Das Nachtmahl wurde in der hölzernen Festung unter freiem Himmel eingenommen. Staunend sahen die neuen Rekruten zu, wie die Waldläufer in Windeseile Tische und Bänke aus Holz aufstellten und dann trugen mehrere kräftige Männer mit Schürzen große Kessel auf Holzstangen aus einem der Gebäude. Faramir konnte riechen, dass es sich um einen leckeren Eintopf handelte und sein Magen knurrte laut. Damrod kicherte deswegen neben ihm und Faramir gab ihm einen freundschaftlichen Knuff.
„Ihr benehmt euch wie zwei alberne Mädchen“, lästerte der schwarzhaarige Malir hinter ihnen.
„Halt einfach deinen frechen Mund!“, zischte Faramir ihm verdrossen zu.
„Wir beide sprechen uns noch“, drohte der Bürgermeistersohn aus Osgiliath finster.
Einige andere Männer, die auch wie Küchengehilfen gekleidet waren, brachten Brotkörbe, Wein und Wasser. Die Rekruten mussten sich an einen Tisch setzen und Faramir merkte, dass es außer ihnen noch mehr junge Leute gab, die Waldläufer werden wollten. Er zählte etwa dreißig Jünglinge. Malir spuckte große Töne bei Tisch und hatte sogleich mehrere Bewunderer um sich. Faramir verdrehte ärgerlich die Augen und fragte sich im Stillen, warum die Knaben auf dieses Großmaul hereinfielen. Er selbst saß mit Damrod etwas abseits am Ende des langen Tisches. Ein weiterer Junge hatte sich zu ihnen gesetzt. Er war wirkte schweigsam und traurig.
„Wie heißt du?“, wollte Faramir mitleidig wissen.
„Meine Name ist Mablung“, sagte der hochgeschossene Junge bedrückt. „Ich bin vor ein paar Tagen hier angekommen, und ich habe immer noch Heimweh.“
„Das werden wir alle hier bekommen“, meinte Faramir schwach lächelnd. „Mach dir keinen Kopf deswegen.“
„Du bist wirklich in Ordnung“, seufzte Mablung ein wenig erleichtert. „Faramir heißt du?“
„Er ist der Sohn des Truchsess“, fügte Damrod stolz hinzu. „Hast du das gewusst?“
Faramir wurde ein wenig rot, er mochte es nicht, wenn man zu oft sagte, wer er eigentlich war.
Das dies kein guter Einfall war, zeigte sich gleich wieder an Malirs Verhalten. Er stand plötzlich neben Faramir und spielte mit seinem wertvollen Kurzschwert herum.
„Als Sohn des Truchsess bist du bestimmt ein guter Schwertkämpfer“, murmelte der Schwarzlockige vor sich hin. „Vielleicht sollten wir uns mal im Zweikampf messen.“
„Ich habe kein Schwert“, erklärte Faramir ruhig. „Außerdem ist das jetzt nicht angebracht. Schau, die Offiziere blicken schon auf uns herüber.“
„Bist du feige?“, spottete Malir angriffslustig und gab Faramir einen Schlag auf die Schulter.
Jetzt wurde es auch dem besonnenen Sohn des Truchsess zu viel und er fuhr hoch.
„Du kannst mein Schwert haben“, sagte einer von Malirs neuen Freunden und überreichte Faramir seine Waffe. Es handelte sich um ein neues Langschwert, das aber zu unhandlich für einen Anfänger war.
„Komm, greif mich an!“, lockte Malir und umtänzelte Faramir mit seinem Kurzschwert.
Erichirion hatte genug gesehen und er gab Baldor einen Wink. Der Unterhauptmann ging zwischen Malir und Faramir.
„Was fällt euch ein!“, herrschte er die beiden Jünglinge grimmig an. „Wenn ihr zu übermütig seid, dann werdet ihr heute Nacht die gesamte Wäsche der Offiziere waschen!“
Malir und Faramir standen da wie begossene Pudel. Vor allem Faramir konnte nicht glauben, dass er genauso hart bestraft wurde wie der aggressive Malir.
