Arda Fanfiction

Das neue Archiv für Geschichten rund um Tolkiens fabelhafte Welt!

Bevor ich schlafen gehe

von Cúthalion

Ein unerwünschtes Erbe

Es war nach dem Tod der alten Witwe Bolger, als Fredegar Stolzfuß klar wurde, dass irgendetwas an seiner Tochter ziemlich eigenartig war.

Fredegar kannte Myrte Bolger, seit er als Dreikäsehoch auf ihren Knien gesessen hatte und sie ihn mit Apfelstückchen fütterte. Jetzt war sie alt; ihre letzten Jahre hatte sie hauptsächlich im Smial ihres Enkels Mynto verbracht, dessen Vater vor beinahe sechzig Jahren seiner Frau zuliebe von Brückenfelde nach Hobbingen umgesiedelt war. Im Sommer von 1405 fügte das Schicksal ihren verschiedenen Altersgebrechen einen schweren Schlaganfall hinzu, und sie lag in ihrem Bett, unfähig sich zu rühren und zu sprechen, die linke Gesichtshälfte zu einer tauben Grimasse verzerrt.

Nach diesem Schlaganfall lebte Myrte fast noch ein halbes Jahr, und Fredegar gewöhnte sich an, kurz bei ihr vorbeizuschauen, wenn er von seinem Obstgarten nach Hause kam; Lily nahm er oft mit. Sie konnte etwas, das viele Hobbitkinder in ihrem Alter nicht fertig brachten... sie konnte schweigen und völlig still sitzen, und Myrte Bolger, die unruhig wurde, wenn sie lärmende oder ungeschickte Besucher um sich hatte, schien ihre Gegenwart zu genießen. Also ermutigten die Bolgers sie zu kommen, so oft sie mochte, und sie kam; eine schlanke Gestalt in Bluse und Leinenrock, die stundenlang am Bett der alten Hobbitfrau saß. Mynto Bolger schwor Stein und Bein, dass die beiden auf seltsame Weise miteinander sprachen – Lily flüsterte oft etwas in Myrtes Ohr oder schien zuzuhören (obwohl Myrte niemals auch nur ein einziges verständliches Wort sagte). Wenn das Mädchen mit seinem Vater nach Hause fuhr, war Myrte entspannt und friedlich, und ihr schiefer Mund schien zu lächeln.

„Bist du sicher, dass sie dich hören kann?“ fragte Fredegar, als er seine Tochter einmal im Juni heimbrachte.

„Natürlich tut sie das, Papa,“ sagte Lily ernsthaft. „Und sie erzählt mir Geschichten.“

„Geschichten?“ Fredegar ließ beinahe die Zügel seines Ponys fallen und starrte sie an. Sie war jetzt einundzwanzig, und in den vergangenen Monaten war sie sichtlich gewachsen; ihre Arme und Beine schienen zu lang und zu dünn zu sein, und sie bewegte sich mit der unbeholfenen Grazie eines jungen Fohlens. „Lily, sie kann nicht sprechen!“

„Kann sie doch.“ Lily lächelte. „Gestern hat sie mir von der Zeit erzählt, als sie ihren Mann Odo kennen gelernt hat. Das war auf dem Mittsommer-Jahrmarkt in Brückenfelde, und er hat ihr einen Becher Apfelwein über ihren neuen Rock geschüttet.“

Fredegar runzelte die Stirn; Lily hatte offenbar eine starke Einbildungskraft, und bei dem Gedanken, was ihre Mutter zu solchen Geschichten sagen würden zuckte er leicht zusammen. Trotzdem war er gegen seinen Willen fasziniert.

„Was hat sie dir denn noch erzählt?“ fragte er.

