Ihr Smial liegt ganz am Rande von Untertürmen, und sein größtes Fenster schaut nach Westen. Sie hat nicht viel verändert, als sie vor etwa zehn Jahren eingezogen ist, aber dieses Fenster wurde auf ihren Wunsch hin in die Wand gebrochen. Es hat einigen Aufruhr gegeben um dieses Fenster, aber Frau Elanor Schönkind, die Frau des Verwalters, hat die Handwerker angewiesen, die Wünsche der neuen Bewohnerin getreulich zu erfüllen. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass das Loch auf ihren Wunsch hin die Wand kam, und das Fenster ist so groß, dass die Nachbarn die alte Frau nach Sonnenuntergang dort sitzen sehen können, über ihren Schreibtisch gebeugt, während sie im Licht einer Kerze schreibt.
Sie kam allein, ein Jahr bevor der legendäre Bürgermeister von Hobbingen - und Vater von Frau Elanor - zum letzten Mal durch Untertürmen kam. Er verschwand auf seinem Pony hinter den Fernen Höhen, um nie zurückzukehren. Manche sagen, er habe auch die alte Frau besucht, aber das ist nur ein Gerücht, wie viele andere Geschichten, die man sich über sie erzählt. Scheinbar war sie die Hebamme von Hobbingen, und das ist wahr. Andere aber sagen, sie hätte Mann und Kindern in dem Jahr des Schreckens verloren, bevor der König gekrönt wurde, und das stimmt nicht; die Kinder, denen sie auf die Welt geholfen hat, waren von anderen Müttern, und sie trägt noch immer ihren Mädchennamen.
Narzissa Schönkind, Frau Elanors Schwägerin, ist die Heilerin von Untertürmen. Sie ist jung, rundlich und freundlich, und sie hat die alte Frau nach ihrem ersten Julfest im Ort getroffen, als sie ihr eine Schäferpastete aus der Küche des Verwalters brachte. Es hat nicht lang gedauert, bis sie die Bücher über Kräuter und Heilkunde in den Regalen entdeckte, und innerhalb einer Woche ist sie sich sicher gewesen, dass die alte Frau mehr über Kräuter und Heilmittel vergessen hat, als sie je die Hoffnung hat zu lernen, selbst aus einem Dutzend dicker Wälzer. Bald hat sie angefangen, einige Patienten zu dem kleinen Smial mitzubringen oder dort hinzuschicken; sie und die alte Frau führen so manches Gespräch, während sie mit Büchern vor sich am Küchentisch sitzen und der Duft der Kräuter, die über ihren Köpfen trocknen, ihnen den Tee versüßt. Narzissa staunt über die eng beschriebenen Blätter, die sich auf dem kleinen Schreibtisch im Studierzimmer stapeln. Ihre Gastgeberin hat Humor und einen manchmal sehr ironischen Witz, aber bei all ihrer Freundlichkeit war sie noch nie bereit, über diese Blätter zu sprechen und Narzissa spürt eine ungewöhnliche Scheu, danach zu fragen.
Sie muss einmal schön gewesen sein, und auf eine stille, unauffällige Weise ist sie es immer noch. Sie hält sich gerade und ihr von Falten durchzogenes Gesicht ist ruhig und freundlich. Ihre Augen sind klar, nicht durch das Alter verschleiert oder von ihren Erfahrungen getrübt. Sie hat kleine, geschickte Hände, die noch immer kleine Wunden versorgen und die Furcht eines verängstigten Kindes vertreiben können. Ihr Haar ist dicht und grau; feine, weiße Strähnen leuchten in der Sonne wie poliertes Silber, wenn sie einen ihrer langen Spaziergänge macht… manchmal von Frau Elanor und ihrer Tochter Fíriel begleitet, häufiger aber allein.
Einmal im Jahr, im September, geht ihre Wanderung zu den drei alten Elbentürmen, die sie von ihrem großen Fenster aus sehen kann, und nur zu dieser Zeit geht sie nicht an ihnen vorbei. Sie steigt den langen, grünen Hügel hinauf, betritt den größten der Türme und folgt den Stufen hinauf bis zur Spitze. Ihre Schritte sind langsam und ein bisschen vorsichtig; leicht geschwollene Knie und schmerzende Füße sind der Preis, den sie für ihr langes Leben zahlt. Aber da sind noch ältere Schmerzen, gebunden an die Erinnerung an eine andere Zeit, und kraftvolle, vielfarbige Bilder regen sich in ihrem Geist, während ihre schweren Beine sie bis auf die höchste Plattform tragen.
Sie tritt ins Freie, und die Möwen schreien über ihrem Kopf und segeln auf der frischen, salzigen Brise. Himmel und Wasser verschmelzen am Horizont zu einer verschwommenen Linie aus weichem Blau, und sie hebt den Kopf und blickt hinaus aufs Meer. Das Muster ist in jedem Jahr dasselbe. Zuerst denkt sie an Sam… sein altes Gesicht und sein schneeweißes Haar, den Körper gebeugt von Jahren der Arbeit und der liebevollen Sorge… aber zur gleichen Zeit eine große, unerschütterliche Hoffnung, hell wie die Sonne in seinen müden Augen.
Hast du von mir gesprochen, alter Freund? Oder hast du völlig vergessen, was ich dich gebeten habe zu sagen… als du ihn gesehen hast, wie er dort stand und auf dich wartete in diesem fremden, elbischen Land? Als du seine Hände berühren und seine Augen sehen konntest, und als du seine willkommen heißenden Arme um dich gespürt hast?
Die Finger des Windes ziehen dicke Strähnen aus ihrer Haarkrone und das Geräusch der Wellen füllt ihre Ohren und sinkt tief in ihr Herz. Und da ist die nächste Erinnerung... ein nebliger, früher Herbstmorgen vor siebzig Jahren und das Gesicht, das sie nie vergessen hat, dicht vor dem ihren. Die Hand, an der der Finger fehlt... langsam liebkost sie ihr Gesicht, als wollte er sich an seine Form und die Beschaffenheit ihrer Haut erinnern.
Erinnerst du dich an dein letztes Versprechen, Geliebter? Erinnerst du dich an mich?
Er war immer in ihren Träumen. Aber wird er auf sie warten, wenn sie die Grenze überschreitet… oder wird sie dazu verdammt sein, die unbekannten Pfade der anderen Welt allein zu durchwandern, ohne ihn an ihrer Seite?
Es war so ein langer Weg, mein Liebster, so ein langer und einsamer Weg.
Sie steht immer noch dort, als die Sonne in purpurnem Glanz untergeht, das Wasser berührt und den Ozean in flüssiges Gold und Feuer verwandelt.
Erinnerst du dich?