Ioreth sie mir anvertraut. Tawariel ordnet sich nicht gerne unter."
"Ich dachte, sie ist inzwischen lange genug Fürstin, um zu wissen, was ihre wahren Pflichten sind", sagte Faramir erzürnt. "So kann es nicht weitergehen. Sie muss einsehen, dass sie keine Heilerin mehr ist."
"Du hast recht, mein Freund", seufzte Amlach hilflos. "Ich hoffe, ihr könnt das bald klären."
Mittlerweile war es Abend geworden und Tawariel war am Ende ihrer Kräfte. Ihre Beule am Hinterkopf schmerzte weiterhin heftig und sie verspürte gewaltigen Durst.
„Ich kann nicht mehr!“, stieß sie plötzlich hervor.
„Nichts da!“, bellte einer ihrer Entführer. „Bis zur Wegscheide musst du schon noch durchhalten. Du bist ganz schön verweichlicht, Frau Fürstin.“
Tawariel stiegen jetzt die Tränen in die Augen. Nein, sie war keine Heldin. Éowyn an ihrer Stelle hätte wahrscheinlich ohne einen Klagelaut die schlimme Behandlung der Entführer über sich ergehen lassen. Langsam, ganz langsam begann Tawariel einzusehen, dass sie öfters auf Faramir hätte hören sollen. Ihr erster Fehler heute war der Streit mit Faramir gewesen. Wahrscheinlich hatte er Recht: sie war keine Heilerin mehr, sondern Fürstin. Der zweite Fehler war gewesen, ohne Leibwächter dieser Seherin zu folgen. Faramir hatte ihr immer wieder eingetrichtert, keinen Schritt ohne Leibwächter zu machen. Doch Tawariel hatte sich zu oft als einfache Heilerin betrachtet und nicht als Fürstin von Ithilien, die man streng bewachen musste. Das hatte sie nun davon.
An der Wegscheide hielten die Entführer endlich an. Es war bereits dunkel geworden und Tawariel fühlte eine bleierne Müdigkeit. Ihre Oberschenkel waren vom Reiten wundgescheuert und sie konnte sich kaum noch im Sattel halten. Einer ihrer Entführer sah das und zerrte sie schließlich herab ins Gras. Die Wegscheide hatte Tawariel noch in unangenehmer Erinnerung. Damals war Elboron als Kind dorthin entführt worden und Faramir hatte ihn rechtzeitig befreien können. Sie war seinerzeit auch dabei gewesen und hatte versucht, mitzuhelfen. Faramir war im Kampf dann schwer verwundet worden. Nur mit knapper Not hatte Tawariel sein Leben dank ihrer Heilkünste retten können. Sie erschauderte, als sie an diese Erlebnisse dachte. Gleichzeitig schöpfte sie aber Hoffnung, weil es ja sein konnte, dass Faramir sich inzwischen auf den Weg hierher gemacht hatte.
Als sich die Dunkelheit über die Emyn Arnen senkte, neigten sich die Feierlichkeiten allmählich dem Ende zu. Die Gäste verabschiedeten sich und die Tische wurden abgeräumt. Faramir war ganz froh darüber. Er brannte nämlich darauf, endlich nach Gurthanar reiten zu können, um seine Gemahlin zurückzuholen und ihr dann unter vier Augen eine ordentliche Strafpredigt zu halten.
Begleitet wurde Faramir wie immer von Beregond und einigen Mitgliedern der Weißen Schar. Im Gegensatz zu Tawariel war der Fürst von Kindesbeinen an gewohnt, ständig Leibwächter um sich herum zu haben. Seine Miene war grimmig und entschlossen. Beregond, der seinen Herrn nun schon so viele Jahre kannte, wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Auch er hatte gemerkt, dass es zwischen den fürstlichen Eheleuten kriselte.
Da die Straße nach Gurthanar inzwischen gut ausgebaut war, kamen die Reiter dort rasch an.
Faramirs Ziel war das Haus der Heilung, das dort nach dem großen Brand vor über zehn Jahren größer und schöner wieder errichtet worden war. Es gab sogar richtige Fenster in dem Haus und einen kleinen, umzäunten Heilkräutergarten dahinter.
Nachdem Faramir dort an der Tür angeklopft hatte, kam eine eingeschüchterte Heilergehilfin heraus und teilte ihm mit, dass Tawariel hier nicht aufgetaucht sei. Faramir wollte anschließend sofort zu Arodir und Melen.
Melen saß nervös vor dem Kaminfeuer ihres Herdes. Vor einigen Stunden war ihr Mann Arodir losgeritten zur Wegscheide, wo er sich mit den Entführern und ihren Helfershelfern treffen wollte. Nachdem in den Häusern der Heilung vor einigen Jahren die bisher strenge Vorschrift, dass Heiler und Heilerinnen nicht heiraten durften, gelockert worden war, weil es an Nachwuchs fehlte, hatte es zahlreiche Ehen unter den Heilern gegeben. Arodir, der sich schon immer mit der verschlagenen Melen gut verstanden hatte, hatte sofort die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Melen war ohne Murren mit ihm nach Gurthanar gegangen, wo er seit Jahren Heiler war. Ihr war Tawariel schon in den Häusern der Heilung ein Dorn im Auge gewesen. Als die junge Frau Fürstin von Ithilien geworden war und mit der Zeit dem faulen Arodir richtig Konkurrenz machte, war Melen immer wütender auf Tawariel geworden. Nachdem Arodir eines Tages einen verwundeten Haradan mit nach Hause brachte, hatte man gemeinsam den Entführungsplan ausgeheckt.
Das heftige Klopfen an der Haustür ließ Melen zusammenzucken. Sie schlang sich das Wolltuch fester um den Oberkörper und fragte heiser, wer da sei. Als sie Faramirs Stimme hörte, wurde sie wirklich aufgeregt. Er durfte ihr nichts anmerken. Sie atmete einmal tief durch und ließ ihn dann herein. Der Fürst von Ithilien trug immer noch Festkleidung. Er war anscheinend ziemlich überstürzt aufgebrochen. Melen und ihr Gemahl hatten heute nicht viel gefeiert. Wichtiger war es, dass Tawariels Entführung gut über die Bühne ging.
„Seid gegrüßt, Frau Melen“, sagte Faramir so freundlich wie er konnte.
Auch er verspürte für diese Frau seit jeher keine besonders große Sympathie und konnte natürlich in gewisser Weise nachvollziehen, dass die Kranken in Ithilien lieber zu Tawariel gingen als zu dieser ewig missmutig dreinblickenden Frau mit ihren zusammengepressten, dünnen Lippen und ihrem liederlichen Gatten.
„Ich wollte wissen, ob Ihr heute meine Gemahlin hier gesehen habt.“
Melen wurde jetzt richtig nervös. Sie wusste, dass Faramir in die Herzen der Menschen blicken konnte und dass er auf diese Weise so manche böse Absicht schon entlarvt hatte. Melen selbst besaß jedoch auch numénorisches Blut und sie hatte einst beherrscht, wie man sich von schlechten Gedanken freimachen konnte, wenn Menschen wie Faramir versuchten, in ihr Innerstes vorzudringen. Sie holte tief Luft, bevor sie dem Fürsten eine Antwort gab.