„Er liebte ihr Haar,“ sagte Lily träumerisch, „Er hat es jeden Abend gekämmt, wenn sie ihre Zöpfe aufgemacht hat, und er nannte sie mein braunes Pony.“

Fredegar schüttelte den Kopf. Um ehrlich zu sein, er war sich nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte. Lily liebte Märchen und dachte sich oft genug eigene Erzählungen aus, mit tapferen Hobbits, die weit reisten und in den Bergen schrecklichen Ungeheuern begegneten – wie Herr Bilbo, der den Drachen traf. Aber dies war irgendwie anders, und je länger er darüber nachdachte, desto unbehaglicher fühlte er sich. Aber er entschied, nichts zu sagen – noch nicht.

Lily setzte ihre Besuche fort, und von Zeit zu Zeit erzählte sie ihm eine andere von Myrtes Geschichten. Er hörte mehr über ihre Kinder, und von dem Tag, als ihr Enkel Mynto in den Wasserauer Teich fiel und beinahe ertrank.

„Sein Haar war nass und sein Gesicht kreidebleich,“ sagte Lily mit der verträumten Stimme, die sie immer hatte, wenn sie von Myrtes Erinnerungen sprach. „Sein Vater kniete neben ihm im Gras, er weinte und klagte. Und dann nahm sie Mynto und schüttelte ihn, und sie blies ihm ihren Atem in die Nase. Dann plötzlich hat Mynto gehustet und den halben Teich ausgespuckt und Myrte saß da und lachte und weinte gleichzeitig.“

Fredegar fühlte den Schauder, der ihm den Rücken hinunter rieselte. Aber er zwang seine Lippen zu einem Lächeln und war still.

Dann, in der Nacht zum ersten Juli, erwachte er ein oder zwei Stunden nach Mitternacht. Viola hatte die Vorhänge nicht zugezogen, und das weiße Licht eines riesigen Vollmondes durchflutete das Schlafzimmer und schien ihm geradewegs in die Augen. Er brauchte ein paar Momente, bis sein Kopf sich klärte, aber dann hörte er sehr leise Schritte von der anderen Seite der Tür her und war auf der Stelle hellwach. So behutsam wie möglich kroch er aus dem Bett und schlich sich aus dem Zimmer.

Die Tür zum Smial stand weit offen. Der Flur war taghell erleuchtet, und die schmale Gestalt seiner Tochter in ihrem Nachthemd zeichnete sich gegen den silbernen Glanz ab wie ein scharfer, schwarzer Scherenschnitt. Sie regte sich nicht, während er näher kam. Er trat neben sie und sah ihr Gesicht, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Es war weiß und eigenartig schön, und ihre Augen starrten, ohne zu sehen, blind vom Mondlicht. Zögernd legte er ihr eine Hand auf die Schulter, zog sie aber hastig wieder zurück; ihr Körper war angespannt wie eine Bogensaite und vibrierte unter einer Empfindung, das er nicht begriff.

„Lily?“ fragte er vorsichtig. „Kind... geht es dir gut?“

Langsam drehte sie den Kopf und ihre Augen begegneten sich.

„Sie ist fort,“ Ihre Stimme war klar und sehr leise. „Sie ist gegangen, gerade eben erst.“

„Wer?“

Er fühlte, wie er erschauderte. Du weißt wer, sagte eine ruhige Stimme in seinem Kopf. Du musst nicht fragen, oder?

„Großmutter Myrte,“ antwortete Lily. Fredegar stand stocksteif und starrte seine Tochter an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Dann schauderte er wieder. Er rang um Fassung, hob sie endlich auf und wiegte sie in seinen Armen, als wäre sie noch ein kleines Baby und nicht ein junges Mädchen auf dem Weg zur Frau.

Er trug sie in ihr Zimmer, legte sie auf ihr Bett und stopfte die Decken um sie fest, als bräuchte sie diesen Trost; die ganze Zeit war ihr Gesicht still und friedlich, und als er sie auf die Stirn küsste, kuschelte sie sich tiefer in die Kissen und schloss die Augen. Er stand minutenlang da und schaute auf sie herunter. Jetzt war sie wieder sein Kind, und nicht dieses fremde, Angst einflößende, unwirkliche Geschöpf, dem er neben der offenen Eingangstür begegnet war.

