Mit einem verächtlichen Lächeln betrat der Ritter aus Malrond die Zitadelle. Es war das erste Mal in seinem langen Leben, dass er solch ein imposantes Gebäude betrat. Er verspürte keinen Respekt vor den Menschen, die diese Hallen erbaut hatten, und erst recht nicht vor den Altvorderen-Königen, die hier geherrscht hatten. Auch für König Elessar fühlte Emyr nichts als Geringschätzung. Wenn Ranwen keine Nachfolgerin in Malrond bekam, würde auch ein König nichts mehr gegen die Naturgewalten ausrichten können, die dann in Gang gesetzt wurden. Emyr hatte gemerkt, dass es bereits begonnen hatte. In der Westfold, ganz in der Nähe von Malrond, lehnte sich die Natur schon ein wenig gegen den Menschen auf. Die Valar hatten es nicht so gerne, wenn man sich nicht an Versprechen hielt. Emyr war überzeugt, dass ihm selbst nichts geschehen würde, wenn die Welt rings um ihn untergehen würde. Er war ein treuer Diener von Malrond, ein Ritter des alten Tempels. Ihn würden die Valar gewiss verschonen, da er sich nichts zu Schulden hatte kommen lassen. Und ebenso war er sich gewiss, dass die, die er liebte, ebenfalls verschont würden.
Aragorn betrachtete den grauhaarigen Mann, der sich näherte, und er musste feststellen, dass dieser ihm auf den ersten Blick unsympathisch war. Der fremde Ritter besaß kalte, blaue Augen und hatte die Mundwinkel hochmütig verzogen. Auch Aragorn war in der Lage, in die Herzen der Menschen zu blicken und so war er rasch vorgewarnt. Er setzte sich aufrecht auf seinen Thron und straffte die Schultern. Emyr verneigte sich leicht vor dem König. Aragorn spürte, wie schwer es diesem Mann fiel, den Schein zu wahren, und er begann sich über den Ritter zu ärgern. Wenn es irgendwie möglich war, wollte er diesem Emyr ausreden, Éowyn nach Malrond zu locken.
„Ihr habt mich rufen lassen, König Elessar?“, bemerkte der Ritter schließlich etwas spöttisch.
Aragorn räusperte sich und erhob sich. Der Ärger über diesen hochmütig wirkenden Menschen ließ ihn nicht mehr ruhig sitzen.
„Ihr seid fürwahr mit einem seltsamen Anliegen nach Gondor gekommen“, erwiderte Aragorn streng. „Habt Ihr Euch tatsächlich gedacht, Ihr könnt die Fürstin von Ithilien wie eine Magd in Euer merkwürdiges Reich mitnehmen?“
„Man merkt, dass Euch die Geschichte von Malrond nicht wirklich bekannt ist“, meinte Emyr herablassend. „Seit vielen Jahrhunderten erfüllen die Hüterinnen den uralten Pakt, den einst die Herrin Brenil mit den Valar geschlossen hat und...“
„Mir ist diese Geschichte inzwischen bekannt“, schnitt Aragorn seinem Gegenüber das Wort unwirsch ab. „Allerdings kann ich nicht glauben, dass ausgerechnet die Herrin Éowyn für diese Aufgabe ausersehen sein soll.“
„Sie ist die Letzte ihres Geblüts“, erklärte Emyr schlicht. „Gerade Ihr müsstet doch ein Einsehen haben. Seid nicht Ihr auch der letzte Nachfahre aus der Linie der Könige?“
„Das ist etwas ganz anderes“, knurrte Aragorn verstimmt. „Es war meine Bestimmung, König zu werden. Éowyns Bestimmung war es aber nie, irgendeine Hüterin eines mysteriösen Ortes zu werden. Euere Herrin hat sich all die Jahre nie um ihre angebliche Enkelin geschert. Man hätte sie von Kindesbeinen auf ihre Aufgabe vorbereiten müssen, daher glaube ich nicht, dass Éowyn tatsächlich die Nachfolgerin dieser Ranwen ist.“
Jetzt war Emyr derjenige, welcher verärgert war. Seine blauen Augen blitzten vor Wut, als er dem König jetzt antwortete.