„Das dürft Ihr nicht tun“, ging plötzlich der kleine Damrod mutig dazwischen. „Malir provoziert Faramir die ganze Zeit.“
„Du wäscht auch mit!“, befahl Baldor streng. „Und ihr dürft nicht eher schlafen gehen, bevor die ganze Wäsche fertig ist. Und wehe, ich höre euch nochmal streiten!“
Kurz darauf verließen das ungleiche Trio die hölzerne Festung mit der Wäsche, die sie in Weidenkörben trugen. Sie hatten auch Seife mitgenommen als Waschmittel. Niemand redete ein Wort. In der Nähe der Festung gab es einen Bach, an welchem sie waschen sollten. Der Mond schien hell auf das Wasser und Earendils Stern strahlte gütig vom Nachthimmel. So hatten sie einigermaßen Licht bei der Arbeit. Malir presste mißmutig die Lippen zusammen, während er die Unterbekleidung eines Offiziers mit einem Seifenstück bearbeitete. Faramir und Damrod unterhielten sich leise bei der Arbeit. Plötzlich hörten sie im nahen Wald Kampfgeräusche: Schwerter klirrten und Pfeile flogen. Jemand schrie gellend auf. Es waren auch andere, nicht menschlich klingende Stimme zu hören.
„Das sind Orks“, stammelte Malir entsetzt und sprang auf.
Faramir und Damrod sahen sich an: auch sie hatten Angst. Und niemand von ihnen hatte eine Waffe dabei. Baldor hatte Malir das Kurzschwert abgenommen.
Auf einmal kam eine große Gestalt im Kapuzenmantel aus dem Wald gerannt. Er lief direkt auf die drei Jungen zu.
„Lauft so schnell ihr könnt!“, bellte er das Trio an. „Orks haben uns angegriffen. Rasch!“
Faramir und die anderen folgten ihm. Ein Pfeil flog dicht an Damrods Ohr vorbei und er schrie vor Angst auf. Sie liefen jetzt um ihr Leben.
Die Wachen auf den Türmen der hölzernen Festung hatten sie beobachtet und ließen rasch das große Holztor öffnen.
Atemlos kamen der Waldläufer und die drei Jungen im Hof an. Sie blieben keuchend stehen und rangen nach Luft.
„Wo ist die Wäsche?“, herrschte Baldor Faramir wütend an.
„Lass ihn in Ruhe!“, sagte der Waldläufer streng. „Die Orks haben meine Begleiter getötet. Gleich da drüben im Wald. Wenn ich die Rekruten nicht mitgenommen hätte, wären sie jetzt auch tot.“
„Geht schlafen“, befahl Baldor den dreien. „Madril und ich müssen mit dem Heermeister sprechen.“
Faramir wandte sich noch einmal an den Waldläufer, der sie alle drei gerettet hatte.
„Ich danke Euch, Madril.“
Der etwa dreißigjährige Mann mit dem Stoppelbart lächelte kurz und nickte Faramir freundlich zu.
In dieser Nacht schlief Faramir wie ein Toter. Der lange, harte Tag forderte seinen Tribut. Zusammen mit Damrod und den anderen Rekruten musste er sich einen Schlafraum in der Festung teilen. Die Betten bestanden aus Strohmatratzen, die auf dem harten Lehmboden lagen. Aber es machte Faramir nichts aus. Er war einfach viel zu müde. Doch bereits im Morgengrauen war die Nacht zu Ende.
„Aufstehen!“, brüllte Baldor in den Raum.