Früh am nächsten Morgen nahm er den Wagen und fuhr zum Bolger-Smial. Als er die Zügel anzog, kam Mynto gerade heraus, sein Gesicht müde und traurig.

Fredegar öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Mynto sah ihn und kam über den taufeuchten Rasen hinunter zum Tor.

„Nun, mein Freund...“ sagte er, „Myrte ist heute Nacht gestorben, eine oder zwei Stunden nach Mitternacht. Sie muss friedlich eingeschlafen sein. Meine Aster hat sie gefunden, als sie zu ihr hinüberging, um nachzuschauen, ob sie was braucht.“

„T... tut mir leid, das zu hören.“ stammelte Fredegar.

„Dankeschön, Fred, aber es war ein guter Tod,“ Mynto schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Und ein gutes, langes Leben hatte sie auch. Da gibt es etwas, das deiner Lily vielleicht gefällt. Ich hol es... wart mal einen Moment.“

Fredegar sah zu, wie er wieder in dem Smial verschwand; in seinem Kopf drehte es sich und er stritt mit sich selbst... da gab es noch eine Frage, auf die er einfach eine Antwort haben musste. Dann trat Mynto wieder ins Freie, einen kleinen Gegenstand in der Hand; Fredegar sah, wie er näher kam und rang verzweifelt darum, den Mund zu halten.

„Hier.“

Fredegar schaute auf seine Handfläche hinunter; es war eine kleine Brosche aus Silber. In der Mitte sah er eine Kamee... ein zierliches Pferd mit einem einzelnen, fein gedrehten Horn auf der Stirn, leuchtendes Elfenbein auf einem altrosa Hintergrund. Die Kamee war von einem Kreis winziger, schimmernder Perlen umgeben.

„Das ist viel zu wertvoll,“ murmelte er, „Was ist das?“

„Oma Myrte hat es geliebt; Opa Odo hat es für sie auf einer Fahrt nach Bree gekauft; sie nannte es ein Einhorn... irgend so ein Märchentier, glaube ich. Aber es ist hübsch, nicht wahr? Lily ist ein gutes und freundliches Mädchen....Myrte schien immer so glücklich zu sein, wenn sie hier war. Sie sollte es bekommen.“

Fredegar hob den Kopf und schaute Mynto an; bevor er es verhindern konnte, platzte die schicksalhafte Frage aus ihm heraus.

„Bist du jemals in Wasserau in den Teich gefallen?“

Mynto runzelte die Stirn.

„Ja, bin ich wirklich,“ antwortete er, „als ich elf war. Das erste und letzte Mal, das ich meinen Papa je habe weinen sehen. Oma Myrte hat gelacht, und sie lachte sogar noch mehr, als ich einen ordentlichen Satz heißer Ohren bekam, nass wie ich war, weil ich mich unbedingt zum Teichrand hab schleichen müssen, obwohl es streng verboten war.“ Er grinste bei der Erinnerung. „Ich werde sie vermissen. Sie war eine wunderbare Frau.“

Er warf Fredegar einen neugierigen Blick zu.

„Wieso fragst du?“

„Oh... hm... Hamfast Gamdschie hat irgendwas im Efeubusch erzählt...“ antwortete Fredegar hastig, und er krampfte die Hände so hart um die Zügel seines Ponys, dass die Knöchel weiß wurden.

Er fuhr heim, und als Lily aufwachte, fand sie die Brosche auf ihrem Nachttisch. Es war das erste Schmuckstück, das sie je bekam (und für eine sehr lange Zeit das letzte), und sie liebte es sehr. In den nächsten Jahren erwähnten weder sie noch ihr Vater die Nacht von Myrtes Tod (obwohl er oft versucht war, etwas zu sagen, wenn er sah, wie sie die Brosche am Kragen ihrer Bluse trug), und Lily erzählte keine seltsamen Geschichten über andere Leute mehr... zu Fredegars großer Erleichterung.

