Die finstere Gestalt, welche die Zitadelle betreten hatte, ließ sich zu Denethor bringen, der gerade sein Arbeitszimmer verlassen wollte. Der Truchsess blickte ungehalten drein, da er hungrig und müde war nach einem langen Arbeitstag.
„Wer seid Ihr?“, fragte Denethor mürrisch und fuhr sich durch die dunklen Locken.
Der Fremde schob seine Kapuze zurück, die ihm tief in das Gesicht fiel, und der Truchsess erkannte ihn. Der etwa vierzigjährige Mann mit dem Narbengesicht und den kalten grauen Augen war niemand anders als Baldor, der Unterhauptmann der Waldläufer Ithiliens.
„Ich habe Euch erst morgen früh hier erwartet“, brummte der Truchsess verdrossen. „Das heißt also, dass Ihr mit uns zu Abend essen wollt.“
Baldor verbeugte sich unterwürfig.
„Zu Eueren Diensten, Truchsess. Es war nicht meine Absicht, Euer letztes Nachtmahl mit Euerem Sohn Faramir zu stören. Allerdings hatte ich im fünften Festungsring der Stadt zu tun und bin deswegen so früh hier eingetroffen. Und ich traf…“
Denethor wedelte ungeduldig mit der rechten Hand.
„Schluss jetzt mit den Geplänkel! Wichtig ist, dass Ihr und Erichirion meinen Brief gut verinnerlicht habt. Ich hoffe, Ihr befolgt meine Anweisungen genauestens. Faramir muss hart herangenommen
werden. Er ist ein verweichlichtes Bürschlein, der seine Nase bisher nur in Büchern und Schriftrollen gesteckt hat. Faramir muss regelrecht Dreck fressen. Er soll ein harter Krieger werden, genau wie Boromir sein Bruder.“
Baldor grinste und zeigte dabei seine gelblichen Zähne.
„Für solche Fälle wie Eueren Sohn bin ich Spezialist. Ihr werdet sehen, dass ich aus ihm einen richtigen Mann machen werde.“
Faramir weilte währenddessen in seinem Gemach und überlegte, wieviele Schriftrollen in seinen großen ledernen Rucksack passten. Die Abende in der Wildnis konnten oft lang sein. Da konnte etwas Lesestoff nicht schaden. Er legte seine fünf Lieblingsschriftrollen auf sein Bett, etwas Wäsche, drei Tunikas, ein Umhang für die Kälte, und ein leichter Mantel für den Sommer.
Dann klopfte es energisch an seiner Tür. Faramir kannte das Anklopfen seines Vaters und seines Bruders. Und das schien jetzt keiner der beiden zu sein.
„Herein“, sagte er etwas verwundert und blieb vor seinem Bett stehen.
Die Tür ging auf und Baldor trat ein in seinem dunkelgrünen Kapuzenmantel. Faramir erschrak fast ein wenig über das grimmige Aussehen des Kriegers.
„Ich bin Baldor, der Unterhauptmann der Waldläufer“, stellte er sich bei dem Jüngling grinsend vor. „Ich werde dich morgen früh nach Ithilien geleiten.“
Er warf einen prüfenden Blick auf das Bett, auf welchem die Schriftrollen lagen.
„Diesen Plunder kannst du nicht mitnehmen“, stellte er kopfschüttelnd fest. „Nimm lieber einen Umhang mehr mit. Die Nächte in Ithilien können sehr rau werden. Handschuhe können auch nicht schaden. Hast du schon einmal ein Schwert in der Hand gehabt, Junge?“
„Eigentlich nur ein Übungsschwert aus Holz“, gestand Faramir verlegen.
Baldor runzelte die Stirn, als er das hörte. Nachdenklich ging er in dem Gemach auf und ab.
„Und wie steht es mit dem Bogenschießen?“, fragte er besorgt.
„Das macht mir großen Spaß“, sagte Faramir breit lächelnd. „Ich besitze sogar einen Bogen. Seht her!“
Er ging in eine Ecke des Gemachs und holte einen Kurzbogen hervor, der nach elbischer Art gearbeitet war.
