Sie erreichten Minas Tirith in der Nacht. Faramir kannte die Herbergen in der Stadt. Daher war Emyr leicht zu finden. Er hatte eine Unterkunft im Gasthof „Zum Goldenen Adler“ gefunden. Éowyns Verhalten hatte sich immer noch nicht geändert. Mit verschlossener Miene betrat sie die Herberge, während Faramir ihr dicht auf dem Fuß folgte. Der Wirt erklärte dem Fürstenpaar, dass der alte Ritter momentan nicht anwesend war und bat sie in ein kleines Nebenzimmer, wo sie bei einem Kelch Wein auf Emyr warten konnten.
Endlich waren die jungen Eheleute unter sich und Faramir kam behutsam auf das Thema zu sprechen, welches ihn schon den ganzen Tag belastete.
„Ich spüre, dass du lieber alleine mit dem Ritter reden willst“, fing er vorsichtig an. „Du willst ihn wahrscheinlich einige familiäre Dinge fragen, die mich deiner Meinung nach nichts angehen. Ist das so?“
Éowyn umklammerte den Kelch fest und antwortete zunächst nicht.
„Ich habe Angst, etwas zu erfahren, was vielleicht die Ehre meiner Familie beschmutzen könnte“, sagte sie nach einiger Bedenkzeit. „Ich weiß nicht, warum mein Vater nie von meiner Großmutter gesprochen hat. Vielleicht hat sie irgendetwas Schlimmes getan.“
Faramir ergriff ihre Hände.
„Und du befürchtest, ich könnte dich verachten, wenn ich so etwas mithöre?“, fragte er sie leise.
Éowyn senkte beschämt den Kopf.
„Du weißt, dass ich dich über alles liebe“, fuhr Faramir sanft fort. „Es gibt für mich keinen Grund auf dich herabzusehen, nur weil einige Vorfahren von dir vielleicht etwas Unehrenhaftes getan haben. Du hast doch keine Schuld daran.“
Er beugte sich über den Tisch und küsste sie zärtlich. Éowyn erwiderte erleichtert den Kuss. Leider wurden sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Sofort sank Faramir auf seinen Stuhl zurück und räusperte sich verlegen. Éowyn bat den Anklopfer nun herein. Es handelte sich tatsächlich um Emyr, welcher jetzt eintrat.
Er hatte seinen sturmgrauen Mantel abgelegt und nun war vollends sein Kettenhemd zu sehen, welches ihm bis zu den Knien reichte und an den Ärmeln bis zum Ellbogen. Darunter trug Emyr eine rötliche Tunika aus einem festen, lederähnlichen Stoff. Am Gürtel hing ein großes Schwert, das mit einem unbekannten Wappen am Knauf verziert war. Faramir bezweifelte nicht, dass dieser Mann trotz seines Alters mit dieser riesigen Waffe perfekt umgehen konnte.
„Schön, dass Ihr selbst gekommen seid, Herrin“, sagte er freundlich zu Éowyn.
Er nickte Faramir stumm zu und setzte sich an den Tisch.
„Wollt Ihr auch einen Wein trinken?“, fragte Faramir aufmerksam.
Doch Emyr lehnte dankend ab.
„Der Wein in den hiesigen Landen ist mir mitunter etwas zu stark“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. „Ich bevorzuge eher den leichten Met, welchen man in der Gegend um Malrond herzustellen pflegt.“
„Ich hätte einige Fragen an Euch“, kam Éowyn nun direkt zum Thema.
Faramir lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Erwartungsvoll blickte er Emyr an.
„Wie kommt es, dass meine angebliche Großmutter ausgerechnet mich zur Hüterin bestimmt hat?“, fragte Éowyn finster. „Ich wusste bis zum gestrigen Tag nicht, dass ich überhaupt noch eine Großmutter habe. Warum kann diese Aufgabe nicht jemand anders übernehmen?“
„Weil Ihr wie Euere Großmutter direkt von der alten Hüterin Brenil abstammt“, erwiderte Emyr gelassen.
„Das ist doch Unsinn“, lachte Éowyn ärgerlich auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zurück. „Von einer Ahnfrau namens Brenil habe ich noch nie etwas gehört.“
„Was hat es mit dieser alten Legende auf sich?“, warf nun Faramir ein und schilderte dem Ritter kurz, was er gestern gelesen hatte.