*****

1410 brachte Viola Stolzfuß ihren zweiten Sohn (und ihr letztes Kind) zur Welt. Der Junge wurde Falco genannt, und Viola konnte ebenso leicht für ihn sorgen wie für Marco. Sie liebte ihre beiden Söhne sehr und sie war mehr als großzügig mit Liebkosungen und mütterlichen Zärtlichkeiten, aber es waren die Jungen, die den Löwenanteil davon abbekamen, nicht Lily. Manchmal, in einem unbewachten Augenblick, sah Viola sie an und wunderte sich, was es ihr so schwer machte, ihre Tochter zu lieben.

Lily war ein stilles, zurückhaltendes Mädchen; Fredegar meinte oft, sie sollte mehr Freunde haben, aber Viola war nicht bereit, ihr mehr Freiheit zu lassen. Zu bequem war ihre ständige Hilfe, zu einträglich ihre Fähigkeiten als Weißnäherin und Stickerin. Vielleicht hätte Viola die Gefühle, die Sehnsüchte und Bedürfnisse ihrer Tochter viel besser wahrgenommen, wenn Lily wütend eingefordert hätte, was ihr fehlte... aber sie tat es nicht.

Lily wusste, dass ihr Vater sie liebte und sie kam sehr gut mit ihrem Bruder Marco zurecht; die Tatsache, dass ihre Mutter all ihre Liebe auf den kleinen Jungen auf das neu geborene Baby konzentrierte, machte sie nicht eifersüchtig, sondern auf eine seltsam schicksalsergebene Weise traurig. Sie hatte ein glückliches Temperament, dass ihr half, mit einer Situation klar zu kommen, gegen die andere Kinder sich aufgelehnt hätten; mit zwanzig Jahren fing sie an, ein Tagebuch zu führen und viele ihrer Fragen wurden nie laut ausgesprochen, sondern verschwanden auf den Seiten des kleinen Buches.

Ihr blieb nie viel Zeit für sich selbst, aber glücklicherweise hatte sie Freunde; Marigold Gamdschie und Rosie Kattun, die Tochter, die Frau Kattun zur Welt gebracht hatte, kurz nachdem Fredegar Lily vom Hof nach Hause holte. Da war auch die hübsche Merle Hornbläser (die bereits einen Schwarm ergebener Anbeter hinter sich herzog) und Magnolia Gutleib, ein quecksilbriges Mädchen mit blaugrauen Augen, einem Wasserfall ebenholzschwarzer Locken, einem scharfen Verstand und einer gnadenlosen Zunge. Von Zeit zu Zeit traf man sich im hinteren Garten des Stolzfuß-Smials, und dann saß Lily im rastlosen Schatten der Geißblattlaube, einen Stickrahmen mit einer unvollendeten Arbeit im Schoß, und lauschte den aufgeregten Stimmen um sich herum.

Sie war jetzt sechsundzwanzig, und sie spürte eine schwache Verblüffung angesichts des Gesprächsthemas, das sich seit mehreren Monaten ständig wiederholte. Jungs. Wie sie sich benahmen (oder auch nicht), ob sie nett oder höflich waren, dreist oder schüchtern. Jungs. Merle und Magnolia hatten schon ein paar Erfahrungen, die über das Händchenhalten oder eine nervöse Umarmung und einen schnellen Kuss auf dem Tanzboden hinausgingen. Eines Tages überraschte Merle ihre Freunde mit der Erzählung, wie sie Andi Braunwald im Keller des Efeubusch in die Arme gelaufen war. „Und dann hatte er plötzlich seine Hände in meiner Bluse, und als ich den Mund aufgemacht habe, um ihm zu sagen, dass er seine Finger bei sich behalten soll, da hat er mich geküsst, und ratet mal, was er mit seiner Zunge gemacht hat...“ und der Rest des Satzes ging in hilflosem Gekicher unter.