„Was ist denn das für ein Spielzeug?“, spottete Baldor höhnisch. „In Ithilien benutzen wir nur Langbögen. Da brauchst du Kraft, Kleiner.“
Faramir ärgerte sich über Baldurs Verhalten.
„Ich bin Denethor Sohn, mein Herr“, erklärte der Jüngling stolz. „Ich erwarte mehr Respekt von Euch.“
Das brachte Faramir eine saftige Ohrfeige von Baldor ein.
„Das ist die erste Lektion, Junge“, erwiderte der Waldläufer finster. „In Ithilien gibt es keinen Sohn des Truchsess. Ab jetzt bin ich der Herrscher und du der Untertan. Ihr Rekruten seid alle gleich und müsst euch erst hochdienen bei den Soldaten. Die Waldläufer Gondors sind eine Spezialeinheit des Heeres und von euch wird doppelt so viel Disziplin erwartet wie von den anderen. Schon das geringste Versagen kann den Tod bedeuten, merk dir das!“
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang verließ Faramir mit hängendem Kopf die Stadt. Der Abschied zwischen seinem Vater und ihm war reichlich kühl ausgefallen. Nur Boromir hatte ihn fest in den Arm genommen und hatte versprochen, ihn so bald wie möglich in der hölzernen Festung, in welcher die Ausbildung der Waldläufer stattfand, zu besuchen. Faramir hatte Baldors Rat befolgt und statt Schriftrollen warme Kleidung eingepackt. Der Rucksack war ziemlich schwer und drückte schon bald auf die schmalen Schultern des jungen Mannes. Vergeblich hatte Faramir gehofft, man würde zu Pferde nach Ithilien reiten, doch Baldor hatte nur hämisch gelacht und gesagt, dass die Waldläufer ausschließlich zu Fuß unterwegs seien. Pferde waren in den dichten Wäldern Ithiliens eher hinderlich als nützlich.
In Osgiliath warteten weitere fünf Jünglinge in Faramirs Alter, welche Baldor als neue Rekruten mit nach Ithilien nehmen sollte.
„Was für ein Kindergarten“, murmelte Baldor kopfschüttelnd, als er einen prüfenden Blick auf die Neuen geworfen hatte.
Faramir war froh, dass er einige Leidensgenossen gefunden hatte und er fragte die anderen nach ihren Namen. Doch die reagierten seltsam abweisend, als sich der Sohn des Truchsess vorstellte. Nur ein kleiner, dünner Junge mit kurzgeschorenen braunen Haaren war freundlich zu Faramir.
„Ich bin Damrod“, sagte der Kleine lächelnd. „Mein Vater möchte, dass ich Waldläufer werde.“
„Bist du überhaupt schon sechzehn?“, raunzte ihn Baldor schlechtgelaunt an. „Du siehst aus wie ein Kind.“
Faramir blickte den Unterhauptmann empört an, während die anderen vier Rekruten höhnisch lachten. Wie konnte ein Krieger, der junge Waldläufer ausbildete, sich so respektlos verhalten, nur weil jemand nicht so groß gewachsen war wie andere! Er sah, dass Tränen in Damrods Augen standen, und er beschloss, sich ab jetzt um den Jungen zu kümmern.
„Du kannst gerne an meiner Seite bleiben“, sagte Faramir leise zu Damrod. „Du hast in meiner Nähe nichts zu befürchten.“
„Der Sohn des Truchsess spielt den großen Beschützer“, spottete einer der anderen Rekruten, der Malir hieß.
Faramir funkelte ihn böse an. Malir war ein großer, hübscher Siebzehnjähriger mit kohlschwarzen, schulterlangen Locken und eisgrauen Augen. Auf seinen Wangen sprießte schon dunkler Flaum und ließ ihn erwachsener scheinen als er eigentlich war. In seinem Gürtel steckte ein kunstvoll gearbeitetes Kurzschwert. Auch seine Kleidung wirkte fast so nobel wie die von Faramir.