„Ihr beleidigt meine Herrin, König. Ich habe es nicht nötig, mich von Euch wie einen törichten Knecht behandeln zu lassen, denn ich diene einer Macht, die viel größer ist, als Ihr Euch vorstellen könnt. Auch Euer Gondor wird mit untergehen, wenn sich Frau Éowyn weigert, das Amt der Hüterin zu übernehmen.“
„Verlasst jetzt diese Hallen, Emyr!“, befahl Aragorn grimmig und wies mit der Hand auf die Tür. „Ich habe mit Euch vorerst nichts mehr zu bereden.“
Der Ritter schenkte dem König einen letzten, hochmütigen Blick und er verbeugte sich höhnisch.
„So lebt denn wohl, König von Gondor.“
Aragorn musste an sich halten, um diesem dreisten Mann nicht irgendeine Verwünschung nachzurufen. Fast im gleichen Moment, als Emyr die Zitadelle verließ, betrat Königin Arwen die Halle der Könige. Sie erblickte ihren Gemahl mit geröteten Wangen und blitzenden Augen. Sofort spürte sie, dass er sehr ungehalten sein musste. Sie ging fast lautlos zum Thron und ergriff die Hand ihres Gemahls.
„Dieser Rittersmann aus Malrond ist der dreistete Mensch, der je diese Hallen betreten hat!“, schnaubte Aragorn wütend auf.
„Ich kenne diesen Ort“, murmelte Arwen nachdenklich und ihre hellen Augen blickten träumerisch in die Ferne. „Vor vielen Jahrhunderten besuchten meine Brüder und ich die Goldene Höhle.“
Aragorn erschrak ein wenig, als er das hörte. Nie zuvor hatte ihm seine Gemahlin erzählt, dass sie jenen Ort aufgesucht hatte. Doch war dieses Erlebnis bis zum jetzigen Tag auch eher bedeutungslos gewesen.
„Damals war eine Frau namens Hymalen Herrin von Malrond“, fuhr Arwen mit gedämpfter Stimme fort. „Ihr Ehemann wohnte in einer Hütte ganz in der Nähe der Höhle. Als wir Hymalen aufsuchten, war sie gerade hochschwanger. Nun, wenn Éowyn tatsächlich als Hüterin ausersehen ist, wird es auf jeden Fall die Möglichkeit geben, mit Faramir zusammen zu bleiben.“
„Schön“, stieß Aragorn schief grinsend hervor. „Aber zufälligerweise ist Faramir der Truchsess von Gondor und Fürst von Ithilien. Er kann sich nicht einfach mit Éowyn in ein fernes Land zurückziehen und dort sein Dasein fristen. Und abgesehen davon, ist er von dieser Malrond-Sache überhaupt nicht begeistert. Ich übrigens auch nicht. Vor allem wenn ich an diesen falsch lächelnden Gefolgsmann der Hüterin denke. Ich fürchte, Éowyn steht nichts Gutes bevor.“
Arwen jedoch blieb besonnen und ließ sich nicht vom Zorn ihres Gemahls beirren.
„Die Aufgabe der Hüterin ist heilig“, erklärte sie leise, aber bestimmt. „Die Flamme in der Goldenen Höhle ist ein Geschenk der Valar. Dieser Rittersmann ist nur ein unbedeutender Knecht, der mit Hochmut in die Welt hinausblickt. Lass Éowyn zusammen mit Faramir nach Malrond reisen. Sie sollten sich die Goldene Höhle wenigstens ansehen und dann erst eine endgültige Entscheidung treffen.“
Der König fuhr sich leise seufzend über den Bart und er ergriff dann die Hand seiner schönen Gemahlin.
„Du hast wahrscheinlich recht, mein Stern. Ich hoffe nur, die Abgesandeten aus Harad nehmen es uns nicht übel, wenn der Truchsess und seine Gattin während ihres Besuches nicht anwesend sind.“
Zwei Tage später brach das Fürstenpaar zusammen mit Emyr und einer großen Eskorte Richtung Norden auf. Der grauhaarige Rittersmann schüttelte angesichts der bewaffneten Begleiter nur müde den Kopf.