Lily hörte zu und lächelte, aber sie sagte nichts. Tatsächlich konnte sie sich nicht vorstellen, sich in einen dieser Jungen zu verlieben, die sie sah, wenn sie zur Hobbinger Mühle hinunter oder über den Markt in Wasserau ging. Sie lebten schlicht und einfach in einer anderen Welt als sie, und das Gleiche galt für ihre Freunde. Manchmal hatte sie das seltsame Gefühl, dass sie hinter einer dünnen, unsichtbaren Wand aus Glas säße, die sie von den unschuldigen und nicht ganz so unschuldigen Entdeckungen fernhielt, die ihr Alter normalerweise zu bieten hatte. Sie kümmerte sich um den Stolzfuß-Haushalt, half ihrer Mutter gerade jetzt mit der Aussteuer für drei Bräute und sah den anderen dabei zu, wie sie einen Spaß hatten, von dem sie kaum etwas wusste.

„Lily?”

Das Geplauder brach ab, und Lily erwachte aus ihren Gedanken. Ihr Vater stand vor der Laube und lächelte sie an.

„Die nächsten paar Stunden bin ich im Obstgarten,“ sagte er, „Möchtest du heute Abend Obstwein machen? Soll ich dir ein, zwei Körbe frische Kirschen mitbringen?“

„Dankeschön, Papa, das wäre wirklich lieb.“ Er berührte seinen Hut und verbeugte sich leicht vor ihren Freundinnen. Sie winkten alle und lachten; Fred war ein freundlicher, warmherziger Mann, und das wussten sie. Dann war er weg.

Eine halbe Stunde später trat Viola aus dem Smial und runzelte die Stirn, als sie die Mädchen in der Laube sitzen sah.

„Zeit zum Nachhausegehen!“ sagte sie mit einem Lächeln, aber Lilys Freundinnen spürten die Ungeduld, die sich unter der höflichen Oberfläche verbarg. „Es müssen immer noch zwei Kissenbezüge für die Straffgürtel-Hochzeit fertig gemacht werden, Kind.“ Merle, Marigold und Rosie standen sofort auf, Magnolia stapelte die Becher und Teller und Lily räumte die Überreste des Nusskuchens auf dem Tisch zusammen.

Sie war schon halb durch den Garten, als ihr die Platte mit dem Kuchen aus den Händen fiel. Ihre Freundinnen sahen, dass sie völlig reglos dastand, als lauschte sie auf etwas, das nur sie allein hören konnte. Dann brach sie plötzlich auf dem Rasen zusammen, den Körper verkrümmt, ihr Gesicht nach links gedreht und totenblass, ihre Zähne fest zusammengebissen.

Rosie kniete sich neben sie, berührte ängstlich Lilys Wange und beugte sich herunter, um zu sehen, ob sie noch atmete.

„Papa…” Die Stimme war kaum hörbar und kam als ein leises Zischen heraus. „Papa…”

Rosie richtete sich auf. „Merle, geh und hol ihre Mutter. Magnolia, renn zum Obstgarten, schnell. Schnell!“

Merle hastete in den Smial, und Magnolia nahm die Beine in die Hand. Sie rannte die Straße hinunter, kam an den Pflaumenbäumen auf dem Weg nach Wasserau vorbei und riss eilig das hölzerne Tor des Stolzfuß-Obstgartens auf.

„Herr Stolzfuß?“

Er antwortete nicht, und sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Sie ging von Baum zu Baum und spürte die hohen Grashalme an ihren bloßen Waden... und dann stolperte sie um ein Haar über einen Korb, der halb mit Kirschen gefüllt war. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah sie plötzlich zwei reglose Beine, die hinter dem Stamm eines Baumes direkt vor ihr hervorschauten, und ihr Mund wurde trocken.

„Herr Stolzfuß...?“

Noch ein paar Schritte weiter und sie blieb wie angewurzelt stehen, eine Hand auf ihren Mund gepresst, die Augen weit vor Schreck.

Fredegar Stolzfuß lag auf dem Rücken. Die Leiter, die er benutzt haben musste, um auf den Baum zu klettern, war in zwei Teile zerbrochen, und überall waren Kirschen verstreut. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht wächsern und leblos - es ähnelte auf seltsame Weise dem von Lily, wie Magnolia es erst vor zehn Minuten gesehen hatte. Sie brauchte ein paar Momente, bevor sie es wagte, dichter heranzugehen, aber als sie sich über ihn beugte, stieß er ein tiefes, heiseres Stöhnen aus. Wenigstens war er nicht tot.

