Die Diener trugen das zerbrochene Horn Gondors in die Halle. Denethor sprang von seinem Sitz und entriss es ihnen mit zitternden Händen. Faramir senkte seinen Blick. Es war also wahr. Boromir war tot. Faramir hatte den Tod seines Bruders gespürt, doch er hatte gehofft, sich geirrt zu haben. Doch das zerbrochene Horn war der klare Beweis dafür, dass Boromir gefallen war.
"Mein Sohn ist tot!", heulte Denethor und stolperte zurück in seinen Sessel, das Horn fest umklammernd.
Faramir wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen, doch wie würde Denethor darauf reagieren? Er würde seinen jüngeren Sohn wegstoßen und ihn für schuldig erklären. Also blieb Faramir im Schatten vor dem Blick seines Vaters verborgen stehen und unterdrückte mit ganzer Kraft einen Schmerzensschrei.
Die Diener entfernten sich und ließen Vater und Sohn allein.
"Mein Sohn ist tot!", wiederholte Denethor und umklammerte das Horn noch fester, als wäre es seine letzte Erinnerung an Boromir.
Faramir hielt es nicht mehr aus und trat aus dem Schatten.
"Vater -"
Denethor sah ihn hasserfüllt an und Faramir ahnte schon, was gleich kommen würde...
Mit einem Gefühl, als ob Sauron selbst ihn foltern würde, stürmte Faramir aus der Zitadelle.
"Du bist nicht mein Sohn!", schrie ihm Denethor nach.
So sehr Faramir sich auch bemühte, sie zu überhören, trafen ihn diese Worte mitten ins Herz. Wo war sie? Wo war die Hoffnung? Wo war Esteriel? Ihre Stimme erklang beruhigend in seinem Kopf. Er ging durch die Straßen und hielt Ausschau nach dem Mädchen. Esteriel war nirgendwo zu finden. Hatte ihre Familie vielleicht Minas Tirith verlassen? So wäre sie wenigstens vor dem Angriff aus Mordor sicher und Faramir verstand das wohl, doch er wünschte sich dennoch, sie wiederzusehen.
Ihm kam ein Gedanke - War sie vielleicht in den Häusern der Heilung? Dort hatte er noch nicht gesucht.
Er betrat eine Halle, in der die Verwundeten auf dem Boden lagen, da es nicht genug Betten gab. Alles farblos. Von Überall hörte er das Weinen der Frauen und die Schmerzensschreie der Verwundeten. Und mitten in diesem Todesreich kniehte Esteriel mit ihrer Familie. Als Faramir näher trat, sah er zwei übel zugerichtete Gestalten. Die eine war ein älterer Mann. Seine Augen starrten ins Nirgendwo, wie die Fenster eines leeren Hauses. Esteriels Mutter schloss sie und umklammerte darauf schluchzend ihre Tochter. Esteriels Blick war auf die zweite Gestalt gerichtet. Es war ein sehr junger Mann. Fast noch ein Junge.
Faramir wollte Esteriel nicht stören und wandte sich zum Gehen, als ihre Familie sich erhob. Die beiden Toten wurden von einigen Soldaten auf Tragen gelegt und aus der Halle getragen. Esteriel und ihre Großmutter führten die Mutter, die sich von den beiden leblosen Körpern nicht trennen wollte. Esteriel hielt außerdem die Hand eines kleinen Jungen, dessen Augen verbunden waren. Er hielt in der anderen Hand einen Stock.
Der Heermeister eilte ihnen entgegen. Esteriel bemerkte ihn als erste, doch sie reagierte nicht. Momentan schien ihr alles egal zu sein.
Faramir legte die Mutter auf ihr Bett. Die Großmutter warf ihr eine Decke über und Esteriel brachte Wasser.
"Danke für Eure Hilfe", sagte die Großmutter leise. "Es tut mir sehr Leid wegen Eurem Bruder. Er war ein tapferer Krieger. Esteriel und Caranlad haben auch ihren älteren Bruder verloren. Er wurde gleich in seinem ersten Kampf tödlich verwundet. Und als ob das nicht genügen würde, hat's auch meinen Sohn getroffen!"
Faramir brachte kein Wort hervor. Diese Menschen trauerten anders als sein Vater. Sie schoben die Schuld nicht auf irgendjemanden, sondern versuchten, sich gegenseitig aufzumuntern. Er versuchte die Großmutter zu beruhigen, die in Tränen ausgebrochen war.
Wie würde die Familie weiterleben? Die beiden Männer waren tot und der Junge war viel zu jung und dazu auch noch blind.
"Ich lasse euch Lebensmittel zukommen", versprach er.
"Nein!", rief Esteriel entsetzt. "Das dürft Ihr nicht! Halb Minas Tirith befindet sich in unserer Lage. Ihr könnt doch nicht an die ganze Stadt die Vorräte verteilen. Falls wir belagert werden, werden wir sonst schneller verhungern!"
Sie hatte natürlich Recht. Und dennoch kämpfte Faramir mit sich selbst. Zu wissen, dass man nicht Menschen helfen kann, die aber dringend Hilfe brauchen, war für ihn eine grauenvolle Qual. In der Veste herrschte auch nicht gerade Hunger, also konnte man doch etwas an die Armen abgeben. Doch was würde sein Vater dazu sagen? Er würde Faramir verspotten und der Heerführer wusste, dass seine Nerven dann endgültig reißen würden.
"Ich muss zurück in die Häuser der Heilung", verkündete Esteriel und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Faramir begleitete sie. Er wusste, dass es jetzt anders war. Jetzt war es Esteriel, die seinen Beistand brauchte.
Éowyn stetzte sich neben ihren Gemahl und musterte ihn sorgevoll. Was war nur mit ihm los? Wann würde er es ihr denn endlich erklären?