„Dort, wo wir hingehen, nützt Waffengewalt nichts mehr. Malrond ist ein Ort der Ruhe und des Friedens.“
„Ach?“, bemerkte Faramir spöttisch. „Dann frage ich mich, was Ihr mit Euerem riesigen Schwert vorhabt.“
Wieder fiel sein Blick auf das unbekannte Wappen, das in den Knauf des Schwertes eingraviert war. Er konnte es jetzt deutlich sehen, da er direkt neben Emyr ritt: Es zeigte einen fünfzackigen Stern, um den sich eine Natter schlängelte.
Faramir wusste aus alten Schriften, dass ein fünfzackiger Stern böse Geister abwehren sollte. Allerdings kannte er die dazugehörige Natter eher als Symbol der Verschlagenheit.
Dieses Tier passt gut zu diesem Emyr, dachte er bissig und zerrte am Zügel seines Pferdes, um sich von der Seite des unangenehmen Mannes zu entfernen.
Éowyn war sehr aufgeregt und konnte es kaum erwarten, Malrond zu erreichen. Sie war jetzt nicht mehr still und in sich gekehrt, sondern gutgelaunt und gesprächig. Faramir jedoch hatte weiterhin das ungute Gefühl und er befürchtete, dass in Malrond eine böse Überraschung auf sie alle wartete. Er wollte jedoch alles dafür tun, um Éowyn vor jeglichem Unheil zu schützen.
„Wir werden doch sicher auch nach Edoras kommen“, sprudelte Éowyn fröhlich heraus, als sie ihre Stute an Faramirs Seite gelenkt hatte. „Ich freue mich, meinen Bruder wiederzu...“
„Wir werden nicht nach Edoras reiten“, erklärte Emyr finster. „Wir werden bereits vorher in das Weiße Gebirge abbiegen.“
„So ein großer Umweg wird das wohl nicht sein“, sagte Faramir streng. „Wenn meine Gemahlin wünscht, ihren Bruder unterwegs zu sehen, dann werden wir das auch tun. Seid froh, dass wir überhaupt mitkommen.“
„Die Zeit drängt!“, mahnte Emyr mit erhobenem Finger. „Die Zeichen stehen auf Sturm. Wie viele Menschenleben sollen noch geopfert werden, bis die Herrin Éowyn geruht, ihren rechtmäßigen Platz einzunehmen?“
Faramir hatte schon eine empörte Antwort auf den Lippen, als sich urplötzlich ein graues Wolkengebirge vor die Sonne schob und ein kalter Wind über die Felder Gondors fauchte. Auf der Großen Weststraße, auf der sich die Reitergruppe befand, wurde sogar Staub hochgewirbelt. Einige Soldaten bekamen Sandkörner in Augen, Nase und Mund. Die Pferde wurden unruhig und Faramir ließ die Reiter anhalten, bis sich die Lage wieder entspannt hatte. Der Wind verstummte von einem Moment auf den anderen und die Sonne schien wieder warm vom Himmel.
„Was war das?“, fragte Éowyn erschrocken.
Faramir fiel auf, dass das Wappen auf dem Knauf von Emyrs Schwertes kurz aufgeleuchtet hatte. Er fragte sich, ob das eine Sinnestäuschung gewesen war, oder ob das Schwert dieses Mannes tatsächlich magische Kräfte besaß. Emyr schien gemerkt zu haben, dass der junge Truchsess auf sein Schwert blickte, denn er legte rasch die Hand auf den Schwertknauf.
Am Abend übernachteten das Fürstenpaar und seine Begleiter in dem kleinen Dorf Candeleth, das in der Nähe des Druadanwaldes lag. Faramir und Éowyn lagen zusammen in einem nicht allzu breiten Bett in der Herberge „Zum Grauen Wald“. Beide befanden sich halb entkleidet unter der Decke und Éowyn schmiegte sich an Faramirs warmen Körper, denn es war recht kühl in der kleinen Kammer.