Wenig später saßen die etwa dreißig Rekruten bei einem kargen Frühstück, das aus Haferbrot, Ziegenmilch und getrockneten Apfelringen bestand. Faramir war natürlich von zuhause besseres Essen gewohnt. Er dachte an das frischgebackene Weißbrot, den Honig und die rahmige Butter, die es in der Zitadelle zum Frühstück gab. Dagegen schmeckte das Haferbrot der Waldläufer einfach nur fade und trocken. Die Ziegenmilch war gewöhnungsbedürftig und die Apfelringe waren ohne besonderen Geschmack. Wenigstens war Malir etwas in sich gekehrter als am gestrigen Tag. Nur Baldor war weiterhin grimmig. Er ließ den Rekruten kaum Zeit zum Essen. Schon nach wenigen Minuten trieb er die jungen Männer in den Hof der Festung und drückte jedem ein Holzschwert und ein Schild in die Hand. Die meisten Rekruten waren ziemlich unsicher und ungeübt. Nur Malir strahlte über das ganze Gesicht und jonglierte kunstvoll mit dem Holzschwert herum.
Baldor klatschte spöttisch Beifall.
„Sehr schön!“, höhnte er. „Mit dieser Vorstellung könntest du glatt unter die Spielleute gehen. Ich möchte jetzt mal sehen, wie du dich gegen unseren kleinen Truchsess machst.“
Mit diesen Worten drehte er sich zu Faramir um, der erst einmal schluckte. Natürlich konnte dieser mit einem Übungsschwert einigermaßen kämpfen. Boromir war ein guter Lehrer gewesen. Er wusste allerdings nicht, ob Malir nur ein großes Maul riskierte oder auch tatsächlich mit Waffen umgehen konnte.
„Los geht’s!“, feuerte Baldor die beiden Rekruten an, und die anderen umringten sie neugierig.
Malir ging sofort mit erhobenem Schwert auf Faramir los. Doch dieser parierte Malirs ersten Hieb überraschend gut. Der schwarzlockige Jüngling blickte etwas erstaunt und versuchte nachzusetzen. Faramir wich geschickt aus und schlug zurück. Malir hatte nicht damit gerechnet und wurde am Oberarm getroffen. Mit einem Schrei ließ er sein Holzschwert fallen und hielt sich die verletzte Stelle. Die Rekruten klatschten begeistert für Faramir Beifall. Baldor verzog jedoch nur das Gesicht.
Faramir ging mitleidig zu Malir hin.
„Tut es sehr weh? Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Es geht schon“, presste Malir tapfer hervor. „Ich dachte nicht, dass du so gut kämpfen kannst.“
„Dachtest du, wir spielen in der Zitadelle nur mit Harfen?“, fragte Faramir etwas verdrossen. „Ich habe viel von Boromir, meinem Bruder, gelernt.“
„Boromir“, flüsterte Malir ehrfürchtig. „Der beste Schwertkämpfer Gondors!“
Baldor stoppte jetzt rüde die Unterhaltung.
„Wir sind hier nicht da, um Maulaffen feilzuhalten, sondern um zu üben. Jetzt nimmt sich jeder ein Schwert und versucht der Reihe nach gegen Faramir anzutreten.“
Faramir traute seinen Ohren kaum, als er das hörte. Er sollte gegen alle Rekruten nacheinander kämpfen? Seine Kräfte hatten auch Grenzen. Baldor jedoch grinste böse. Er wollte Faramir unbedingt erniedrigen.
Gegen die ersten zehn Rekruten tat sich Faramir noch leicht, weil die meisten von ihnen fast gänzlich unerfahren im Schwertkampf waren. Doch dann verließen ihn allmählich die Kräfte und er machte Fehler. Einige Male wurde er auch hart an Armen und Beinen getroffen. Als der einundzwanzigste Gegner, ein kräftiger Junge aus Anórien, gegen ihn antrat und ihn mit dem Schwert an der Hüfte traf, sank Faramir erschöpft auf die Knie. Sein ganzer Körper schmerzte und er war am Ende seiner Kräfte.
