Mit verschränkten Armen und mit düsterem Blick musterte Denethor seinen jüngsten Sohn, der demütig mit gesenktem Haupt vor ihm stand. Faramir trug eine dunkelblaue, feingewebte Tunika und schwarze Hosen. An seinem Kinn sprießte ein erster, rötlicher Bart.
Der Junge wird allmählich erwachsen, dachte Denethor bei sich.
„Vater, du ließest mich rufen“, begann Faramir zögernd zu sprechen.
„Ruhe!“, donnerte Denethor aufgebracht. „Das Wort erhebe ich, und nicht du.“
Der sechzehnjährige Jüngling blickte seinen Vater eingeschüchtert an.
„Dies ist ein offizieller Anlass, Sohn“, fuhr der Truchsess etwas ruhiger fort. „Nicht umsonst solltest du in die große Halle kommen.“
Faramir errötete leicht und nickte verlegen.
„Du bist nun sechzehn Sommer alt und es wird Zeit, dass du deine militärische Ausbildung beginnst“, erklärte Denethor forsch.
Der junge Mann sog erschrocken die Luft ein und erstarrte. Hatte er richtig gehört? Das konnte doch sein Vater unmöglich verlangen!
„Aber...“, begann Faramir verhalten und hielt wieder inne.
Er befürchtete einen neuerlichen Wutausbruch seines Vaters.
„Was aber?“, hakte der Truchsess sofort nach.
„Meine Studien – sie sind noch nicht beendet“, sagte Faramir leise. „Ich sollte doch bis zum achtzehnten Lebensjahr die Geschichte Gondors und die Alten Lieder lernen.“
„Ach was“, winkte Denethor finster ab. „Du hast genug überflüssiges Zeug gelernt. Die Bedrohung Mordors wird von Jahr zu Jahr größer. Wir brauchen hier in Gondor tüchtige Heermeister, die in der Lage sind, erfolgreiche Kriege zu führen. Dein Bruder ist auf dem besten Wege, einer von ihnen zu werden. Nimm dir ein Beispiel an ihm!“
Faramir schluckte und sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. Selbst Boromir war immerhin schon siebzehn Sommer alt gewesen, als er seine Ausbildung bei der Turmwache begonnen hatte.
„Ich soll dann also auch ein Mitglied der Turmwache werden“, fuhr Faramir nachdenklich fort.
„Pah, Turmwache!“, machte Denethor erbost. „Das war für Boromir verlorene Zeit. Bei dir wird nicht so lange herumgefackelt. Du wirst dich bei den Waldläufern in Ithilien melden.“
Als Faramir dies hörte, erschrak er. Jeder in Minas Tirith wusste, dass die Ausbildung bei den Waldläufern die härteste in Gondors Militär war. Dagegen war die Turmwache ein Zuckerschlecken.
„Wann... wann soll ich nach Ithilien gehen?“, stammelte Faramir mit belegter Stimme.
„Du wirst morgen früh von Baldor abgeholt“, erklärte Denethor fast freundlich. „So, und jetzt darfst du dich entfernen. Ich bin sicher, du hast heute noch einiges zu erledigen.“
Er wedelte bekräftigend mit der rechten Hand, und Faramir schlich bedrückt aus der großen Halle. Sein Weg führte zu seinem Privatgemach.
Es handelte sich um ein großes, geräumiges Zimmer mit zwei großen Fenstern Traurig blickte der junge Mann auf sein gut gefülltes Bücherregal. Nach Ithilien konnte er keines dieser großen, schweren Bände, die allesamt von Hand geschrieben waren, mitnehmen. Auch die zahllosen Schriftrollen würden hier bleiben müssen. Seufzend setzte sich Faramir auf sein Bett und stützte sein Kinn in die Hände. Nein, so hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt. Waldläufer hatte er niemals werden wollen. Er hatte immer gehofft, dass ihm noch ein paar Jahre blieben, um Gondors Geschichte und die Alten Lieder weiterzustudieren. Aber sein Vater hatte ihm nun einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Faramir grübelte vor sich hin, aber er wusste, dass die Stunde des Abschieds unerbittlich näher rückte.
Plötzlich wurde seine Tür aufgerissen und Boromir trat mit forschem Schritt ein. Wie immer, hatte Faramirs älterer Bruder ein breites Grinsen im bärtigen Gesicht.
„Na, Kleiner, warum bläst du denn an diesem herrlichen Frühlingstag Trübsal?“, fragte Boromir vergnügt.
„Ich muss morgen fort“, erwiderte Faramir leise. „Ich soll nach Ithilien, zu den Waldläufern.“
„Wie bitte?“, fragte sein Bruder entsetzt. „Wer hat denn das befohlen?“
„Ich war vorhin bei Vater“, sagte der Jüngling traurig. „Er meint es ernst.“
„Das kann nicht sein“, fuhr Boromir aufgebracht fort. „Er kann dich nicht zu den Waldläufern schicken. Das geht nicht! Du bist viel zu jung dazu!“
„Was soll ich denn tun?“, fragte Faramir bedrückt. „Ich darf doch Vater nicht widersprechen.“
„Ich werde mit ihm reden“, brummte Boromir und rieb sich den dunkelblonden Bart. „Ausgerechnet die Waldläufer! Was hat er sich nur dabei gedacht!“
Denethor saß in seinem Arbeitszimmer und tauchte die Adlerfeder gerade in das Tintenfass, als es energisch an der Tür klopfte.
„Ja, bitte!“, sagte der Truchsess finster und hielt inne.
Boromir stürmte regelrecht in das Zimmer und stoppte erst ganz dicht vor Denethors Schreibpult.
Der Truchsess ahnte bereits, warum sein ältester Sohn so aufgeregt war, aber er blieb gelassen. Auch Boromir würde an seiner Entscheidung nichts ändern.
„Was gibt es, mein Sohn?“, fragte er freundlich.
„Das kannst du nicht machen, Vater“, schnaubte Boromir aufgebracht. „Du kannst Faramir nicht zu den Waldläufern schicken! Nicht ihn!“
Denethor stützte seine Hände am Schreibtisch auf und blickte seinen Lieblingssohn ungehalten an.
„Es ist recht, dass Faramir diese Ausbildung macht. Er ist auf dem besten Wege, ein Weichling zu werden. Tag und Nacht vergräbt er sich in seinen Büchern. Statt zum Schwert, greift er zur Harfe. Das ist doch kein Leben für den Sohn eines Truchsess!“
„Aber Faramir ist nicht dazu geboren, Waldläufer zu werden. Das harte Leben in der Wildnis wird ihn zerstören!“
„Es wird ihn stärker machen“, entgegnete Denethor ruhig. „Du wirst sehen.“
„Lass ihm doch wenigstens noch ein Jahr Zeit“, bat Boromir seinen Vater. „Er ist doch fast noch ein Kind, gerade sechzehn Sommer alt.“
„Man kann mit der Soldatenausbildung niemals früh genug beginnen“, mahnte der Truchsess. „Gerade bei Faramir ist eine harte Hand erforderlich, damit er nicht zum Weichling verkommt. Wir leben in unruhigen Zeiten. Bald schon wird sich der Schatten Mordors über Gondor senken. Da muss auch Faramir in der Lage sein, das Schwert zu führen und ein Heer zu lenken.“
Boromir schüttelte seufzend den Kopf. Sein Vater war einfach zu stur. Er hielt Faramirs Sanftmut für Feigheit und seine geistigen Fähigkeiten für nutzlos.
Traurig ging er wieder zu Faramirs Gemach zurück.
Währenddessen betrat eine finstere Gestalt die Zitadelle.