„Das war ein seltsam kurzer Sturm heute Nachmittag“, sagte sie leise.
„Ja, es war sehr seltsam“, wiederholte Faramir nachdenklich und streichelte Éowyns Schulter.
„Ich befürchte sogar, dass Emyr mit diesem Sturm etwas zu tun hatte“, murmelte er weiter.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte Éowyn erstaunt.
„Warum sollte dieser Emyr keine magischen Kräfte besitzen?“, meinte Faramir schief lächelnd und fuhr sich mit der freien Hand über den Bart. „Sieht er nicht irgendwie aus wie ein alter Zauberer? Beregond hat mir übrigens gestanden, dass er Emyr bei seiner Ankunft in Emyn Arnen fast mit Gandalf verwechselt hat.“
Éowyn musste jetzt leise lachen.
„Ich glaube, Beregond kriegt langsam schlechte Augen. Wie Gandalf sieht Emyr nun wirklich nicht aus. Er wirkt viel zu kriegerisch. Allerdings auf den ersten Blick...“
Sie hielt plötzlich inne und lauschte. Auch Faramir hatte etwas gehört und er setzte sich mit einem Ruck auf und griff nach seinem Schwert, welches unter dem Bett lag. Éowyn schlüpfte rasch in ihr Kleid, während Faramir nur mit der Hose bekleidet zur Tür schlich.
„Bleib besser hier“, warnte er seine Gemahlin.
„Du solltest aber auch nicht in diesem Aufzug hinausgehen“, meinte sie tadelnd und warf ihm seine Tunika zu.
Faramir bedankte sich mit einem kurzen Grinsen bei ihr und zog die Tunika über. Er lauschte noch einige Minuten an der Tür und öffnete dann diese fast lautlos. Er spürte, wie sein Herz schneller klopfte, als er sich vorsichtig auf den dunklen Gang hinausbewegte. Er hörte, wie eine Diele knarrte, und lief nun behände in die Richtung, wo die steile Treppe lag, welche nach unten in den Gastraum führte. Er konnte gerade noch eine Gestalt davoneilen sehen. Das lange Schwert blitzte kurz in der Dunkelheit auf und Faramir wusste nun, wer gelauscht hatte. Er ging wieder zurück zu Éowyn, die an der Kammertür gespannt auf ihn wartete.
„Emyr hat uns belauscht“, raunte er ihr zu.
Éowyn blickte ihren Gemahl bestürzt an. So viel Hinterhältigkeit hatte sie Emyr nicht zugetraut. Faramir nahm Éowyn sanft an der Hand und führte sie wieder in die Kammer hinein. Er legte das Schwert wieder unter das Bett und setzte sich seufzend auf die Bettkante.
„Er wird alles tun, damit du diese Hüterin namens Ranwen in Malrond ablöst. Wer weiß, vielleicht hegt er ja Heiratsabsichten mit ihr“, meinte Faramir mit einem bitteren Lächeln.
Éowyn nahm nicht neben ihrem Gemahl Platz, sondern lief mit geballten Fäusten in der Kammer herum.
„Ich hasse diesen Kerl!“, stieß sie schließlich hervor. „Ich wünschte, wir wären nicht angewiesen auf ihn als Führer nach Malrond.“
Faramir stand auf und schlang seine Arme um sie.
„Das wünschte ich mir auch“, murmelte er bedrückt. „Allerdings scheint Malrond fast so ein mystischer Ort wie Bruchtal zu sein. Ein Ort, der nicht gefunden wird, wenn es seine Bewohner nicht wollen.“
„Dein Bruder hat ja Bruchtal damals auch gefunden“, gab Éowyn zu bedenken. „Also müsste es uns gelingen, Malrond auch ohne Emyrs Hilfe zu finden. Was hältst du davon, wenn wir ihn morgen wegschicken?“
„Das ist ein guter Einfall“, meinte Faramir lächelnd und küsste seine Gemahlin.
In dieser Nacht verschwendeten sie keinen weiteren Gedanken mehr an Emyr. Doch von nun an sollte es keine ruhigen Nächte mehr geben für das Paar bis zur Ankunft in Malrond.