„Ist das schon alles, Faramir, Denethors Sohn?“, fragte Baldor höhnisch. „Du wirst doch nicht jetzt schon schlappmachen?“
Jetzt fasste sich plötzlich Malir ein Herz und trat vor dem Unterhauptmann tapfer hin.
„Ihr seht doch, dass er nicht mehr kann! Lasst mich für ihn weiterkämpfen.“
„Du wagst es, mir zu erklären, was ich zu tun und zu lassen habe?“, herrschte Baldor ihn grimmig an. „Dafür wirst du die heutige Nacht im Wachturm verbringen und du wirst keine Minute schlafen.“
Das war wirklich eine harte Strafe und Faramir war fassungslos, wie grausam der Ausbilder handelte. Er hatte gute Lust, diesem Mann die Meinung zu sagen, aber er wusste, dass dies weder ihm noch Malir etwas brachte. Eher würde dies die Lage noch mehr verschlechtern. Er wunderte sich nur, dass Heermeister Erichirion Baldor einfach gewähren ließ.
Immerhin beendete Baldor jetzt das Üben mit den Schwertern und schickte die Rekruten zum Mittagessen.
Am Nachmittag bekamen die Rekruten Langbögen zum Üben. Bis auf Malir und Faramir schaffte niemand, solch einen fast mannshohen Bogen zu spannen.
„Was seid ihr nur für Schwächlinge!“, höhnte Baldor kopfschüttelnd. „Ich frage mich wirklich, wie ihr gegen ein Orkheer überleben wollt.“
Nach der harten Übungseinheit mit den Langbögen waren die jungen Rekruten müde. Doch Baldor verlangte noch einen Marsch durch den Wald von ihnen. Zum Glück gebot Heermeister Erichirion Einhalt.
„So lange wir die Orkbande im Wald noch nicht unter Kontrolle haben, ist das zu gefährlich. Die Rekruten haben für heute genug geübt. Sie sollen sich ausruhen.“
Baldor nickte finster. Man sah ihm deutlich an, dass ihm Erichirions Eingreifen nicht gefiel. Er gab den Rekruten einen Wink und zog sich beleidigt zurück.
Damrods Finger bluteten von dem harten Bogentraining und Mablung jammerte über Schulterschmerzen. Malir gähnte verstohlen. Er hatte noch eine harte Nacht vor sich. Faramir hatte Mitleid mit ihm. Schließlich war der junge Bürgermeistersohn für ihn eingetreten.
Die Nacht war sehr kalt und Faramir war froh, dass er sich in seine warme Decke im Schlafraum wickeln konnte. Obwohl er müde war, konnte er einfach nicht einschlafen. Er beschloss, Malir auf dem Wachturm etwas Gesellschaft zu leisten. Als er seinen warmen Umhang am Hals befestigt hatte, verließ er auf leisen Sohlen den Schlafraum. Draußen war es sehr dunkel. Nicht einmal der Mond schien heute. Als er den Turm erreicht hatte, kletterte er vorsichtig die schmale Treppe hinauf. Man musste im Dunkeln sehr aufpassen, damit man nicht ausrutschte oder stolperte.
„Halt, wer ist da?“, fragte Malir unsicher von oben.
„Ich bin es nur, Faramir“, antwortete dieser und erklommt die letzten Stufen.
„Was machst du hier?“, zischte Malir erstaunt, konnte aber trotzdem ein erfreutes Grinsen nicht unterdrücken.
„Ich wollte dir Gesellschaft leisten“, erklärte Faramir lächelnd. „Schließlich bist du wegen mir hier.“
„Ach was“, winkte der Schwarzgelockte gönnerhaft ab. „Das hättest du für mich auch getan.“
„Bist du dir da so sicher?“, entgegnete Faramir spöttisch grinsend.
Malir musste kichern, und der Sohn des Truchsess setzte mit ein.
Plötzlich hörten sie einen merkwürdigen Tierlaut vom Wald her und beide sahen sich erschrocken an.