„Wer bist du?“, fragte Faramir finster.
„Ich bin Malir, Turions Sohn“, erwiderte der Große stolz.
Faramir wusste, dass Turion der Bürgermeister von Osgiliath war. Ein arroganter, machtgieriger Mann, welcher bei den Einwohnern der Stadt am Anduin äußerst unbeliebt war. Und sein Sohn schien ganz nach ihm zu geraten.
„Warum willst du Waldläufer werden, Malir?“, fragte Faramir direkt. „Ist das nicht unter deiner Würde?“
„Weil…weil mein Vater es wünscht“, sagte der junge Mann plötzlich kleinlaut.
Er verschwieg, dass es eine Strafe war, denn sein Vater hatte ihn im Stall erwischt, als er sich einem Mädchen unsittlich genähert hatte.
Doch Malir hatte sich schnell wieder in der Fassung.
„Eigentlich geht es dich gar nichts an, Faramir, Denethors Sohn.“ Die letzten Worte hatte er spöttisch betont.
Inzwischen war es Mittag geworden und die Sonne brannte heiß vom Himmel. Die sechs Jünglinge schwitzten und stöhnten in der Hitze, doch Baldor trieb sie unbarmherzig voran. Erst als sie die Wälder Ithiliens erreicht hatten, ließ er die Jungen Rast an einer Quelle machen, wo sie sich laben konnten. Faramir setzte den schweren Rucksack ab und wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. Der kleine Damrod lag japsend auf dem Boden und versuchte sich die Stiefel auszuziehen.
„Trinkt, so viel ihr könnt“, befahl Baldor grimmig. „Das nächste Mal bekommt ihr erst in der hölzernen Festung etwas. Und du, Kleiner, lass gefälligst deine Stiefel an! Wir gehen gleich weiter.“
„Ist es noch weit?“, fragte Damrod stöhnend und rappelte sich auf.
„Noch gute fünf Meilen durch den Wald“, sagte Baldor verdrossen. „Wenn wir uns beeilen, erreichen wir die Festung vor Sonnenuntergang.“
Auch Faramirs Füße taten bereits weh. Er ahnte, dass er sich schon einige Blasen geholt hatte, denn solche Gewaltmärsche war er nicht gewohnt. Er vermisste sein treues Pferd Sunir, einen großen, braunen Zelter.
Doch schon bald ging es weiter und Baldor trieb die Jungen unbarmherzig durch das Dickicht. Selbst der selbstbewusste Malir spuckte keine großen Töne mehr und presste angestrengt die Lippen zusammen.
Als die Sonne langsam im Westen hinter dem Weißen Gebirge versank, erreichten die erschöpften Wanderer endlich eine Waldlichtung, wo eine kleine Burg lag, welche ganz aus Holz errichtet und von einem Palisadenzaun umgeben war. Es gab auch mehrere hölzerne Wachtürme, und ein Horn ertönte von einem davon, als sich der kleine Trupp dem Tor näherte. Faramir lächelte schwach: der Hornstoß war kein Vergleich zum Horn Gondors, welches sein Bruder besaß. Einmal hatte er es vernommen, als die beiden Brüder in den Druadanwald geritten und in Gefahr geraten waren, als sie von Geächteten angegriffen worden waren. Das Horn Gondors hatten einen kraftvollen dunklen Klang, der hunderte Meilen weit zu hören war.
Das Tor der hölzernen Festung öffnete sich und ein älterer Mann mit einem weißen Bart und in grün-brauner Waldläuferkleidung begrüßte die neuen Rekruten. Er war niemand anders als Heermeister Erichirion, der oberste Kommandant der Waldläufer Gondors.
„Willkommen in der hölzernen Festung, junge Rekruten!“, rief er mit einer kraftvollen, tiefen Stimme. „Ab jetzt ist das hier euere neue Heimat, bis euere Ausbildung beendet ist.“
Faramir spürte sofort, dass Erichirion ein gütiger Mann war, im Gegensatz zu dem mürrischen, hartherzigen Baldor.