„Das ist keine Legende, sondern eine wahre Begebenheit“, erwiderte Emyr stolz. „Die Geschichte geht sogar noch weiter. Als Brenil verschieden war, tat sich die Höhle wieder auf. Die Tochter Brenils wusste sofort, was sie zu tun hatte und nahm den Platz in der Höhle ein, um die Flamme zu bewachen, welche die Valar aus dem Felsen lodern ließen. Doch der Gemahl der Tochter, die Cerulea hieß, war damit nicht einverstanden, so wie Ihr, Faramir. Er versuchte, seine Ehefrau wieder aus der Höhle herauszuzerren. Aber ein unbekannter Ritter half Cerulea und vertrieb den Ehemann. Der Ritter bewachte sein Leben lang den Eingang der Höhle. Mit der Zeit kam auch die Familie des Ritters nach und es wurde ein Haus in der Nähe der Höhle errichtet. Wegen ihres goldenen Lichts wurde die Höhle bald Malrond genannt. Der Ritter jedoch nannte die Höhle „Tempel“ und so wurde er bald Ritter des Tempels von Malrond genannt.“
„Ich wette, Ihr stammt von diesem Ritter ab“, meinte Faramir spöttisch.
Emyr schenkte Faramir einen hasserfüllten Blick. Éowyn fühlte sich unbehaglich, als sie die Spannung zwischen den beiden Männern spürte.
„Ich habe noch mehr Fragen“, meldete sie sich rasch zu Wort.
Doch der Ritter erhob sich würdevoll und schenkte ihr ein trauriges Lächeln.
„Am besten, Ihr fragt Euere Großmutter selbst. Ich werde mich jetzt zur Nachtruhe begeben.“
„Wie weit ist dieses Malrond entfernt?“, fragte Éowyn zum Entsetzen ihres Gemahls.
„Es ist ein Ritt von zwei Wochen“, erwiderte Emyr bedrückt. „Ich weiß, es ist weit, doch der Lohn, welcher auf Euch wartet, Herrin, wird Euch entschädigen.“
„Éowyn, du wirst doch nicht tatsächlich...“, begann Faramir entrüstet zu spreche.
„Ich bleibe ja nicht dort“, erwiderte Éowyn leise. „Ich will doch nur die Frau kennenlernen, die vorgibt, meine Großmutter zu sein.“
„Sie gibt es nicht vor, sie ist es“, behauptete Emyr, bevor er den Raum verließ.
Als der Ritter weg war, wandte sich Faramir sofort aufgeregt an seine Gemahlin.
„Du kannst jetzt nicht einfach wegreiten“, mahnte er sie. „Du weißt doch, dass nächste Woche die Delegation aus Harad kommt. Wir müssen bei diesem Anlass unbedingt zugegen sein. Es wäre ein Affront, wenn der Truchsess und seine Gattin dabei fehlen würden.“
„Verstehst du nicht, dass ich Klarheit haben will?“, fragte Éowyn verzweifelt. „Wir müssen ständig irgendwelche offiziellen Pflichten erfüllen. Wenn es danach ginge, dürfte ich niemals fortreisen.“
„In einigen Monaten werden wir mehr Zeit haben“, meinte Faramir beruhigend und strich ihr übers Haar. „Dann können wir zusammen dieses Malrond suchen und uns deine Großmutter ansehen, falls sie es ist.“
„Aber dieser Emyr hat gesagt, dass es in drei Monaten bereits zu spät ist“, murmelte Éowyn rastlos vor sich hin. „Ich muss jetzt dorthin und mir Gewissheit verschaffen.“
„Ich kann in den Herzen der Menschen zuweilen lesen, wie du weißt“, erwiderte Faramir ernst. „Und was ich in Emyrs Herzen gesehen habe, hat mir nicht gefallen.“
Éowyn hielt erschrocken inne. Sie wusste, dass Faramir nicht log. Er würde niemals lügen, nur um sie von dieser Reise abzuhalten. Anscheinend war mit diesem Ritter tatsächlich etwas nicht in Ordnung.
„Er ist kein schlechter Mensch“, fuhr Faramir leise fort. „Aber in seinem Herzen wohnt blinder Eifer. Er würde alles tun, um den Willen seiner Herrin, dieser Ranwen, zu erfüllen. Ich habe die Befürchtung, dass du vielleicht in ein schlimmes Komplott geraten bist. Diese Leute aus Malrond wollen etwas von dir. Du sollst dich für eine Sache opfern, die es wahrscheinlich gar nicht wert ist.“
„Und deswegen muss ich dorthin, um es zu überprüfen“, beharrte Éowyn trotzig.
Faramir erhob sich seufzend, er wusste, dass es keine Möglichkeit gab, um seine Gemahlin von ihrem Vorhaben abzubringen. Daher beschloss er, den König in der Zitadelle aufzusuchen, um ihm zu erklären, warum er und seine Gemahlin in nächster Zeit ihre offiziellen Pflichten nicht wahrnehmen konnten.