Magnolia berührte ihn nicht, und sie versuchte genauso wenig, ihn zu bewegen; ihr Großvater war dreißig Jahre lang der Heiler von Hobbingen gewesen, und sie wusste genug, um nicht noch mehr Schaden zu verursachen als den, den schon angerichtet worden war. Aber sie rannte zurück, so schnell sie konnte, und sie kam mit ihrem hämmernden Herzschlag in den Ohren am Stolzfuß-Smial vorbei. Niemand bemerkte sie; Lily war offensichtlich hinein getragen worden, und Magnolia hielt sich nicht damit auf, Viola Stolzfuß über die neueste Katastrophe zu informieren.

Ihr Großvater erreichte den Stolzfuß-Obstgarten eine Viertelstunde später, begleitet von seinem Nachfolger Dolgo Straffgürtel und zwei kräftigen Hobbits mit einer hölzernen Trage. Beide Heiler untersuchten den immer noch besinnungslosen Fredegar sorgfältig und so behutsam wie möglich, dann hoben sie ihn auf die Trage und brachten ihn zurück nach Hause. Magnolia war vorausgeschickt worden, und so kam es, dass Viola Stolzfuß endlich vom schweren Unfall ihres Mannes erfuhr.

Lily war ein paar Minuten zuvor wieder zu sich gekommen, und als Fredegar hineingebracht wurde, schlüpfte sie in die Schlafkammer ihrer Eltern, noch immer bleich und zitternd. Sie stand am Fußende des Bettes, sah ihren Vater an und lauschte auf das ungehemmte Gejammer ihrer Mutter. Nach einer Weile ging sie wieder hinaus, unbemerkt und auf unsicheren Beinen. Merle und Magnolia hatten ein kleines Abendessen für die Nachbarn, die Heiler und für die Familie vorbereitet, aber Lily aß nichts; sie legte sich auf ihr Bett und starrte mit brennenden Augen an die Decke.

Es war ein scharfer Schmerz gewesen, der aus heiterem Himmel über sie hereinbrach und über sie hinwegraste wie eine feurige Woge; binnen Sekunden hatte sie sich auf dem Boden wiedergefunden, den starken Geruch von feuchtem Gras in der Nase, während ein Schrei in ihrem Kopf widerhallte. Sie erkannte die Stimme sofort, das war Papa... Papa... oh, jemand musste ihm helfen und sie konnte sich nicht rühren... und dann wurde sie von sanften Händen hochgehoben und hineingetragen, und sie spürte den vertrauten Stoff ihrer Steppdecke unter der Wange.

Jemand klopfte leise an die Tür.

„Ja...?“

Es war Goderic Gutleib, Magnolias Großvater. Er kam herein und setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett.

„Wie fühlst du dich, Lily? Magnolia hat mir gesagt, dass du heute Nachmittag in Ohnmacht gefallen bist. Tut dein Kopf weh? Ist dir übel? Siehst du vielleicht doppelt?“

Ich habe den Schrei meines Vaters in meinem Kopf gehört, als er vom Baum stürzte.

„Es geht mir gut, Herr Gutleib. Es war nichts mehr als irgendeine plötzliche Schwäche.“ sagte Lily still. „Vielleicht zuviel Hitze und zuwenig Wasser.“

Sie stützte sich auf die Ellenbogen.

