„Sie ist fort…“, flüsterte Elrohir und seine Stimme klang gebrochen. Elladan nickte nur. Sie saßen gemeinsam auf dem Bett in Elladans Zimmer. Ihre Gedanken waren wie betäubt. So vieles wollte durch ihren Kopf schießen, doch stattdessen herrschte dort nur eine schreckliche Leere.
Celebrian, ihre geliebte Mutter, war in den Westen aufgebrochen. Allein. Elladan lehnte seine Stirn an Elrohirs Schulter. Dieser strich seinem Bruder durch das rabenschwarze Haar. „Wieso?“ Das war das Einzige, was Elladan hervorbringen konnte. Sein Zwilling verstand ihn. Er fühlte genauso. Zwischen ihnen waren nie viele Worte nötig gewesen. Sie waren sich näher als nur Brüder. Sie verstanden einander. Und sie brauchten einander. Ihr ganzes Leben lang waren sie für einander da gewesen.
Elrohirs Gedanken schweiften für einen Augenblick ab. Sie wanderten zu seinem Bruder. Elladan war immer an seiner Seite gewesen. Sie hatten sich immer gegenseitig Trost spenden können. Und so war es auch jetzt. Elladan legte sich auf den Rücken und Elrohir tat es ihm nach. Beide starrten zur Decke. Allein die Tatsache, zu wissen, dass keiner von ihnen allein war, bewahrte ihre Herzen davor, endgültig zu brechen. Elrohir drehte sich zur Seite und legte seinen Kopf auf Elladans Schulter. Er spürte nur diese Nähe. Und doch war in ihm eine unendliche Leere.
Eine der Personen, die er am meisten geliebt hatte, war nun fort. Er wusste, dass er sie nie wiedersehen würde. Außer im Tod. Und diese Gewissheit nagte an ihm. Elladan ging es genauso. Er nahm seinen Bruder in den Arm. Er wollte jetzt nicht allein sein. Stumme Tränen rannen über seine Wangen. Er sah seinem Zwilling in die Augen und es war, als wenn er in den Spiegel gesehen hätte. In den Augen seines Bruders lagen Verzweiflung und Trauer. Und er spürte diese Gefühle genauso.
Elrohir wusste das und strich seinem Ebenbild sanft die Tränen von den Wangen. Er schmiegte sich noch näher an ihn und schloss die Augen. Keiner der beiden wusste, wie lange sie so gelegen hatten. Eng umschlungen. Elladan hatte die Arme hinter Elrohirs Nacken verschränkt und sein Kopf ruhte an seiner Schulter. Elrohir lag in der gleichen Position. Sie sprachen kein Wort. Von Zeit zu Zeit war nur ein kleiner Schluchzer von Elladan zu vernehmen. Auch Elrohir weinte. Es tat so weh. Sein Herz fühlte sich wund und geschunden an. Nur sein Bruder hielt noch die Einzelteile zusammen, bevor es gänzlich brach, das wusste er.
Nichts schien mehr wichtig zu sein. Weder Raum noch Zeit. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Es zählte nur noch der Augenblick. Nichts anderes. Elladan spürte den Herzschlag seines Bruders, der langsam gleichmäßiger wurde. Auch er konnte sich ein Wenig beruhigen. Doch der Schmerz würde nie ganz verheilen. Das wussten sie. Ihre Mutter würde immer eine Lücke bei ihnen hinterlassen. Diese Lücke konnte niemand füllen.
Als Elladan erneut einen Schluchzer hören ließ, zog Elrohir ihn noch fester an sich. Diese Geste spendete Trost. Ihnen beiden. Und es war genau das, was sie in diesem Moment brauchten. Sie mussten lernen, damit umzugehen, doch im Augenblick schien es unmöglich. Nur Trauer war da. Und die Liebe der beiden Brüder zu einander. Sie allein spendete Kraft. Und so fanden sie für den Augenblick Ruhe. Elrohir driftete langsam in einen leichten Schlaf ab. Und wenig später folgte ihm Elladan…
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„Was glaubst du, wie sie damit umgehen?“, fragte Elrond mit gebrochener Stimme an seinen Berater und besten Freund gewandt. Glorfindel stand ihm gegenüber. Sein Gesicht war sorgenvoll. Er betrachtete den dunkelhaarigen Elben vor ihm. Dann zwang er sich zu einer Antwort. „Sie werden Trost in dem jeweils anderen finden. So wie immer.“ Elrond nickte bedeutungslos. Er spürte nur noch Leere und Verzweiflung.