In Gedanken versunken stieg Faramir zur Zitadelle hinauf. Die Wachen ließen ihn sofort passieren und der junge Truchsess ging zielstrebig zu den Amtsräumen des Königs, welche auf der Südseite der Veste lagen. Faramir hatte ein ungutes Gefühl. Er spürte, dass ein dunkler Schatten in der Ferne aufzog.
Doch zunächst war für den jungen Truchsess Warten angesagt, denn der König steckte gerade in einem Gespräch mit einem Abgesandten aus Harad. Nervös ging Faramir vor dem Arbeitszimmer auf und ab, während seine Gedanken um dieses vermaledeite Malrond kreisten.
Aragorn wirkte sehr erschöpft von dem langen Disput mit dem Haradan und war daher ganz froh, dass Faramir ihn besuchte. Rasch schloss der König die Tür hinter dem Truchsess und holte zwei Weinkelche aus dem Schrank.
„Jetzt trinken wir erst einmal einen Schluck zur Erholung“, lächelte Aragorn, während er aus einem Krug Rotwein in die Kelche einschenkte.
„Tut mir leid, dass ich Euch störe, Aragorn“, meinte Faramir verlegen. „Aber ich muss Euch etwas wichtiges mitteilen.“
„Unsinn! Du störst nie, mein junger Freund“, sagte der König breit grinsend.
Faramir nahm einen tiefen Schluck von dem Wein. Das konnte er jetzt gut gebrauchen, bevor er Aragorn die Geschichte von Malrond erzählte.
Der König hörte mit anfänglichem Unmut zu, denn die Faramirs Bitte, dass er und Éowyn ausgerechnet jetzt verreisen wollten, gefiel ihm gar nicht. Aber als er den Namen Malrond hörte, spitzte er die Ohren, denn ganz unbekannt war ihm dieser Ort auch nicht. Er erinnerte sich an die Legenden, die in Herrn Elronds Haus an den langen Winterabenden erzählt worden waren.
„Ich würde mir zu gerne diesen Ritter einmal ansehen, Faramir“, sagte Aragorn schließlich nachdenklich. „Er soll gleich morgen früh zu mir kommen.“
Zur gleichen Zeit geriet in einem kleinen Dorf namens Danelag, das sich in der Westfold befand, alles außer Kontrolle. Vor kurzem war in der Nähe von Danelag der Bauer Rangnac durch einen offensichtlich herumstreunenden Warg getötet worden. Es hatte ausgesehen wie ein unglücklicher Zufall, aber sein Sohn Wulfric hatte an jenem verhängnisvollen Tag merkwürdige Zeichen am Himmel gesehen.
Nun war aber fast schon wieder Gras über die Sache gewachsen, als sich wieder an einem Nachmittag der Himmel auf seltsame Weise verdüsterte. Dieses Mal waren es sehr viel mehr Vögel, die einen riesigen, dunklen Schwarm bildeten. Ein Bauer und sein Sohn, die gerade mit Hilfe eines Ochsen ihren Acker pflügten, blickten erstaunt zum Himmel empor. Fast im gleichen Moment drehte der Ochse durch und riss die Pflugschar mit sich fort, als wäre sie kaum eine Last für ihn. Die beiden Männer fielen erschrocken auf den Rücken und starrten dem wildgewordenen Ochsen nach. Gleichzeitig fingen die Pferde nebenan auf der Koppel an, wie verrückt zu wiehern und sich zu gebährden. Weiter versuchten sie, den Zaun zu zerstören, der die Koppel umgab. Eine junge Frau, die ihre Hühner und Enten fütterte, wurde plötzlich von ihrem Federvieh angegriffen und erlitt viele Biss- und Hackwunden im Gesicht und an den Händen, während im Stall des Nachbarhofes eine Milchkuh die Magd erdrückte, welche sie gerade melken wollte. Ein tobender Hund biss seinem Herrn die Hand fast ab, als dieser ihn beruhigen wollte. Alle Tiere in dem kleinen Dorf Danelag spielten völlig verrückt, ohne dass es eine erkennbare Ursache gab. Nach einer halben Stunde etwa war der ganze Spuk vorbei und der Himmel hatte wieder seine normale Farbe. Jedoch hatte dieses Ereignis ratlose Menschen zurückgelassen, die jetzt versuchten, ihre erschöpften Tiere wieder einzufangen. Und wieder hatte es einen Todesfall gegeben.