„Wie geht es meinem Vater? Was ist mit ihm passiert?“

„Leg dich hin, Mädel.“ Goderic half ihr, sich wieder auszustrecken. „Du solltest ein bisschen vorsichtig sein.“ Er sah ihren ängstlichen Blick, seufzte und nahm ihre Hand. „Dein Vater ist böse verletzt, Lily. Soweit wir sehen können, ist sein Rückgrat nicht gebrochen; er kann seine Arme und Beine bewegen. Aber andere Knochen sind gebrochen, in beiden Beinen, und ein paar Rippen auch, unglücklicherweise... es war ein schrecklicher Sturz.“

„Ist er wach?“

„Nein. Ich habe ihm Mohnsirup gegen die Schmerzen gegeben, seine Beine sind geschient und er ist vom Hals bis zur Leiste bandagiert, für den Fall, dass etwas gebrochen ist, das wir nicht sehen können.“

Er seufzte wieder.

„Deiner Mutter habe ich auch ein bisschen Mohnsirup gegeben... sie war sehr verängstigt und neben sich. Du bist ein vernünftiges Mädel, Lily... du wirst ihr in den nächsten Wochen und Monaten viel helfen müssen. Wir haben keine Ahnung, wie lange dein Vater brauchen wird, um sich von seinen Verletzungen zu erholen.“

Er ließ ihre Hand los und stand auf.

„Versuch zu schlafen, Lily. Rosie Kattun und ihre Mutter werden sich heute abend um deine Brüder kümmern, und ich bin sicher, Magnolia wird in den nächsten Tagen gerne bereit sein, Euch zu helfen, wenn Ihr’s nötig habt. Ein bisschen Ruhe wird dir gut tun.“

„Gute Nacht, Herr Gutleib.“

Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Lily lag, ohne sich zu rühren und lauschte auf die Geräusche außerhalb ihres Zimmers; das Quäken des Babys, die hohe Stimme von Marco und leise Schritte im Flur. Sie konnte weder ihren Vater noch ihre Mutter hören, und sie fürchtete, eine ihrer Freundinnen könnte hereinkommen und Fragen stellen. Wieso hast du nach deinem Vater gerufen? Wieso bist du umgefallen, ohne dass du krank bist?

Was sollte sie antworten? Ich weiß es nicht? Ich weiß nicht, was mit mir passiert?

„Ich hab solche Angst.“

Lily fuhr heftig zusammen, als sie ihre eigene Stimme hörte... ein heiseres, verzweifeltes Flüstern in der abendlichen Stille. Sie stand auf, ging zu ihrem kleinen Tisch hinüber und holte ihr Tagebuch aus der untersten Schublade. Sie zündete die Kerzen in dem einfachen Messingleuchter an und öffnete das kleine Buch; ihre Augen wanderten über die Seiten und fingen hier und da kurze Absätze ein.

Mein kleiner Bruder Falco ist so süß... Mammi hält ihn in den Armen, als würde sie ihn nie wieder loslassen... mein erstes Mieder fertig gemacht... Rosenknospen und Veilchen... möchte gern zum Mittsommer-Jahrmarkt gehen... muss Papa fragen, weil Mammi nur noch mehr Stickerei für mich hat, wenn ich sie frage, oder mehr Marmelade zum Einkochen, oder mehr Abwasch, sie will nicht, dass ich gehe...

Sie sah auch einen der anderen Einträge: ihre seltsamen Erfahrungen, sorgfältig notiert, sobald sie häufiger wurden.

Heute ist Frau Lobelia gekommen, um die Tischtücher mit den Rosen am Saum abzuholen.... ich hab eine ganze Woche gebraucht, um sie fertig zu machen, und sie hat nicht einmal „Dankeschön“ gesagt. Sie hat mit Mama über Beutelsend geredet, und über das Testament von Herrn Beutlin. Sie ist immer noch so wütend! Ich weiß, dass sie davon träumt, den Erben von Herrn Bilbo hinauszuwerfen, damit ihr der Smial endlich gehört. Wenn sie über ihn redet, mit dieser leisen, zischenden Stimme, dann fühle ich ihren Hass auf ihn wie einen scharfen Schmerz in meinem Kopf.