Wieso war sie gegangen? Jetzt war er allein. Der blonde Elda sah in seine Augen. Er sah so viel tiefer als die meisten anderen. Er kannte ihn. Von den innersten Grundfesten seines Wesens an. Und es genügte ein Blick von seinem Freund um alles über ihn zu erfahren. Und Glorfindel sah. Er sah, was Elrond fühlte. Er ging zwei Schritte auf ihn zu und umarmte ihn. Elrond blieb bewegungslos. Er war nicht in der Lage zu reagieren.
Er hätte seinem Freund jetzt das Gefühl der Freundschaft und Liebe entgegenbringen müssen. Er hätte ihm danken müssen, für all das, was er für ihn getan hatte. Doch Elrond konnte es nicht. Er fühlte sich nicht fähig. Ein Gefühl in ihm übertönte alle anderen: Schmerz. Und doch tat es gut, zu wissen, dass sein bester Freund für ihn da war, einfach nur seine Nähe zu spüren. Es war schließlich niemand anderes da um ihn zu trösten.
In diesem Moment schämte Elrond sich für seine Gedanken. Glorfindel war keinesfalls eine Notlösung. Ihm konnte er seine Gefühle offenbaren. Er brauchte nichts zu verstecken, denn es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt. Sein Freund hätte es gespürt. Und Elrond war dankbar für ihn. Ohne ihn wäre er wahrscheinlich schon längst zerbrochen.
Glorfindel hatte ihn wieder losgelassen, stand nun wieder einen halben Schritt entfernt. Elrond nahm die Hand seines Freundes und drückte sie in Dankbarkeit. In diesem Moment konnte er ihm nicht in die Augen sehen, hatte Angst, diesem mächtigen Wesen zu begegnen, das sich hinter den Lidern der strahlenden Augen verbarg. Er fühlte sich so klein, so unvollständig. Celebrian war fort. Und mit ihr ein Teil von ihm. Neben den anderen Gefühlen in ihm spürte er jetzt auch ein wenig von der Liebe, die er empfand. Von der tiefen Freundschaft, die ihn mit diesem Elben verband.
Glorfindel war froh. Froh über Elronds Reaktion. Froh darüber, dass die Trauer noch nicht endgültig gesiegt hatte, dass sie ihn noch nicht völlig zerstört hatte. Mit einem Finger schob er Elronds Kinn nach oben, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Und was er dort sah, schmerzte ihn. Er sah das Fünkchen Freundschaft, das Fünkchen von Elronds wahrem Selbst, doch er sah auch die unermessliche Trauer und Hilflosigkeit. Elrond drohte zu zerbrechen, das wusste er. Er drohte zu schwinden, zu sterben an der endlosen Trauer, die sein Herz umfing. Doch das durfte er nicht. Glorfindel würde es ihm nicht gestatten. Er würde ihn nicht gehen lassen. Er wollte seinem Freund helfen. In den Augen seines Gegenübers sah er die Einsamkeit.
Er strich Elrond eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Dann zog er ihn erneut in seine Arme. Dieser von der Trauer betäubte Elb sollte wieder Nähe spüren. Er sollte wieder in der Lage sein zu fühlen. Nicht nur Trauer und Leid. Glorfindel wusste, dass Elrond in der letzten Zeit sehr stark gewesen war. Er hatte es sein müssen. Für seine Frau. Doch nun brach diese Fassade. Nun kam die Verzweiflung in ihm durch.
„Ech ú-eriol! Garo estel ned nin.“* Glorfindel flüsterte diese Worte an Elronds Ohr. Und sie drangen durch. Sie drangen durch den Nebel von Gefühlen, duch die Barriere aus Traurigkeit und Schmerz, bis zu seinem Herzen. Nun erwiderte Elrond die Umarmung. Noch etwas scheu, doch er tat es. „Hannon chen o guren, brûnmellon-nîn!“**, antwortete er. Glorfindel lächelte. Nach so langer Zeit lächelte er wieder. Denn er hatte Elrond erreichen können. Diese dunkle Mauer in ihm hatte noch nicht zu sehr Oberhand genommen. Es gab noch Hoffnung, auch wenn sie für Elrond zu fern schien, so sah er sie doch. Er wollte seinem Freund helfen. Er wollte für ihn da sein.
Glorfindel sah in die grauen Augen, die sonst solch eine Würde, Weisheit und Güte ausstrahlten, doch sie waren gebrochen. Sie waren stumpf und leer. Und doch war ein Funken Liebe darin. Nicht alles in Elrond hatte aufgegeben. Er strich ihm über die Wange und sah ihn an. Worte waren nicht mehr nötig. Und Elrond spürte den Trost. Er spürte die Wärme dieser Augen, die so tief in ihn eindrangen. Und er wusste endlich, dass er nicht mehr allein war…
*= Du bist nicht allein! Finde Hoffnung in mir.
**= Ich danke dir von ganzem Herzen, mein alter Freund!