Nur ein einziges Mal hatte Lily versucht, ihrer Mutter von ihrer seltsamen Fähigkeit zu erzählen, Dinge zu spüren, die andere nicht sahen. Sie hatten gerade die Arbeit an einem Satz teurer Bettbezüge beendet, die mit Veilchengirlanden dekoriert waren, und ihre Mutter war entspannt und zufrieden... das kam selten genug vor, und Lily entschied, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Sie hatte schon immer mehr über die Kindheit ihrer Mutter in Bockland wissen wollen. Violas Eltern waren gestorben, als sie fünfzehn war, und von da an wurde sie von Rose Stolzfuß aufgezogen, ihrer Großmutter. Lily wusste fast nichts über sie, und sie war sehr neugierig.

Sie begriff fast auf der Stelle, dass diese Frage ein schwerer Fehler gewesen war. Ihre Mutter versteifte sich in ihrem Sessel, und ihre Antworten kamen knapp und widerwillig.

„War sie nicht freundlich zu dir?“ fragte Lily endlich.

„Freundlich, ja.“ erwiderte Viola in einem seltsam aufgebrachten Tonfall, „freundlich zu diesen einfachen Weibern, die nach Sonnenuntergang zu ihr kamen, um sich Kräutergebräue und Tees abzuholen und mehr über ihre Zukunft zu erfahren.“ Sie holte tief Atem. „Sie... sie konnte... Dinge sehen.“

„Dinge?“

„Sie hat mir mal gesagt, dass sie die Erinnerungen mancher Leute lesen kann wie die Geschichten in einem Buch.“ antwortete Viola, und ihr Körper versteifte sich noch mehr. „Und manchmal konnte sie die Gedanken von anderen... fühlen.“

Lily öffnete den Mund. „Sie konnte...“

Plötzlich schauderte ihre Mutter zusammen und stand auf. „Unsinn, das alles.“ murmelte sie. „Es war nicht normal. Ich war froh, als ich endlich von ihr wegkam; ich habe die letzten paar Jahre in Bockland im Smial von Tante Esmeralda verbracht, zum Glück.“

Sie ging mit schnellen Schritten hinaus und ließ ihre Tochter zurück. Lily saß minutenlang da, ohne sich zu bewegen; sie segnete das Schicksal, dass sie ihrer Mutter nichts von der alten Witwe Bolger erzählt hatte, von Frau Lobelias allzu spürbarer Wut und von ungefähr einem halben Dutzend anderer Vorfälle, die sie nie zuvor erwähnt hatte.

Nicht normal.

Sie nahm die Feder, tauchte sie in das Tintenfässchen und schrieb.

Ich hab solche Angst. Ich weiß nicht, wieso ich die Erinnerungen von Myrte Bolger gesehen hab, als ich ein Kind war. Ich weiß nicht, wieso ich meinen Vater habe schreien hören, und wieso sich mein Rückgrat angefühlt hat, als wäre es gebrochen, als er vom Baum fiel. Ich weiß nicht, mit wem ich reden soll. Meine Freunde werden glauben, ich wäre verrückt. Mein Vater kann nicht zuhören, und ich darf ihn nicht aufregen. Und meine Mutter...

Die Feder bewegte sich nicht, und Lily starrte blind auf die halbleere Seite hinunter.

Ich werde es nie meiner Mutter erzählen. Ich verstehe es nicht... wie könnte sie es tun? Was ich auch mache, sie ist nie zufrieden. Was ich auch versuche, es ist nicht genug. Sie braucht mich, aber ich kümmere sie nicht, nicht wirklich. Wird sie mich je so lieben, wie sie meine Brüder liebt?

Die Worte brannten sich ihren Weg hinunter in ihr Herz, eine bittere Gewissheit, eine schmerzhafte Offenbarung, schon früher heimlich gedacht, aber zum ersten Mal niedergeschrieben. Sie blies auf die feuchte Tinte, schloss die Augen und kämpfte das qualvolle Gefühl des Zurückgewiesenseins nieder. Dann schloss sie das Buch, verbarg es in der Schublade und blies die Kerzen aus.

Sie saß am Schreibtisch, sehr gerade und still, starrte in die Dunkelheit und spürte die Tränen, die ihr lautlos über das Gesicht liefen.

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